Der Tag der offenen Moschee (TOM) steht vor der Tür. Dieses Jahr unter dem Zeichen der muslimischen Jugend in Deutschland. Aus dem Anlass hat IslamiQ eine Reihe von Beiträgen vorbereitet. Sümeyye Yılmaz schreibt wie wichtig das Alter als Tugend für junge Menschen ist.
Die Besessenheit von Spaß und Lust sowie die Orientierungslosigkeit von Jugendlichen scheinen heutzutage normal zu sein. Sie gelten als soziale Wirklichkeit, ja sogar als natürlicher Zustand. Scheinbar versucht man zwar dies auf jegliche Weise zu umgehen, doch entweder werden die Hauptursachen ignoriert oder ihre Grundlagen werden eher gestärkt. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, das „Alter“ als tugendhaften Lebensabschnitt zu sehen.
„Tonight / We are young / So let’s set the world on fire / we can burn brighter than the sun.“ So heißt es in dem international bekannten und zum Titel des Jahres gekürten Song „We Are Young“ von der US-amerikanischen Rock-Band FUN (New York). Die Botschaft lautet: Spaß und Lust bis zum bitteren Ende. Es sei nicht falsch, wenn Jugendliche ihre Tage vor dem Computer oder mit dem Smartphone, und ihre Nächte in Nachtclubs, auf Partys oder Konzerten verbringen.
Diese Erkenntnisse in Bezug auf die Jugend sind sicher nicht neu. Bereits der Philosoph Sokrates stellte im 4. Jahrhundert v. Chr fest: „Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte […]“. Von allen „weisen“ Sprüchen über „die Jugend“ wird dieser besonders häufig zitiert.
Im Türkischen werden „genç” (=jung) und „cahil” (=ignorant, unwissend) häufig als Synonyme verwendet. Denn „jung sein” bedeutet Überschreitung aufgrund überschwänglicher Wünsche und Lüste, was auf Unwissenheit und Ignoranz zurückzuführen ist. Der Begriff „ihtiyar” (=alt, hier: weise, selbstbeherrschend, enthaltsam, willensstark) stellt den Gegensatz zu „genç” dar. Im Jugendalter ist der Drang nach Spaß, Genuss und Widerstand besonders stark.
Weise Menschen, die dem Weg Allahs folgen, sprechen deshalb auch vom „Rausch der Jugend“. Bediuzzaman stellt nicht nur diesen Umstand fest, sondern weiß auch den Grund dessen und formuliert diesen in seinem Werk „Sözler” folgendermaßen: „Schau und sieh, wie ich im Rausch der Jugend, in Achtlosigkeit die Welt schön und befriedigend sah; doch als ich am Morgen des Alters ernüchtert aus dem Rausch erwachte, sah ich, wie hässlich das Gesicht der Welt ist, das nicht nach dem Jenseits gerichtet ist, und wie schön das nach dem Jenseits gerichtete wahre Gesicht eigentlich ist”.
Die Eigenschaften, die der Jugend schon immer zugeschrieben wurden, haben sich zwar nicht wesentlich verändert. Eine Reihe soziologischer Studien und Theorieansätze offenbart jedoch eine grundlegende Wandlung des Verständnisses dieser Eigenschaften. Was früher negativ bewertet wurde, ist heute Teil einer allgemein akzeptierten, sozialen Wirklichkeit. Der Übergang von dem Begriff des „Werteverlusts“ in „Wertewandel“ drückt diese Tatsache epistemologisch aus. Der deutsche Soziologe Gerhard Schulze stellt in seinem Buch „Erlebnisgesellschaft“ (1992) fest, dass der hedonistische Lebensstil in der Menschheitsgeschichte zwar immer existiert hat. Allerdings blieb er in der Regel jedoch auf die oberen sozialen Schichten begrenzt. In der (post-)modernen Gesellschaft, so Schulze, sei der nach „Glückseligkeit und Genuss“ strebende Lebensentwurf als soziale Realität allgemeingültig und unabhängig von bestimmten sozialen Schichten. Insbesondere das Verlangen nach dem Glück des Augenblicks führt zu wachsender Ungeduld und dem ständigen Bedürfnis nach mehr. Der postmoderne Mensch bevorzugt stets das Schnellere und ist vom „Glück durch Konsum“ (z. B. Mode und Technologie) fest überzeugt. So wie der in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft getretene Bürgerdialog „Gut Leben in Deutschland“ werden weltweit in vielen Ländern Aktionen umgesetzt, die „Glücksquote“, „Lebensqualität“ oder „Wohlstand“ der Gesellschaft messen sollen. Diese Tatsache zeigt, wie sehr das vom Menschen empfundene Glück als „die“ soziale Wirklichkeit nicht nur wahrgenommen wird, sondern angestrebt und als Maßstab gesehen wird.
Allerdings ist Schulzes These ohne Ulrich Becks (1986) Individualisierungstheorie nicht denkbar. Denn das eigentliche Ziel des in der Erlebnis- und Spaßgesellschaft lebenden Individuums ist die „Selbstverwirklichung“. In der postmodernen Gesellschaft dominiert das Selbstverwirklichungsziel nicht nur in materieller, sondern auch in postmaterieller Form. Das Individuum entwirft sich auf der Suche nach einem individuellen Lebensstil. Es ist ganz selbstständig eine „Bastelbiographie“ zu besitzen und diese der schaulustigen Öffentlichkeit zu präsentieren. Natürlich versuchen auch Jugendliche sich in einer solch egozentrischen Gesellschaft auf verschiedenen Wegen zu verwirklichen und zur Schau zu stellen. Die offensichtlichsten Beispiele dafür sind Facebook- und YouTube. Hier stellen junge Menschen ihre selbstentworfenen Biografien zur Schau.
Diese technologiebeherrschte Jugend hat anscheinend ihr ganzes soziales Leben und ihre Träume der virtuellen Welt übergeben. Dank sozialer Medien und neuester Kommunikationstechnologien werden soziale Beziehungen, Freundschaften und sogar Familienkontakte nicht mehr im persönlichen Kontakt, sondern online gepflegt. So entsteht ein soziales Leben in „asozialen Netzwerken“. Zudem entfremden sowohl laufend aktualisierte Computerspiele mit enormem Marktpotential, als auch Science-Fiction-Filme die Jugendlichen immer mehr von der eigentlichen Realität.
In seinem Buch „Generation Maybe“ (2014) beschreibt Oliver Jeges die junge Generation von heute als eine „Horde von Zombies“, die nach Anerkennung, Wertschätzung, Lob und Liebe giert. Die Bezeichnung „Maybe“ spielt auf den Zustand chronischer Unentschlossenheit und Orientierungslosigkeit an, in dem sich die heutige Jugend befindet. Verantwortlich dafür sind die unendliche Vielfalt möglicher Wahloptionen in allen Lebensbereichen und eine weitgehende Wertelosigkeit.
Auch Johannes Goebel und Christoph Clermont widmen sich in ihrem Buch „Die Tugend der Orientierungslosigkeit“ (1999) dem Zustand der Jugend im postmodernen Zeitalter. Aus ihrer Sicht resultiert diese Orientierungslosigkeit insbesondere aus der Flexibilisierung aller gesellschaftlichen Felder. Interessant daran ist, dass dies für die Gesellschaft kein Problem darstellt. Im Gegenteil: die Orientierungslosigkeit wird als eine regelrechte Tugend begriffen.
Vor diesem Hintergrund trifft offenbar Sokrates’ Meinung über die Jugend auch im 21. Jahrhundert noch immer zu. Ihre Entsprechung findet sie in der gegenwärtigen hedonistischen Konsumsucht, einem zeigefreudigen Narzissmus in Mode, Entertainment und sozialen Medien und Respektlosigkeit zugunsten der Befriedigung und Erfüllung des eigenen Egos. Und doch gibt es einen wichtigen Unterschied. Die hedonistische und egozentrische Einstellung, Technologiesucht und vor allem die Orientierungslosigkeit werden heute keineswegs normativ beurteilt oder kritisiert, sondern als „ganz normal“, typisch und unvermeidlich angenommen.
Die Lebensphase der Jugend wird in der islamischen Denktradition weniger als turbulenter Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenenalter begriffen. Vielmehr stellt sie eine für die Entwicklung von Lebenstüchtigkeit wichtige Phase dar, in der zwischen Tugendhaftigkeit und Unwissenheit entschieden wird. Einer Überlieferung des Propheten Muhammad (s) zufolge wird der Mensch am „Yawm al-Kiyâmah“ (Tag der Abrechnung) darauf zu antworten haben, wo und wie er die Jugend verbracht hat. Hedonistische Jugendbegierden offenbaren Unwissenheit und Achtlosigkeit, das Alter hingegen wird mit tugendhaften Eigenschaften (z. B. Weisheit, Vernunft, Besonnenheit) verbunden. Der Gesandet Allahs sagt dazu: „Der Beste unter den Jugendlichen ist derjenige, der den Älteren ähnelt. Und der Schlechteste unter den Älteren ist derjenige, der den Jugendlichen ähnelt.“ (Haythamî, Ibn Hadschar, Munâwî). Ein Jugendlicher soll also seinen Trieben und Begierden nicht erliegen, umgekehrt soll aber auch der Ältere den Jungen in dessen Achtlosigkeit nicht nachahmen, und den Wünschen seines Egos folgen (Tabarânî).
Der „Rausch der Jugend“ wird in der islamischen Tradition also nicht als eine akzeptable soziale Wirklichkeit aufgefasst. Vielmehr gilt sie als Lebensphase voller Täuschungen und Fallen, die zur Achtlosigkeit und Unwissenheit führen kann. Als eigentliche Tugend gilt deshalb eine Jugend, die nicht aus Genuss, Egoismus und Orientierungslosigkeit besteht, sondern die dem „Alter“ ähnelt.
Eine weitere Eigenschaft, die der Jugend zugeschrieben wird, ist der Widerstand. Widerstand wird in den meisten Fällen negativ bewertet, doch kommt es auf das Ziel an. Widerstand gegen die Tyrannei und Unrecht ist eine Tugend, ja sogar eine Mission. Umar (r) wird mit den Worten zitiert: „Auch wenn du der Einzige bist, lehne dich gegen das Unrechte auf“. Auch unser Prophet Muhammad (s) bringt diesen Aspekt in Bezug auf den Gehorsam seiner jungen Gefährten zum Ausdruck: „Ich empfehle euch die guten Jugendlichen. Denn ihre Herzen sind gutmütiger, Allah sandte mich mit Rechtschaffenheit und Toleranz. Die Jugend nahte sich mir, die Älteren jedoch lehnten mich ab.“ Im Gegensatz zu den Älteren unter den Kuraysch lehnten sich die jungen Prophetengefährten gegen das von Polytheismus, Ungerechtigkeit und Unmoral beherrschte System auf, indem sie dem Gesandten Allahs folgten. Der Widerstand ist also gerechtfertigt, sobald der junge Muslim zum Guten, zur Gerechtigkeit und zu seinem Glauben steht.
In der islamischen Denktradition wird der junge Muslim immer als „beherzt“ beschrieben. Der Begriff „Fatâ“ (Pl. Fityân), der sowohl „jung“ als auch „beherzt“ bedeutet, taucht im Koran mehrfach auf. Über den Propheten Abraham (a), der sich gegen die Götzen seines Volkes auflehnte, sagt Allah: „Sie sprachen: «Wir hörten einen Jüngling von ihnen reden; Abraham heißt er.»“ (Sure Anbiyâ, 21:60). Ein anderes Beispiel sind die „Ashâb al-Kahf“ (die Sieben Schläfer), die ebenfalls gegen den Polytheismus und die Tyrannei ihres Volkes Widerstand leisteten: „Wir wollen dir ihre Geschichte der Wahrheit gemäß berichten: Sie waren Jünglinge, die an ihren Herrn glaubten, und Wir ließen sie zunehmen an Führung.“ (Sure Kahf, 18:13).
Abgeleitet vom koranischen Begriff „Fatâ“ wird diese Eigenschaft auch in der türkischen Sprache zur Beschreibung von Jugendlichen verwendet, die entschlossen, mutig, und tapfer sind. Der berühmte Schayh Adabâli (1258-1326) sagte: „Wisse, dass man das gute Pferd als rotbraun, den Guten unter den Beherzten als verrückt kennt“. In diesen Worten wird deutlich, dass Beherztheit ein Ausdruck von Tapferkeit und Kühnheit der Jugend ist.
Die anatolische „Futawwat“-Bewegung steht ebenfalls in der Tradition dieses koranischen Begriffs. Sie gilt als Vorläufer der gemeinnützigen „Ahilik“-Bewegung, einem vom Sufismus inspirierten Zusammenschluss von Handwerkern. Von jungen Anhängern der „Ahilik“-Bewegung gegründet, leistete die „Futuwwat“-Organisation einen großen Beitrag zur gesellschaftlichen Etablierung von Tugenden wie Tatkraft und Freigiebigkeit.
Um von einer Jugend sprechen zu können, die der heutigen Zeit (d.h. Zeitgeist) bewusst ist und den Raum der diesseitigen Welt nichts anderes als anvertraut sieht, sollte einiges klar sein. Auf der einen Seite ist die Rede von einer Jugend, die sich in keinem anderen Zustand befindet als im unendlichen Streben nach momentaner Glückseligkeit und Erfüllung hedonistischer und egozentrischer Begierden, in der Leidenschaft für die virtuelle Welt sowie der Orientierungslosigkeit. Auf der anderen Seite wird von einer solchen Jugend gesprochen, die im besten Sinne des Wortes ein „Alter“ (hier türk. „ihtiyar“: Selbstbeherrschung) besitzt; sich vor der Berauschtheit und Achtlosigkeit der Jugend schützt und um seines Glauben, seiner Sorge und Dawâ willen Beherztheit zeigt. Welche von diesen Jugenden im wahrsten Sinne der heutigen Zeit bewusst ist und den weltlichen Raum nichts weiter als anvertraut sieht, sollte letzten Endes deutlich sein.