Der Tag der offenen Moschee (TOM) steht vor der Tür. Dieses Jahr unter dem Zeichen der muslimischen Jugend in Deutschland. Aus diesem Anlass hat IslamiQ eine Reihe von Beiträgen vorbereitet, in denen die muslimische Jugend aus verschieden Perspektiven vorgestellt wird. Heute aus Sicht von Prof. Dr. Hannes Schammann, Juniorprofessor für Migrationspolitik, an der Universität Hildesheim.
IslamiQ: Glauben Sie, die Öffentlichkeit hat ein richtiges Bild von der muslimischen Jugend?
Prof. Dr. Hannes Schammann: Die muslimische Jugend gibt es natürlich nicht. Stattdessen gibt es, wie bei allen jungen Menschen, eine Vielzahl von Jugendszenen und Lebensweisen – von sehr religiös bis oberflächlich gläubig. Ein Jugendlicher ist außerdem nicht einfach nur Muslim. Er ist gleichzeitig Schüler, Fußballer, großer Bruder, Sohn… Was in der öffentlichen Debatte daher fehlt, ist erstens das Bewusstsein für diese völlig normale Vielfalt von Identität. Zweitens fehlt den meisten Menschen, Muslimen wie Nichtmuslimen, ein Verständnis dafür, wie viele verschiedene Facetten der Islam in Deutschland hat.
IslamiQ: Junge Muslime sind ständiges Thema öffentlicher Diskussionen. Um welche Fragen drehen sich diese Debatten, und inwiefern sind sie gerechtfertigt?
Schammann: Wir alle kennen die Berichte in den Medien über junge Männer und Frauen, die sich der Terrormiliz IS anschließen. Junge Muslime werden leider häufig nur unter diesem Blickwinkel betrachtet: als potenzielle Terroristen. Das ist natürlich falsch und absolut nicht gerechtfertigt. Der weit größere, positive Beitrag junger Muslime zu dieser Gesellschaft wird übersehen. Gleichzeitig wäre es aber auch zu einfach, zu sagen, dass der IS nichts mit dem Islam zu tun hat. Schließlich beruft er sich dezidiert auf den Koran und die Sunna. Zudem gibt es durchaus neosalafistische Prediger in Deutschland, die – mal offen, mal versteckt – in Moscheen für den IS werben. Das ist ein Problem, das Muslime und Nichtmuslime gemeinsam lösen müssen.
IslamiQ: Sie haben mit vielen islamischen Jugendinitiativen und Erwachsenenverbänden zusammengearbeitet. Wo sehen Sie die Schwächen und Stärken der muslimischen Jugendarbeit?
Schammann: Die Stärken sehe ich ganz klar in ihrer Dynamik. In kaum einem anderen Bereich gibt es derzeit so eine große Aufbruchsstimmung, so viele Neugründungen von Jugendgruppen und so viel Bereitschaft zum freiwilligen Engagement. Ob Millî Görüş- oder DITIB-Jugendverbände, ob Muslimische Jugend oder das Zahnräder-Netzwerk – es macht großen Spaß, diese tolle Jugendszene beim Wachsen zu beobachten. Auf der anderen Seite zeigt sich aber auch, dass die Strukturen der Jugendarbeit noch sehr neu und damit auch noch recht schwach sind.
Wenn aber ein Baum einfach wächst, ohne seine Wurzeln tiefer in die Erde zu graben, knickt er beim ersten Sturm um. Ich empfehle den Jugendverbänden daher, sich Zeit zum Wachsen zu nehmen und die Arbeit langsam aufzubauen. Dazu können sie auch die Strukturen der Erwachsenenverbände nutzen. Damit das gelingt, müssen die Erwachsenen den Jugendlichen aber auch etwas zutrauen. Natürlich muss man sich nicht immer einig sein, Streit gehört dazu. Aber wenn die Erwachsenenverbände die jungen Leute nicht ernst nehmen, werden diese ihre eigenen Verbände gründen – etwas, das ja teilweise schon geschieht.
IslamiQ: Aktive religiöse Jugendakteure sind der Ansicht, dass eine professionalisierte und institutionalisierte Jugendarbeit der Ehrenamtlichkeit schadet. Wie sehen Sie das?
Schammann: Das ist eine Meinung, die man vertreten kann. Andere Jugendliche sagen jedoch, dass sie professionellere Strukturen möchten. Grundsätzlich gibt es hier kein Richtig oder Falsch – nur eine Art Faustregel: Für kleinere Initiativen, beispielsweise für die Organisation eines Spendenlaufs, braucht man nicht unbedingt Hauptamtliche. Aber für die Verbandsarbeit über viele Jahre hinweg braucht es Kontinuität – und damit Hauptamtliche. Außerdem kommt es auf die Art des Engagements an: Ehrenamtliche in der Flüchtlingsarbeit beispielsweise brauchen hin und wieder einen professionellen Ansprechpartner – sei es um über die intensiven Erlebnisse zu sprechen oder um Fragen zum Asylrecht zu stellen.
IslamiQ: Welche Unterschiede sehen Sie, wenn Sie islamische Jugendarbeit mit kirchlicher und säkularer vergleichen?
Schammann: Der Unterschied liegt vor allem darin, dass bei islamischer Jugendarbeit die professionellen Strukturen fehlen. Inhaltlich ist sonst sehr vieles ähnlich. Christliche und islamische Jugendarbeit zeichnen sich natürlich beide durch ihre religiöse Motivation aus. Aber auch nicht-religiöse Initiativen wollen letztlich „Dienst am Menschen“ leisten.
IslamiQ: Noch vor zehn Jahren sprach man eher von „türkischen“, „arabischen“ oder einfach „ausländischen“ Jugendlichen. Heute sagt man „muslimisch“, auch wenn man „türkischen Jugendlichen“ meint. Hat diese begriffliche Verschiebung auch zu einer anderen Debatte geführt?
Schammann: Die Beobachtung ist richtig. Der „Gastarbeiter“ wurde erst zum „Ausländer“, dann zum „Türken“ und zum „Migranten“. Jetzt ist derselbe Mensch plötzlich „Muslim“. Auch wenn all diese Begriffe eine Chiffre sind, um „Fremde“ zu bezeichnen, hat sich die Diskussion doch gewandelt. Erstens wird Religion „ethnisiert“, das heißt wir tun so, als sei religiöse Zugehörigkeit in unsere Gene eingeschrieben. Das ist letztlich rassistisch. Zweitens kann ein „Ausländer“ per definitionem keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, ein Muslim aber schon. Indem man Muslime begrifflich nun mit Ausländern – und damit Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft – gleichsetzt, verwehrt man ihnen die volle Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft.
IslamiQ: Neben der Politik interessiert sich auch die Wissenschaft für muslimische Jugendliche. Ist sie von Vorurteilen gegenüber muslimischen Jugendlichen befreit?
Schammann: Generell haben natürlich auch Wissenschaftler Vorurteile, die in ihre Studien einfließen. Außerdem war Forschung zu muslimischen Jugendlichen in der Vergangenheit immer wieder Auftragsforschung – beispielsweise für das Innenministerium. Es ist klar, dass in solchen Studien die Sicherheitskomponente sehr stark ist. Politische Erwartungen spielen da eine große Rolle. Dennoch würde ich sagen, dass es eine Reihe guter Literatur zu dem Thema gibt, die sich um Objektivität bemüht beziehungsweise die eigenen Vorurteile bewusst bearbeitet. Das ist übrigens nicht nur für Wissenschaftler empfehlenswert, sondern für alle – Muslime und Nichtmuslime.