Als das serbische Militär vor 20 Jahren die UN-Schutzzone Srebrenica stürmte und mehr als 8000 Muslime ermordete, versuchte Tarik Samarah als junger Mann in Sarajevo den Krieg zu überleben. Heute ist er Fotograf und möchte mit seiner Arbeit an die Vergessenen erinnern.
IslamiQ: Wenn Sie das Massaker von Srebrenica in einem Wort beschreiben müssten, welches wäre das?
Tarik Samarah: Es ist schwierig, nur ein Wort zu finden, den Horror und das Ausmaß dessen zu beschreiben, was 1995 in Srebrenica geschehen ist. Am ehesten wäre die Bezeichnung „Völkermord“ angemessen. An dieser Stelle möchte ich mich auf Professor Gregory Stanton beziehen, der unter dem Titel „Eight Stages of Genocide“ den Prozess und die Stufen des Völkermordes präzise benannt hat – von der Klassifizierung, die eine Unterscheidung zwischen „uns und ihnen“ impliziert, über den Prozess der Entmenschlichung und des Mordens bis zum Prozess des Verleugnens.
IslamiQ: Sie haben an den Einsätzen der Internationalen Kommission für vermisste Personen (ICMP) teilgenommen und wurden Zeuge, wie massenhaft Leichenteile abtransportiert wurden, als Sie Fotos von den exhumierten Massengräbern gemacht haben. Welche Einrücke hatten Sie?
Samarah: Während des Krieges in Bosnien in den 90ern lebte ich in Sarajevo. Ich war Ende Zwanzig. Ich überlebte die Belagerung von Sarajevo und all das was vor Ort geschah –Tod, Hunger, Durst und Hoffnungslosigkeit. Ich sah die leblosen Körper toter Kinder auf der Straße. Nach dem Ende des Krieges ging ich nach Ostbosnien. Obgleich ich wusste, was dort während des Krieges geschehen ist, war das Antreffen der Überlebenden, das Betrachten der Massengräber und der Gestank der verwesenden Leichen für mich eine ungekannte und entsetzliche Erfahrung. Und obwohl dies leicht assoziiert werden kann, achte ich auch Jahre später noch darauf, dass mein Leben oder meine Arbeit nicht von Hass geleitet wird. Es war stets Liebe, die mich antrieb. Ich weiß eines mit Sicherheit: Wenn ich hasse, dann bin ich schwach.
Angetrieben vom selben Gedanken gründete ich 2012 die 11/07/95 Galerie. Ziel dieser Galerie ist es, eine starke und maßgebliche Stimme gegen alle Formen von Gewalt in der Welt zu sein. Srebrenica ist ein Symbol – nicht nur für den Krieg in Bosnien und Herzegowina, sondern auch für das Leid unschuldiger Menschen und die Teilnahmslosigkeit anderer.
Ebenso wie die Welt in Ruhe zugesehen hat, wie 8.000 Menschen aus Srebrenica abgeschlachtet wurden, schaut sie auch heute teilnahmslos anderen Verbrechen zu.
IslamiQ: Von dem Verdacht der Massengräber bis zur Exhumierung tausender Bosniaken. Wie schwer war es die Massengräber zu entdecken und als solche anzuerkennen?
Samarah: Ich bin wahrscheinlich nicht der geeignetste Mensch um hierauf eine Antwort zu geben. Aber ich will versuchen die Fakten zusammen zu fassen.
Das Schicksal von über 8.000 Menschen aus Srebrenica konnte bereits im Juli 1995 erahnt werden. 10 Tage nach dem Fall von Srebrenica mehrten sich unbestätigte Nachrichten, die darauf hindeuteten, dass es ein Massaker an den muslimischen Bürgern Bosniens gab. Die Regierung der Vereinigten Staaten veröffentlichte Fotos der Massengräber um Srebrenica herum, die am 10. August 1995 aufgenommen wurden – einen Monat nach ihrem Verschwinden. Madeleine Albright, die Botschafterin der Vereinigten Staaten bei der UN, zeigte dem Sicherheitsrat eine Reihe von Bildern, angefertigt von der Regierung der Vereinigten Staaten, als Beweise für das Massenverbrechen. Die Bilder zeigten ein örtliches Fußballfeld, dann einige Hundert Menschen auf dem Gras dieses Fußballfeldes, dann Großmaschinen, die in die Erde gruben und schließlich Hügel aus Erde, die später als Massengräber von Menschen aus Srebrenica bestätigt wurden. Der internationale Strafgerichtshof in Den Haag erkannte diese Bilder als gültiges Beweismittel an. Des Weiteren bestätigten diese Bilder die Veränderung verschiedener Oberflächen und deuteten auf die Existenz von sekundären und tertiären Massengräbern hin. Sekundäre und tertiäre Massengräber sind Orte, an denen die Leichen von Opfern systematisch verlegt wurden, um die Verbrechen zu verbergen.
Der systematische Versuch die Verbrechen zu verbergen ist zusätzlich durch zahlreiche Gegenstände bestätigt worden – persönliche Gegenstände, die in den Massengräbern gefunden wurden, Handfesseln, Augenbinden und Gewehrpatronen, ebenso wie die tatsächliche Zusammensetzung der Bodenproben, die auf den Leichen gefunden wurden. Die Umsetzung der Leichen und der Gebrauch von Bulldozern und Schaufelladern hatten zur Folge, dass die gefundenen Skelette üblicherweise unvollständig waren. Es ist sogar ein Fall bekannt, in dem eine einzige Leiche an fünf verschiedenen Orten gefunden wurde, wobei die Entfernung vom ersten zum letzten Grab etwa 30 Kilometer betrug.
IslamiQ: Wie geht die Prozedur der Exhumierung der Massengräber von Statten und welcher Prozess folgt diesem?
Samarah: Nachdem Massengräber als solche erkannt und die Leichen exhumiert wurden, folgte die Identifikation. Zu Beginn wurden zur Identifikation der Opfer die persönlichen Gegenstände und ihre Kleidung herangezogen, aber später wurden DNS Analysen das Hauptwerkzeug. Der Prozess dauert immer noch an und bleibt schwierig: auf der einen Seite wurden die Leichen von primären zu sekundären und tertiären Orten bewegt, was zur Folge hat, dass an den Überresten beträchtlicher Schaden entstand – die Knochen sind in Stücke zerbrochen und lediglich ein einziger Knochen ist alles was von einer Person gefunden wird, was es schwierig macht, DNS Proben zu isolieren. Auf der anderen Seite treten auch Fälle auf, in denen es keine überlebenden Familienangehörigen gibt und dies macht eine DNS Analyse unmöglich.
Jedes Jahr am 11. Juli wird eine Beisetzungszeremonie für all jene durchgeführt, die innerhalb des vergangenen Jahres identifiziert wurden. Während all der Jahre, die ich mich mit diesem Thema befasst habe, war der schwierigste Moment für mich persönlich die erste Beisetzung. Wir waren in Potočari. Ich erinnere mich, dass es ein sehr heißer Tag war, dass wir von Polizei und Militär der Republika Srpska umgeben waren – denselben Menschen, die jene voneinander getrennt und anschließend getötet hatten, die wir heute beerdigen wollen. An jenem Tag wurden insgesamt 2.400 Schaufeln verwendet, vier Schaufeln für jedes Grab.
Das erschütterndste Geräusch, das man in seinem Leben hören kann, ist eindeutig der Klang der Erde, die auf den Sargdeckel einer geliebten Person fällt. Es war die traurigste und leidvollste Symphonie, die ich je gehört hatte.
IslamiQ: Sie haben 2002 das Lager für Srebrenica Überlebende besucht. Wie würden Sie die Lage der Überlebenden beschreiben?
Samarah: Die Lager wurden für die Vertriebenen als provisorische Lösung gebaut. Aber auch 20 Jahre nach dem Krieg leben Hunderte Menschen in Bosnien und Herzegowina in Flüchtlingslagern. Jene, die dort lebten, lebten in der Vergangenheit. Was ich bemerkte habe ist, dass sogar nach all diesen langen Jahren immer noch Hoffnung bestand: Manche Frauen glaubten bis zum letzten Tag noch daran, dass Sie ihre Liebsten lebendig antreffen werden. Zu jener Zeit gab es immer noch Geschichten darüber, dass einige der Männer aus Srebrenica überlebt hätten und dass sie vermutlich in Serbien, in Gefängnissen, in Lagern oder Mienen usw. wären. Natürlich stimmte nichts davon. Der Großteil ihrer Leichen wurde später in Massengräbern gefunden.
Aus diesem Grund, hatte der Moment als die Frauen die Vertreter der Internationalen Kommission für vermisste Personen auf Sie zukommen sahen eine besondere Bedeutung. Sie kamen um ihnen mitzuteilen, dass sie Überreste gefunden haben, die eventuell zu ihren Familienangehörigen gehören könnten; eben dieser Augenblick war für diese Frauen von Neuem der Moment des Todes –so erhält man ein weiteres Mal die denkbar schlimmste Nachricht.
IslamiQ: Glauben Sie, dass die Verantwortlichen für den Genozid von Srebrenica bestraft werden und dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird?
Samarah: Es kann davon ausgegangen werden, dass die justizielle Gerechtigkeit erfüllt wird, aber niemand kann die Toten zurückbringen oder die zerstörten Leben wiederherstellen.
Der Prozess der Exhumierung und Identifikation der Opfer dauert bis zum heutigen Tage an. Und es scheint, als hätten 20 Jahre nach dem Krieg, die wirkliche Aufdeckung der Wahrheit, das Schuldeingeständnis und die Versöhnung immer noch nicht begonnen. Bosnien und Herzegowina leidet weiterhin, ebenso wie die gesamte Region. Keine 20 Jahre konnten die traumatischen Erlebnisse der Menschen verblassen lassen. Sie wurden vergessen, aber sie vergessen nicht.
Das Interview führte Elif Zehra Kandemir.