Der Tag der offenen Moschee (TOM) steht vor der Tür. Dieses Jahr unter dem Zeichen der muslimischen Jugend in Deutschland. Anlässlich dazu hat IslamiQ eine Reihe von Beiträgen vorbereitet, in denen die muslimische Jugend aus verschieden Perspektiven vorgestellt wird. Heute ein Beitrag von Burak Altaş.
Das öffentliche Bewusstsein ist keine Summe von tatsächlich vorherrschenden gesellschaftlichen Umständen. Das Ideal der Übereinstimmung von subjektiver Wahrnehmung mit objektiven Gegebenheiten wird immer wieder von einer trüben Mischung aus Emotionalität, Angst, Befangenheit und Voreingenommenheit übertüncht. So entstehen Zerrbilder, die weit davon entfernt sind, auch nur im Ansatz als Spiegel der wahren Begebenheiten dienen zu können. Finden solche oft überspitzten Szenarien Eingang in das Karussell öffentlicher Diskurse und werden sie häufig genug wiederholt, ist das Entstehen eines Vorurteils nur noch eine Frage der Zeit. Argumentative Stützen, nicht selten äußerst einfallsreich, verhelfen diesem Muster zu einem gewissen Grad von Rationalität. Ab diesem Zeitpunkt braucht es für eine feste geistige Verankerung nur noch einiger „empirischer Nachweise“ (euphemistisch für „Skandalberichte über muslimische Jugendgewalttäter“). Das mediale Spektrum bietet sowohl als Projektionsfläche für die genannte „trübe Mischung“ wie auch für deren Konsolidierung im öffentlichen Bewusstsein die nötige Plattform. Nur so können Befindlichkeiten auch in die entferntesten Ecken der breiten Gesellschaft hineingetragen werden – wie vom Winde mobilisierte Pollen, nicht nur lästig, sondern auch hartnäckig und resistent.
Zum Durchbruch aus einem derlei geschlossenen System ist aktives Rudern gegen den Strom erforderlich. Es sind Individuen gefragt, die den Mut und die Entschlossenheit auftreiben, sich gegen verwurzelte Scheintatsachen zu stellen. Besonders die muslimische Gemeinschaft ist angehalten, angesichts des Reichtums an Ressentiments von Islamisierungsängsten unterschiedlichster Grade bis hin zu offenem Hass, gegen die Ausgrenzung und Diskriminierung von Muslimen und die Stigmatisierung des Islams entgegenzuwirken.
Muslimische Jugendliche tragen hier eine außerordentliche Verantwortung. Erst deren Sozialisation in den Gesellschaften Europas hat den Abbau insbesondere von Sprach- und Bildungsbarrieren ermöglicht. Der Ruf nach einem Dialog der Muslime mit der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft ist durch das Vorhandensein einer selbstbewussten und gebildeten Generation von einer bloßen Floskel zu einer realisierbaren Forderung graduiert. Reich talentierte junge Muslime mit einem dem Regenbogen gleichenden breiten Interessenspektrum durchdringen dabei mittlerweile jede Faser gesellschaftlichen Lebens. Sie bereichern mit der ihnen eigenen Perspektive das tägliche Dasein. Es ist die Rede von einer Generation, welche die Kulturvielfalt in ihren Ländern nicht parallel nebeneinander stehen lässt, sondern den Kontakt der verschiedenen Kulturkreise durch Partizipation, Offenheit und Selbstbewusstsein zu fördern imstande ist. Dieser Verdienst gehört anerkannt.
Umso bedauerlicher ist, wie wenig von alldem in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Besonders junge Muslime gelten als hoch anfällig für Radikalisierung. Es wird das Bild von einem naiven Kind gezeichnet, das mit Leichtigkeit in die Fänge von „radikalen“ Predigern geraten und wie betört der Anziehungskraft des „Islamismus“ nicht widerstehen kann. So wächst das anfangs umherirrende und orientierungslose Kind zu einem „ideologisch verfestigten Dschihadisten“ an. Die Erklärungsmuster dafür folgen meist einem Schema F und beziehen die Elternhäuser, Moscheegemeinden, falsche Freunde und nicht zuletzt das Internet als mögliche Ursachen für ein derartiges Entgleiten mit hinein. Die Angreifbarkeit solcher Analysen mit dem Vorwurf der Pauschalisierung wird dadurch zu mindern versucht, dass zwar Muslime generell „Islamismus“ und Gewalt ablehnen würden, diese Ablehnungshaltung bei jüngeren Personen jedoch schwächer werde.
Deutlich wird dies etwa anhand der Studie „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ des Bundesministeriums des Innern aus dem Jahre 2012. Nachdem positiv festgestellt wird, „dass sich alle in Deutschland lebenden Generationen von Muslimen mehrheitlich deutlich vom islamistischen Terror distanzieren“, folgt im Weiteren eine nähere Betrachtung jüngerer Altersgruppen. Genau deren Untersuchung ergebe „jedoch“, dass eine radikale Subgruppe von jungen Muslimen den Westen verachte, Gewalt akzeptiere und jegliche Integration verweigere. Prompt redet die Bild von der „Schock-Studie“, stellt die in der Untersuchung als radikal eingestuften 20 Prozent der jungen Muslime in den Vordergrund, und sagt: „Besonders radikal sind junge Muslime ohne deutschen Pass.“ Der Stimmung entsprechend schlägt Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) eine klare Konfrontationslinie ein: „Wer Freiheit und Demokratie bekämpft, wird hier keine Zukunft haben.“ Fehlanzeige, was die in der Studie durchaus auch vorhandenen positiven Ergebnisse anbelangt.
Mit wachsendem „Problembewusstsein“ darf dann auch eine detailgetreue Abbildung dieser „gefährlichen Jugend“ nicht fehlen. Was bewegt sie, wer dient ihnen als Idol? Wie vollzieht sich ihre Radikalisierung? Akribisch gefundene Antworten, mehr um die öffentliche Neugier zu stillen als um der Wahrheit willen, entbehren zumeist jeglicher Basis, finden jedoch Anklang. Der Kölner Stadt-Anzeiger zum Beispiel verwendet für ein Interviewgespräch mit Olivier Roy, welches unter dem Titel „Junge Muslime fasziniert die Gewalt“ veröffentlicht wurde, ein Bild von Al Pacino als „Scarface“. Der Schauspieler ist hier mit Blut besudelt und schießt mit einem Gewehr in der Hand auf seine Feinde. Der Untertitel: „Vorbild für Dschihadisten“. Interessant nur, dass der Film seinerzeit 65 Millionen US-Dollar einspielte und für die Golden Globe Awards 1984 gleich drei Mal nominiert wurde, augenscheinlich also nicht nur bei muslimischen Jugendlichen beliebt ist. Anderenfalls müsste es angesichts der hohen Beliebtheit von Breaking Bad auch nicht fern liegen, dass demnächst viele junge Menschen der Drogenproduktion verdächtigt werden könnten, nur weil sie Bilder von Walter White alias Heisenberg auf ihren T-Shirts tragen.
Nicht etwa eine auf vielschichtigen Gründen fußende Perspektivlosigkeit und Bildungsferne, auch keine, möglicherweise wegen der negativen Mediendarstellung des Islams aufkeimende Frustration und Distanzierungshaltung werden in diesen Erklärungsmodellen für die Radikalisierung der Jugendlichen primär herangezogen. Nein, es muss die Religion sein, genauer der Islam, der ihnen Hass und Gewaltbereitschaft einflößt. In den Denkmustern dieser Grundhaltung scheint es konsequent, radikalisierte junge Menschen muslimischen Glaubens als „Generation Allah“ zu bezeichnen. Allah als Anstifter allen Übels – das bedient die Erwartungen und sichert ertragreichen Absatz. Die Generation der brutalen Baller-Videospieler dürfte dankbar sein, dass die öffentliche Aufmerksamkeit von ihnen allmählich abgelenkt wird.
Es bedarf keiner allzu großen Anstrengung zu verstehen, dass die Stigmatisierung der Glaubensinhalte des Islams, die Brandmarkung von zentralen Werten und als Pflicht begriffenen Verhaltensweisen eine ausgrenzende Auswirkung auf Jugendliche entfaltet. Wenn die Gesellschaft eine als verwerflich eingestufte Gesinnung mit religiösen Inhalten verbindet, werden fest verankerte Vorurteile auf die Religion projiziert. Als Reaktion auf eine solche Negativierung des Islams wird man bestenfalls nur Frust ernten können. Die begriffliche Zuordnung von Radikalität und Gewaltbereitschaft und Allah („Generation Allah“) vertieft das Problem daher noch stärker, anstatt eine konstruktive Lösung unter dem Zeichen der Akzeptanz von gelebter Religiosität zu erarbeiten. Daher gilt es, selbsternannten Islam-Experten, die jedes von ihrer eigenen Auffassung abweichendes Islam-Verständnis als gefährlich vermarkten, den erhobenen Zeigefinger zu zeigen. Anderenfalls verkommt jegliche Präventions- und Rehabilitierungsarbeit gegen Radikalisierung zu einem Kampf gegen den praktizierten Islam.
Dabei ist es gerade wichtig anzuerkennen, dass nicht religiöse Jugendliche gefährdet sind, sondern solche ohne Orientierung. Religiöses Wissen agiert im Gegenteil als Bollwerk gegen menschenverachtendes Gedankengut. Diese Weisheit wird leider zu selten gewürdigt. Eine verkappte Anti-Islam-Rhetorik bewirkt, dass ein gesellschaftlich segregierendes Klima erzeugt wird und umgekehrt dies auch zu einer Selbstausgrenzung der nunmehr nicht akzeptierten Jugendlichen führt. Was wir brauchen ist eine Diskussionskultur, bei der gelebte Religiosität nicht an den Rand gedrängt wird, sondern unter dem Vorzeichen von Offenheit steht. Deswegen ist es schwer verständlich, wenn einerseits fehlender gesellschaftlicher Halt und Orientierungslosigkeit als Mitursachen für Radikalität anerkannt werden, umgekehrt aber die Jugendarbeit muslimischer Gemeinschaften weitgehend ausgeblendet wird. Es muss sich etwas in der Berührung mit dem organisierten Islam verändern, nämlich von einem von sicherheitspolitischen Erwägungen geleiteten Kontakt hin zu einer umfassenden Verortung in der Mitte der Gesellschaft. Ersteres nimmt Muslime gemeinhin als Gefahr wahr und ist deshalb ausgrenzend, Letzteres hingegen eröffnet Räume, in denen sich auch muslimische Jugendliche voll entfalten können.
Muslime haben in keiner Altersklasse ein flächendeckendes Radikalisierungsproblem. Ein solches zu propagieren ist weder für das friedliche Miteinander förderlich, noch haltbar. Doch bis diese Einsicht angenommen wird, dürfen wir die verstreichende Zeit leider weiterhin als verschwendet verzeichnen – ein kostbares Gut, dessen Verlust schwer zu Buche schlägt.