Der Verbandspräsident der Islamischen Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland – Zentralrat e.V. schreibt anlässlich des 20. Jahrestages des Völkermordes von Srebrenica einen offenen Brief an Angela Merkel, die Bosnien und Herzegowina besuchen wird.
„Wir bitten Dich, Gott,
dass aus unserer Trauer Hoffnung werden möge,
dass die einzige Rache Gerechtigkeit sein möge,
dass die Tränen der Mütter Gebete sein mögen dafür,
dass Srebrenica niemals und niemandem mehr wiederfährt. Amen!“
(Srebrenica-Bittgebet)
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
am 11. Juli 1995 wurde die damalige UN-Schutzzone Srebrenica in Bosnien-Herzegowina im Angesicht der gesamten Weltöffentlichkeit durch Einheiten der serbischen Polizei und Armee überrannt. In den darauffolgenden Tagen folgte die systematisch organisierte Tötung und Ermordung von insgesamt bisher namentlich bekannten 8372 Bosniaken, bosnischen Muslimen. Die weiteren Ereignisse in und um Srebrenica sind hinlänglich bekannt.
Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag wertete dieses Verbrechen in seinem Urteil vom Februar 2007 als Genozid. Es handelt sich, wie auch Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert letzte Woche im Bundestag in Erinnerung ruft, um das größte Kriegsverbrechen in Europa seit dem Ende des II. Weltkriegs.
Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass der Völkermord von Srebrenica nur die Kulmination eines ideologisch begründeten und rücksichtlos geführten Vernichtungsfeldzuges gegen die nichtserbische Bevölkerung in Bosnien und Herzegowina darstellte. Wir erinnern in diesem Zusammenhang an die mehr als drei Jahre andauernde Belagerung der bosnischen Hauptstadt Sarajevo und die damit zusammenhängende alltägliche Terrorisierung der Zivilbevölkerung mit insgesamt mehr als 10.000 Toten sowie an die rücksichtlosen ethnischen Säuberungen und grausamen Tötungen in anderen bosnischen Städten wie Zvornik, Visegrad, Foca oder Prijedor.
Unvergessen bleibt für uns die damalige Hilfsbereitschaft der Bundesrepublik Deutschland, die sich in der Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen manifestierte. Dafür möchten wir Ihnen im Namen der Islamischen Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland, welche heute einen Großteil der gläubigen Bosniaken in Deutschland organisiert, unseren aufrichtigen Dank aussprechen.
Wer für eine bessere Zukunft und ein menschlicheres Miteinander eintreten möchte, der muss die Vergangenheit entsprechend werten, Gegenwart nutzen und auf dieser Grundlage Zukunft gestalten. Eine positive Zukunftsperspektive bedarf dabei auch immer einer lebendigen Erinnerungskultur. Hier in unserem Land wird vorgelebt, dass eine lebendige und stetige Erinnerungskultur Voraussetzung dafür ist, eine bessere Zukunft zu gestalten.
Im Zusammenhang mit Srebrenica und Bosnien und Herzegowina insgesamt schien diese Erinnernungskultur zumindest zeitweilig ausgeblendet. Die Lehren aus dem II. Weltkrieg schienen in Vergessenheit geraten zu sein. Damit sich Ähnliches an keinem Ort der Welt – insbesondere in Europa – nicht wiederholt, ist es notwendig in Anlehnung an die Kultur der Erinnerung an den Holocaust auch eine Kultur der Ermahnung in Europa – so auch in Deutschland – an den Genozid von Srebrenica zu etablieren. Dies ist gerade auch deswegen sehr wichtig, weil es nach den kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan nicht zu einer Aufbereitung der Kriegsgeschehnisse und Auseinandersetzung mit den begangenen Gräueltaten und Kriegsverbrechen kam. Das Daytoner Abkommen brachte zwar Frieden in Bosnien und Herzegowina, die gewaltsame, menschenverachtende Vorgehensweise einer rückwärtsgewandten, hasserfüllten Ideologie wurde aber zugleich belohnt, indem in einem Teil Bosnien und Herzegowinas die Entität „Republika Srpska“ geschaffen wurde.
Bereits mit ihrem Namen zeigt die „Republika Srpska“ sehr deutlich auf, dass sie ein Territorium eines einzigen Volkes, einer einzigen Anschauung sein möchte und ist. 20 Jahre nach dem 11.07.1995 sind die Folgen des Genozids von Srebrenicas daher nachwievor allseits spürbar. Das Abkommen von Dayton schuf ein kompliziertes Staatswesen, das in keinster Weise europäischen Standards und Werten gerecht wird – insbesondere jenen, die die Kultur der Erinnerung an den II. Weltkrieg fest verankert sehen. Behörden, Ministerien und andere Stellen in Bosnien und Herzegowina, insbesondere in der „Republika Srpska“, werden weiterhin von Verantwortungsträgern dominiert, die den Völkermord von Srebrenica offen leugnen. Insbesondere in den letzten Jahren ist eine spürbare Zunahme solcher Tendezen zu vernehmen. Gegenüber den wenigen Rückkehrern wird eine schleichende und systematische Politik der Apartheid betrieben. Menschen werden wegen ihrer Religions- und Volkszugehörigkeit diskriminiert und schikaniert. Die Gefühle der Überlebenden des Völkermordes mit Füßen getreten
20 Jahre nach der brutalen Politik der Aggression gegen Bosnien und Herzegowina und seine Bürger strebt mit Serbien ein Staat die Aufnahme in die Europäische Union an, der sich nur sehr widerwillig und ungenügend seiner Verantwortung stellt. Den Lippenbekenntnissen der gesamtgesellschaftlichen Verantwortungsträger stehen nur halbherzige Taten gegenüber. Im Kreise der Europäischen Völkergemeinschaft begrüßen wir daher vielleicht sehr bald einen Staat, dessen Bevölkerung mehrheitlich weiterhin international geächtete Kriegsverbrecher als Helden verehrt. Dabei sind Srebrenica und die Lehren aus Srebrenica im Sinne einer geistigen Genesung für das serbische Volk bedeutend und absolut unverzichtbar.
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
der medialen Berichterstattung konnten wir entnehmen, dass Sie im Rahmen Ihres offiziellen Staatsbesuches in Bosnien und Herzegowina am 9. Juli auch eine Ausstellung zum Gedenken an den Völkermord in Srebrenica besuchen werden. Wir sind insbesondere darüber erfreut, dass es auch zu einem Treffen mit den „Müttern von Srebrenica“ kommen soll. Würdevoll erinnern diese Frauen seit nunmehr 20 Jahren als Mütter, Ehefrauen und Schwestern an das tragische Schicksal ihrer ermordeten Söhne, Ehemänner und Brüder. Zu keinem Zeitpunkt haben diese Frauen dabei Rachegedanken gehegt und geäußert, im Gegenteil. Vielmehr kämpfen sie in beachtungsvoller Art und Weise gegen das Vergessen, tief im Geiste und im Dienste der Wahrheit.
Nicht wenige Menschen sind der Meinung, dass die Tatenlosigkeit der Internationalen Staatengemeinschaft während des Krieges in Bosnien und Herzegowina der Tatsache geschuldet ist, dass es sich bei den Opfern des Krieges mehrheitlich um Muslime gehandelt hat. Vor diesem Hintergrund freut es uns ganz besonders, dass Sie mit Sarajevo eine Stadt besuchen, die Papst Franziskus bei seinem jüngtsen Besuch im Juni dieses Jahres als das „Jerusalem Europas“ und als eine Stadt, „die beispielhaft für das Zusammenleben verschiedener Völker und Konfessionen steht“ bezeichnete.
Dieser Umstand beruht nicht zuletzt auf der Tatsache, dass die Bosniaken seit Jahrhunderten die universellen und europäischen Werte des Friedens, der Toleranz und des Miteinanders in Nachbarschaft mit den anderen bosnisch-herzegowinischen Völkern leben und leben wollen. Wesentlich dazu beigetragen hat stets auch die Islamische Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina, die im damaligen Kaiserreich Österreich-Ungarn konstituiert wurde und nunmehr seit mehr als einem Jahrhundert im Geiste eines pluralistischen Miteinanders wirkt und lehrt.
Hinsichtlich des Staatsbesuches in Bosnien und Herzegowina und in den angrenzenden Ländern hoffen wir darauf, dass Sie den Verantwortungsträgern deutliche Signale im Sinne der europäischen Idee eines friedlichen Zusammenlebens der Völker in Europa unmissverständlich kundtun werden. Insbesondere im Hinblick auf den Völkermord von Srebrenica hoffen wir auf Ihre mahnenden Worte.
Im Namen der Islamischen Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland und im Namen der in der Bundesrepublik lebenden Bürger, die aus Bosnien und Herzegowina stammen, möchten wir uns für Ihr Engagement herzlich bedanken.
Hochachtungsvoll
Edin Atlagic
Vorstandsvorsitzender IGBD-Zentralrat e.V.