Tausende Male hat das Telefon schon geklingelt: In Berlin sitzt Deutschlands einzige muslimische Telefon-Seelsorge. Was bewegt Muslime in Deutschland? Die Seelsorger wissen es.
Bevor überhaupt Selbstzweifel aufkommen konnten, klingelte das Telefon. Das war zwei Tage vor dem Start von Deutschlands einziger muslimischer Telefon-Seelsorge. Eine junge Frau meldete sich, weil sie vergewaltigt wurde, erinnert sich Geschäftsführer Imran Sagir. Er verstand den Anruf als „Zeichen Gottes, dass wir gebraucht werden“. Zehntausende Menschen haben seit sechs Jahren die Nummer gewählt und den Seelsorgern ihr Herz ausgeschüttet.
Aus allen Regionen Deutschlands kommen die Anrufe. Manchmal auch aus dem Ausland, erzählt Sagir. Alle Anrufer landen am Ende der Leitung in einem Hinterhof in Berlin, wo die Telefonapparate stehen. Rund um die Uhr nehmen zumeist Ehrenamtliche den Hörer ab. Seit zwei Jahren ist die Hotline für größere und kleinere Probleme 24 Stunden am Tag geschaltet, zuvor nur stundenweise. Fast 6000 Anrufe gab es im vergangenen Jahr. „Dieses Jahr rechnen wir mit deutlich mehr“, prognostiziert Sagir.
Zwei von drei Anrufern sind Frauen, ein Drittel Männer. „Männer wollen Probleme gern mit sich selbst ausmachen, aber wenn sie reden wollen, dann ungern mit ihrem Umfeld“, erklärt Sagir, der selbst als Seelsorger am Telefon sitzt. Er kennt Geschichten wie die der jungen Frau, die vergewaltigt wurde und ihrem Peiniger begegnet wäre, wenn sie zu ihren Eltern geflogen wäre. „Viele wollen nicht mit der Familie über Probleme reden“, weiß der Seelsorger. In dem Gespräch habe die junge Frau von ihrer Schwester erzählt, die Frauenärztin ist. „Wir haben die Schwester als ersten Ansprechpartner empfohlen.“
73 Ehrenamtliche teilen sich die Dienste. Jeder verpflichtet sich, dreimal vier Stunden im Monat an der Hotline zu sitzen. Jedes Jahr werden etwa 20 Seelsorger ausgebildet. Im März schlossen zwölf den mehrmonatigen Lehrgang ab. „Wir hoffen, dass es im Herbst wieder 20 werden“, so der Geschäftsführer. Voraussetzung für den Seelsorge-Dienst sei der muslimische Glaube, „auch wenn Religion nur dann angesprochen wird, wenn es gewünscht wird“. Sagir zufolge rufen hin und wieder auch Menschen anderer Konfessionen an.
15 bis 20 Mal klingelt am Tag das Telefon. Laut der Statistik ruft jeder Zweite an, weil es Sorgen in der Familie gibt, sei es Trennung, Gewalt oder Streit. Andere haben mit der Spielsucht zu kämpfen oder finanzielle Sorgen. Ein fast 18-Jähriger rief die Seelsorger an, weil er Drogen nahm und ihn deswegen Schuldgefühle plagten. Eine Mutter, Mitte 30, kämpfte nach der Trennung mit dem Alleinsein, weil der Kontakt zu den gemeinsamen Kindern fast unmöglich war. Mit den Seelsorgern besprach sie, wie sie ihre Kinder wiedersehen könnte.
„90 Prozent der Anrufer sind 50 Jahre und jünger“, berichtet der Geschäftsführer. Bei den Hotlines anderer Konfessionen seien die Anrufer älter. Nach einer Aufstellung der evangelisch-katholischen Telefonseelsorge für 2013 waren 63 Prozent der Anrufenden 40 Jahre und älter. Im vergangenen Jahr gab es knapp 1,9 Millionen Anrufe, wie aus dem Jahresbericht hervorgeht.
Wie bei allen Hotlines werde auch bei dem muslimischen Seelsorge-Telefon, dessen Träger die muslimische Hilfsorganisation Islamic Relief Deutschland ist, die Anonymität gewahrt, betont Sagir. Vielleicht hätte sonst etwa eine junge Frau, die fest entschlossen war, sich das Leben zu nehmen, nicht zum Telefonhörer gegriffen. Sie konnte laut Sagir am Telefon dazu bewegt werden, ihre Tabletten in der Toilette zu entsorgen.