Der Psychoanalytiker Dr. Gehad Mazarweh ist einer der meist besuchten Psychoanalytiker im Süden Deutschlands. Wir sprachen mit ihm über Minderheiten, seine Kindheit als Palästinenser in Israel und Heimat.
IslamiQ: Herr Mazarweh, Sie selbst haben Ihre Heimat verlassen. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Dr. Gehad Mazarweh: Ich kam 1962 nach Europa. Zuerst war ich in Basel. Ich kam mit der Vorstellung, dass die Schweiz ein ganz ordentlicher, neutraler Staat ist, wo Menschenrechte beachtet wurden. Ich bin weggegangen, weil die Palästinenser in Israel diskriminiert wurden. Die Verfolgung gegenüber den Palästinensern war gnadenlos, weil man – und das bis heute – ein rein jüdisches Land haben möchte. Die Realität sieht anders aus, die Konflikte bleiben. Der Anfang in einem fremden Land war für mich sehr problematisch. Nicht nur das Essen war fremd, auch der Umgang der Menschen miteinander. Die Esskultur ist ein wesentlicher Punkt der zwischenmenschlichen Beziehung, denn sie ist eine Brücke und verbindet.
IslamiQ: Wie war es als Palästinenser in Israel sozialisiert zu werden? Führte das zu Identifikationsproblemen aufgrund der Schulbildung in Israel?
Dr. Mazarweh: Ich bin in Palästina geboren als es noch keinen israelischen Staat gab. Als der Krieg ausbrach, habe ich bewusst miterlebt, wie die arabischen Flüchtlinge aus den Städten Haifa, Jaffa auf der Suche nach Schutz und Sicherheit zu uns gekommen sind, weil sie aus ihren Häusern vertrieben worden waren. Von diesem Augenblick fand eine rapide Veränderung statt, das Gewohnte und Vertraute wurde systematisch beseitigt. Als ich aufwuchs, war mein Geburtsort Teil des Staates Israel geworden und dort waren die Verhältnisse von Anfang an klar: Sie mochten uns nicht und wir mochten sie nicht! Ich bin in diesem Milieu, wo Hass, Nationalismus und Diskriminierung herrschte, groß geworden und bin sehr von dem Wunsch nach Freiheit geprägt. Niemand darf als Mensch zweiter Klasse leben, das habe ich erlebt und gespürt. Als ich das nicht mehr ertragen konnte, sagte ich meiner Familie, dass ich gehe.
IslamiQ: Wie fühlt man sich als Teil eines unterdrückten Volkes und lebt gleichzeitig mit den Besatzern im selben Land?
Dr. Mazarweh: Man fühlt sich wie einer, der mit dem Wolf tanzt. Das verändert die Persönlichkeit. Wer diskriminiert wird, verliert das Vertrauen in eine Welt, in der die Menschenrechte das Zentrum des Zusammenlebens sein sollen. Die Diskriminierung durch die englischen Kolonisatoren wurde später von den Israelis fortgesetzt. Die Palästinenser haben teilweise selbst geglaubt, dass sie wenig Wert besitzen. Sie brauchen keine neue Haut, sondern eine neue Innenwelt, die wir restaurieren müssen. Weil die Substanz nach wie vor gesund und gut ist. Damals wurden die Palästinenser von den reichen arabischen Ländern im Stich gelassen. Heute ist es nicht anders. Es ist doch beschämend, dass die arabischen Staaten sich kaum für die Flüchtlinge einsetzen und die Syrer bis nach Europa ziehen müssen.
IslamiQ: Was ist mit den Flüchtlingen, die Sie im Moment betreuen? Wie sehen Sie generell deren die Lage in Europa?
Dr. Mazarweh: Die Menschen verlassen ihre Heimat auf der Flucht vor Tod und Zerstörung und kämpfen ums nackte Überleben. Das spielt bei den Diskussionen über die jetzige Flüchtlingswelle kaum eine Rolle. Man spricht über Zahlen, nicht über Menschen. Selten wird erwähnt, dass z. B. der Libanon, Jordanien und die Türkei mehr Flüchtlinge aufgenommen habe als ganz Europa. Es wird zu wenig auf den wirtschaftlichen und menschlichen Gewinn hingewiesen, der durch die Zuwanderung entsteht.
IslamiQ: Wie ist es in der Praxis? Sind die Menschen traumatisiert? Vielleicht besser: Warum kommen die Migranten zu Ihnen in die Praxis?
Dr. Mazarweh: Niemand verlässt seine Heimat gerne. Heimat ist ein Stück Seele. Das ist etwas, das uns Wert gibt und zeigt, dass wir etwas haben, was wir lieben können. Für die allermeisten Flüchtlinge ist es sehr schwer mit den Erfahrungen, die sie in ihrer Heimat und auf der Flucht gemacht haben fertig zu werden. Viele sind stark traumatisiert, das bedeutet, dass sie nicht in der Lage sind, ihren Alltag alleine zu bewältigen und unter starken Ängsten, Depressionen und psychosomatischen Beschwerden leiden. In vielen Fällen ist der letzte und einzige Trost ihre Religion, ihr Glaube an Gott. Ich bin sehr froh, eine Gruppe von engagierten KollegInnen gegründet zu haben, damit sie mit den Patienten arbeiten können.
IslamiQ: Was versteht man unter Minderheitenpsychologie? Und was sind die Auswirkungen?
Dr. Mazarweh: Nicht nur die Majorität beeinflusst die Minorität, sondern auch eine Minorität beeinflusst die Majorität. Allerdings mit einem Unterschied: Der Einfluss der Majorität ist spürbar und deutlich, der Einfluss der Minderheit eher langsam und unauffällig. Die Vorstellung „Minorität-Majorität“ wird mit der Zeit immer mehr abnehmen. Es wird immer mehr verschmelzen. Diese Verschmelzung kann nur fördernd für die Kreativität sein. Alles, was mal fremd war, bekommt mit der Zeit einen neuen Duft und auch einen Platz in der Gesellschaft. Wenn man sich anschaut wie viele gebildete Menschen aus Einwandererfamilien es in Deutschland nun gibt, dann erkennt man, dass man diesen Menschen die Integration nicht beibringen muss. Es läuft automatisch.
IslamiQ: In einer globalen Welt, die immer „kleiner“ wird, können wir immer noch von territorial- und nationalgebundenen Identitäten sprechen?
Dr. Mazarweh: Heimat ist nichts geographisches, sondern etwas Emotionales. Selbst die heutigen Juden in Deutschland sind Deutsche und keine Israelis. Wer Mauern braucht hat Angst. Die Angst z. B. vor einer Gruppe von Türken führt zu einer Abwehrreaktion und damit zu Aggression. Heute sind die Minoritäten in keinem Land wegzudenken, sie gehören dazu und leben mit der Majorität der Bevölkerung eines Landes. Es wird immer noch zu viel von Integration gesprochen und man meint Anpassung an die sogenannte Leitkultur. Die Wurzeln eines Menschen können woanders sein, aber man kann auch in einer neuen Heimat Wurzeln schlagen, sich „zu Hause“ fühle und sich an die herrschenden Gesetze halten.
IslamiQ: Die dritte oder vierte Generation der Einwanderer: Schwanken diese Jugendliche zwischen zwei Welten?
Dr. Mazarweh: Nein, sie schwanken nicht, sie sind eher Deutsch als Türkisch. Sie sind in Deutschland geboren. Sie haben lediglich Schuldgefühle gegenüber der Türkei und ihren Eltern, das ist der stabilste Draht, der sie noch verbindet. Die Eltern jedoch erziehen die Kinder wie „Türken“, aber das ist sehr widersprüchlich. Eine innere Zerrissenheit entsteht. Die Eltern müssen in erster Linie darauf achten, dass ihr Verhältnis zu den Kindern nicht kompliziert wird. Spieler wie Özil sind auch der Beweis dafür, dass diese Kinder da sind, dass sie existieren. Es gibt keine „Halblinge“, man ist ganz arabisch oder türkisch und gleichzeitig ganz deutsch .
Zwei Identitäten sind nicht möglich. Es kann nur eine Identität geben, die von zwei Farben gefärbt ist. Dies ist eine unglaubliche Schönheit und öffnet die Möglichkeit, viele weitere Farben zu sehen. Und das wiederum ruft hervor, was man vorher mit einer Farbe vielleicht nicht gesehen hat. Was wir brauchen ist, Zivilcourage zu zeigen, um aufmerksam zu machen, was gut an der eigenen Kultur ist und was ungünstig.
IslamiQ: Obwohl zum Beispiel die wenigsten Straftaten von Muslimen begangen werden, werden vor allem muslimische Jugendliche als „bedrohlich und gefährlich“ wahrgenommen. Wie beeinflusst diese negative Rollenzuschreibung die Jugendlichen?
Dr. Mazarweh: Dass die Mehrheitsgesellschaft eine Projektion braucht, wissen wir in der Sozialpsychologie bereits seit hunderten von Jahren. Sie sucht ein Opfer, um die eigenen schlechten Bilder, Handlungen etc. abzubauen und auf die „anderen“ zu übertragen. Misstrauen gegenüber dem Islam gibt es seit seinem Bestehen, das ist kein neues Phänomen. Wir müssen die Kinder hier mit einem gesunden Selbstbewusstsein erziehen. Wenn ein Kind sagt, ich bin Türke, und dafür muss ich mich nicht schämen, geht es ihm gut damit. Das Selbstvertrauen dieser Jugendlichen ist gestiegen, und man muss dafür sorgen, dass es sich noch weiter entwickelt.
IslamiQ: Bei der Job-und Wohnungssuche kommt es zum Alltagsrassismus. Sehen Sie eine Tendenz, die zunimmt oder abnimmt? Welche Auswirkungen haben die Diskriminierungen auf die Psyche der Menschen?
Dr. Mazarweh: Die Art und Weise eines Kontaktes ist das Schlüsselwort. Ich kann über einen Streit einen Kontakt starten oder auch im Gespräch bei einem Kaffee. Wichtig ist jeweils der Respekt für den Anderen. Wer andere Menschen verachtet, verachtet vor allem sich selber. Rassismus hat mit Ignoranz zu tun. Rassisten leiden an großen Minderwertigkeitskomplexen. Diskriminierung mobilisiert bei den Betroffenen Ängste und Rückzug. Als Ergebnis entstehen Misstrauen und Abgrenzungsbestrebungen und Aggressionen.
IslamiQ: Muslime in Deutschland werden zunehmend politisch aktiver. Können wir heute von einem neuen Selbstwertgefühl der Muslime sprechen?
Dr. Mazarweh: Noch vor 20-30 Jahren war klar, dass ein Italiener, ein Türke, ein Südeuropäer, der in Deutschland lebte, nicht anderes als ein Arbeiter ist. Das war das Bild des „Ausländers“ zu Beginn. Heute ist es anders geworden. Je mehr Gebildete und Hochschulabsolventen mit Migrationshintergrund es gibt,umso alltäglicher und normaler wird es. Die Entwicklung geht in eine gute Richtung und natürlich steigen dadurch auch Mut und Selbstachtung.
IslamiQ: Was wird sich längerfristig demographisch ändern in Deutschland?
Dr. Mazarweh: Es wird sich nichts Grundsätzliches verändern, was schon allein durch die Relation der Zahlen deutlich wird. Die Migranten werden, sofern sie nicht in ihre Heimat zurückgehen, sich in die hiesige Gesellschaft integrieren, leben und arbeiten und hier eine neue Heimat finden. Dies kann eine neue Chance für alle Beteiligten sein. In ein paar Generationen sind sie Deutsche. Aber die Vorstellung eines blonden, blauäugigen Deutschen muss revidiert werden.
Das Interview führte Ibrahim Yavuz.