Nicht nur der Verzicht auf das Essen zeichnet den heiligen Monat Ramadan aus, sondern auch die Reflexion der eigenen Verhaltensweise. Manchmal braucht man die Abstinenz von Unwichtigem um zu erkennen, was wirklich fehlt.
Die Verse berühren Nadir nicht. Er liest sie immer wieder und wieder. Eine Leere füllt seine Brust- und eine Besorgnis über diese Leere. Was ist mit ihm passiert? Noch vor ein paar Jahren spürte er, wie das Gebet seine Brust weitete und er ein tiefes Kribbeln dabei verspürte. Es war so beruhigend und gleichzeitig belebend, dass er sich nie vom Gebet trennen wollte. Wenn man ihn fragte, was er denn am Gebet so besonders findet, konnte er das nie richtig beschreiben, weil er dieses Gefühl kaum selbst begreifen konnte. Es kam einfach. Er wollte das „Salam“ nicht einmal aussprechen, weil er wusste, dass sein Gebet dann beendet war. Viele Probleme plagten ihn damals, und das Gebet war sein einziger Lichtblick. „Das Gebet ist mein Augentrost“, sagte der Prophet Muhammad (s). Das Gebet war auch der Augentrost von Nadir. Er fühlte sich beim Gebet so aufgehoben. Kein Mensch konnte ihm dieses Gefühl geben. „So lange ich mein Gebet habe, kann die Welt auf meinem Kopf zusammenfallen und es macht mir nichts“. Immer schaute er auf die Uhr und berechnete wie viel Zeit noch bis zum kommenden Pflichtgebet blieb. Er vermisste es. Manchmal hielt er es nicht aus und betete einfach so freiwillige Gebete. „Kein Genussmittel der Welt, nicht das köstlichste Essen überhaupt, kein diesseitiges Glück, kann mir das geben, was mir dieses Gebet gibt“, dachte er sich immer wieder. „Ich würde dieses Gefühl für kein Gut der Welt austauschen wollen“, stand für ihn fest.
Aber es passiert nichts mehr. „Wer sich fragt, wie er bei Allah steht, kann sein Gebet betrachten“, hörte er in einem Vortrag. Er stemmt seine Ellenbogen auf den Tisch und lehnt seinen Kopf in seine beiden Hände. „Was kann ich tun, damit meine Tiefe zurückkommt?“, fragt er sich. „Oder was habe ich getan, dass es von mir weggegangen ist?“ Er reflektiert sich selbst, sein Verhalten, seinen Alltag. Er kennt seine Schwachstellen, aber traut sich kaum sie auszusprechen. Sie sind beschämend und eigentlich so leicht abzulegen, aber er kann sich nicht überwinden. Jeden Abend nimmt er sich vor, dass am kommenden Tag alles anders sein soll. Aber dann verfällt er wieder in seine Fallen. „Ich schau‘ nur kurz, ob ich eine Nachricht bekommen habe“, denkt er sich, bevor er sich in Facebook einloggt. Ehe er sich versieht, hat er eine Stunde darin verbracht. Einem Klick folgt der Nächste… Immer weiter, immer tiefer verklickt er sich und schon hat er so viel Zeit mit Nutzlosem verbracht. Er loggt sich aus. „Ich muss eben schauen, ob ich mir diese Mappen für meinen Schreibtisch auch bestellen kann“, denkt er sich, und ehe er sich versieht surft er auf Amazon umher, schaut etwas Nachrichten, entdeckt ein vielleicht wichtiges Video, liest sich ein paar Buchrezensionen durch. Und in dem Moment, in dem er all dies tut, spürt er, dass er etwas falsch macht und dass er am Abend wieder bereuen wird, wie viel Zeit er verloren hat.
Wieder ist es schon 19 Uhr. Es ist zum Verzweifeln. Er hatte sich so viel vorgenommen. Er war so motiviert gewesen. Er weiß ganz genau, dass es „zur Schönheit des muslimischen Charakters gehört, Nutz- und Sinnloses zu verlassen“, heißt und dass „der, der sich nicht mit Gutem beschäftigt, von Schlechtem beschäftigt wird“. Entmutigt klappt er sein Notebook zu, erhebt sich, und setzt sich auf den Sessel neben seinem Bücherregal.
Es ist Ramadan. Er weiß, dass er es schaffen kann, und dass er sich aus diesem Teufelskreis lösen kann. Wieso tut er es nicht? Er blickt auf die Wand. An der Wand hängt eine edle Kalligraphie. „Kullu nefsin zâiqatu’l mawt“, „Jede Seele wird den Tod kosten“, flüstert er vor sich hin. „Das war das letzte Mal“, denkt er sich. Ab sofort wird er weder seine Zeit, noch seine Gefühle und Gedanken so verschwenden, als würde er ewig über sie verfügen.