Milad Karimi lehrt an der Universität, ist Übersetzer und Autor. Wir sprachen mit ihm über sein Leben vom Flüchtling zum Professor.
IslamiQ: Sie sind als Kind aus Afghanistan nach Deutschland geflüchtet. Können Sie einige Details über Ihre Flucht mit uns teilen?
Milad Karimi: Wir sind Anfang der 90er Jahre aus Kabul geflüchtet. Nach einem einmonatigen Aufenthalt in Neu Delhi sind wir mit einer Schleuserbande in Kontakt gekommen, die uns versprochen hat, uns zuerst nach Moskau zu bringen und dann nach Polen und schließlich von Polen durch den Wald nach Deutschland. In Moskau haben sich die Bande in Luft aufgelöst. Plötzlich standen wir mit fast gar nichts inmitten von Moskau. Aus dem geplanten zwei Wochenaufenthalt wurden 13 Monate. Mit einer neuen Schleuserbande sind wir dann von Moskau nach Kasachstan und von dort aus mit gefälschten russischen Pässe nach Deutschland gelangt.
IslamiQ: Wie sehr hat Sie das Dasein als Flüchtling geprägt?
Karimi: Das Dasein als Flüchtling hat mich grundlegend geprägt. Heute bin ich sehr dankbar für all das, was ich als ein Flüchtling erleben durfte. Ich musste mir dabei nicht selten unseren Propheten (s) vergegenwärtigen, der aus der Erfahrung der Flucht erst in Medina der jungen muslimische Gemeinde Identität verleiht. Wer glaubt, ist ein Flüchtling. Die Flucht hat mich gelehrt, was wirklich bleibend ist, was verloren gehen kann, wonach man streben soll. Etwa nach Reichtum? Nach Anerkennung, nach gesellschaftlicher Position? All das ist vergänglich, wenn auch sehr verlockend. Während der Flucht war mir klar geworden, dass ich nach etwas trachten muss, was man mir nicht wegnehmen kann, was man nicht hat, sondern ist. Gerade darin ist der Prophet Muhammad (s) mir ein Vorbild, ein schönes.
IslamiQ: Heute gibt es immer noch keine legale Einreisemöglichkeit für Flüchtlinge. Denken Sie, auch nach Ihrer persönlichen Erfahrung, das könnte sich ändern? Ist Europa eine Festung?
Karimi: Ja, ich glaube daran. Europa ist eine Festung, eine Festung, die aber sehr uneuropäisch ist. Kein Mensch ist illegal, weil er in Not ist und nach Leben und Freiheit trachtet. Verstörend und in gewisser Weise auch doppelzüngig ist, wenn auf der einen Seite die großen und großartigen Werte wie Menschenrechte, Aufklärung und Solidarität hervorgehoben werden und auf der anderen Seite gerade diese in aller Entschiedenheit missachtet werden, so dass man schnell den Eindruck gewinnt, die Werte gelten nur für bestimmte Menschen – nicht aber für alle. Wenn aber Europa authentisch bleiben will und nicht seine eigene Maxime verachtet, dann darf sie nicht als Festung wie das Kafka’sche Gesetz Realität finden.
IslamiQ: Sie sagen, dass Heimat nicht an einen Ort gebunden sein muss. Heißt das, es kann mehrere Heimatorte geben? Oder muss man nicht unbedingt eine Heimat haben?
Karimi: Heimat im Sinne eines bestimmten geographischen Ortes halte ich für eine Illusion. Meine Heimat habe ich im Islam gefunden. Der Koran war mein ständiger Begleiter, nicht Afghanistan. Der Islam lehrt uns, dass wir im besten Sinne frei sind, weil wir uns allein durch die Hingabe an Gott begreifen. Diener Gottes zu sein, ist eben die höchste Bestimmung der Freiheit, frei auch von „Heimat“, Nationalität, Hautfarbe, Stammeszugehörigkeit, Sprache etc.
IslamiQ: Würden Sie sagen, dass Sie „Glück“ hatten, weil Sie nun in Deutschland gelandet sind?
Karimi: Durchaus, das liegt aber nicht unbedingt an Deutschland als Land, sondern von Glück kann ich reden, weil ich hier nicht um mein Leben bangen muss.
IslamiQ: Sie haben 2009 den Koran vollständig und neu ins Deutsche übersetzt. Hatten Sie das schon immer vor, wie ist es dazu gekommen?
Karimi: Seit dem ich bereits am Anfang des Studiums mit Koranübersetzungen in Berührung gekommen war, war ich mit den Übersetzungen unzufrieden. Ich fing schon früh an immer wieder und immer erneut einzelne Suren und Verse aus dem Koran ins Deutsche zu übertragen. Und als der Verleger des Herder-Verlages von meiner heimlichen Leidenschaft erfuhr und die Versuche lass, bat er mir an, mich an das Ganze zu versuchen. Ich muss gestehen, ich übersetze heute immer noch weiter …
IslamiQ: Nachdem Sie eine Professur im Bereich der Theologie antraten, haben Sie viele Artikel und Beiträge geschrieben, zunächst aber auch eine Biographie. Warum?
Karimi: Dies war nicht strategisch gedacht. Ich sehe das Buch auch nicht als eine Autobiographie. Darin versuche ich mit einigen wesentlichen Erfahrungen aus meiner Biographie mein inniges Verhältnis zum Islam darzustellen, warum ich dankbar bin, ein Muslim sein zu dürfen, warum der Koran mich erhebt, warum das Gebet auch in tiefster Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit Kraft und Stärke schenkt, warum die Welt komplexer ist als das Wunschdenken, Muslime in gut und böse zu unterteilen. Ich gebe nun zu, es war doch strategisch, denn zu jeder Theologie gehört auch eine authentische Person.
IslamiQ: Ihre Monographie trägt den Namen „Osama bin Laden schläft bei den Fischen“. Wie kommen Sie zu diesem Titel?
Karimi: Dafür müsste man das Buch lesen. Nein, im Ernst: Im Titel sind zwei Anspielungen enthalten. Einmal geht es um die tatsächliche „Seebestattung“ von Osama bin Laden, dass man seinen ermordeten Körper ins Meer beförderte, damit er im Grunde des Meeres bei den Fischen schlafe. Und zweitens geht es mir hier um die Assoziation mit Luca Brasi, dessen Tod im Mafiaepos Der Pate in dieser Form Ausdruck findet. Luca Brasi verschwindet plötzlich. Und dann bekommt die Familie eine sizilianische Nachricht: Zwei Fische eingerollt in Zeitungspapier. Das bedeutet nämlich: „Luca Brasi schläft bei den Fischen“.
IslamiQ: Gegenüber der sich im Aufbau befindlichen Theologie in Deutschland: Was denken Sie über die staatlichen Interessen darin? Ist dies problematisch zu betrachten?
Karimi: Zur Theologie gehört der kritische Geist. Insofern ist das Interesse des Staats ebenso problematisch wie ein jedes andere Interesse, welches von außen in die Theologie hineingetragen wird. Die große Angst vor dem Islamismus, vielleicht sogar vom Islam überhaupt, den man nicht versteht und einfach einordnen kann, kann dabei eine große Rolle spielen. Man führt die islamische Theologie nicht an den deutschen Universitäten, weil man Muslime gern hat. Die Aufgabe der Theologinnen und Theologen bleibt aber in aller Entschiedenheit der Wissenschaft treu zu bleiben. Wissenschaftlichkeit ist ein Gut, wie dies unsere islamische Gelehrtentradition peinlich genau dargeboten hat. Dieses Gut ist frei von Anforderungen, Erwartungen und Hoffnungen, die einem von wem auch immer zugetragen werden. Sich darauf zu besinnen und darin die eigentliche Frucht der Theologie zu erblicken, macht nicht nur von Bezeichnungen, wie konservativ, liberal, reformerisch etc. frei, sondern auch von Interessen, die problematisch anzusehen sind.
Das Interview führte Ibrahim Yavuz.