Flüchtlingskrise

Wer ist kein Flüchtling?

Die negativen Schlagzeilen über Flüchtlinge häufen sich. Immer stärker wird das Ihr -und Wir Gefälle ausgeweitet. Doch würde ein Blick in die Geschichte nicht zeigen, dass wir alle Flüchtlinge sind? Ein Kommentar von Dr. Ahmad Milad Karimi.

08
11
2015
Leidvoller Blick eines syrischen Flüchtlingskindes. © Bengin Ahmad auf flickr, bearbeitet by IslamiQ.

Flüchtlinge gibt es nicht erst seit gestern. Der großartige Europäer und Schriftsteller Stefan Zweig, der selbst in die Flucht getrieben wurde, schreibt: „Woche für Woche, Monat für Monat kamen immer mehr Flüchtlinge, und immer waren sie noch ärmer und verstörter als die vor ihnen gekommenen. (…) Jedes Recht wurde Ihnen entzogen, jede seelische, jede körperliche Gewaltsamkeit mit spielhafter Lust an ihnen geübt (…) Und dann standen sie an den Grenzen, dann bettelten sie bei den Konsulaten und fast immer vergeblich, denn welches Land wollte Ausgeplünderte, wollte Bettler?“

Europa und seine Fluchtgeschichte

Flucht, Heimatlosigkeit, überhaupt das exilierte Dasein scheint dem Menschen seit Anbeginn seiner Geschichte zu begleiten. Warum dann die große Unbeholfenheit? Gerade die Ideengeschichte Europas lässt sich als eine Geschichte darstellen, die mit dem Phänomen der Flucht, Heimatlosigkeit und Exil zutiefst verwoben ist.

Überquerte nicht Europa als Tochter des phönizischen Königs Agenor, auf dem Rücken von Zeus in Gestalt eines weißen Stiers das Mittelmeer, um als Exilantin auf dem fremden Kreta heimisch zu werden? Homer, immerhin der erste Dichter des Abendlandes, der – schenkt man Herodot glauben – 850 v. Chr. gelebt haben soll, schildert in seinem Epos Odyssee die Heimkehr eines der herausragenden Helden des Trojanischen Krieges. Die Heimat von Odysseus ist die Insel Ithaka. Nach der zehn Jahre lang andauernden Eroberung Trojas verzögert sich die Heimkehr des Helden um ein ganzes Jahrzehnt. Da er vom Fluch Poseidons verfolgt, in verschiedenen Abenteuern, rätselhaften Irrungen und Gefangenschaften gerät, wird er schon im zweiten Vers des Epos als ein Mann vorgestellt, der „so weit geirrt“ sei und „auf dem Meere so viel’ Leiden erduldet“ habe. Er ist aber weder ein Abenteurer noch ein Seefahrer. Odysseus ist ein Heimkehrer, der sich „herzlich zur Heimat und Gattin“ sehnt. Nicht [ihn] zu töten, allein von der Heimat irre zu treiben“, ist Poseidons Strafe für den Helden.

Aber auch im anderen großen Epos des Dichters, Ilias, wird die Flucht von Paris und Helena nach Troja als die entscheidende Schlüsselfigur behandelt. Die Flucht und Heimatlosigkeit avancieren bereits am Anfang des Ganzen zu einem Topos. War der große Aristoteles nicht auch ein Flüchtling? Mehr noch: Baruch Spinoza, Martin Luther, Walter Benjamin, Hanna Arendt und Stefan Zweig sind Namen, die mit der Geschichte Europas Fluchtgeschichten schreiben. Die Liste ist überraschend lang, wenn man genauer hinsieht.

Der Mensch ist im Exil

Der Mensch ist im Exil, solange er lebt. Diese Einsicht ist im christlichen Glauben verfestigt, man denke an das biblische Wort, „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ (Hebräer 13,14). Und wenn wir uns die vielen Exilerfahrungen des jüdischen Volkes vergegenwärtigen, wird schnell klar, dass das Judentum ebenfalls der Flucht des Menschen im religiösen Bewusstsein eine starke Bedeutung zuschreibt.

Und im Islam? Exil im Islam hat eine ganz besondere Bedeutung. So werden Adam und seine Frau als Topos für die Menschheit allesamt am Anfang des Ganzen als die ersten Exilanten begriffen (vgl. u.a. Koran 20,123). Damit erfährt der Mensch sein Exilleben, so lange er lebt, im Bruch mit seinem Ursprung: „Er sprach: „Geht hinunter! Die einen von euch sind der anderen Feinde. Ihr habt auf der Erde Stätte und Nutznießung für eine Weile.“ Er sprach: „Auf ihr lebt ihr, auf ihr sterbt ihr, und aus ihr werdet ihr hervorgebracht.“ (Koran 7,24f.). Daran erinnert bereits einer der großen Gelehrten und Exilanten der islamischen Geistesgeschichte Maūlānā Rūmī gleich im Prolog seines Epos Mathnawi:

„Hör auf die Bambusflöte, wie sie erzählt
und von den Trennungen klagt!
‚Vom Bambusfelde wurde ich geschnitten,
Männer und Frauen beweinten mich.
Ich verlange nach einer von Trennung zerschlagenen Brust,
ihr zu schildern die Schmerzen meiner Sehnsucht.
Jeder, der fern bleibt von seinem Ursprung
Sucht die Gelegenheit der Vereinigung‘“.

Es sind eben Religionen, die fortwährend von dieser Urerfahrung der Flucht erzählen, deren Vergegenwärtigung als Belehrung Symbolcharakter besitzt. Die entschiedene Wende für die Sensibilisierung der Fluchterfahrung vollzieht sich im islamischen Verständnis mit der hidschra des Propheten Muhammad (s) als historischer Anfang des Islams deshalb, weil damit die Zeitrechnung der Religion beginnt. Über die reale Bedeutung und Bedingungen in politischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht hinaus, kommt der Flucht des Propheten und mithin seinen Gefährten ideengeschichtlich eine herausragende Bedeutung zu. Welche systematische Bedeutung kommt der hidschra des Propheten Muhammad aus Mekka nach Medina zu? Die Hidschra bedeutet ursprünglich so viel wie eine Bindung durchtrennen, oder gar sich entbinden, entfesseln. Die Entfesselung des Propheten von den Bedingungen seiner Herkunft, seines Stammes und seines geographischen Geburtsortes ist mehr als ein historisches Faktum.

Wer glaubt, ist ein Flüchtling

Die Hidschra als Flucht gewinnt somit eine positive Wendung. Diese Flucht ist mit der Erkenntnis verbunden, dass die wahre Heimat des Gläubigen nicht lokalisiert ist, sondern dass der Mensch als Mensch in der Welt überhaupt exiliert. Mit der Flucht des Propheten ist der spirituelle Anfang des Islams vollzogen. Ein Anfang, der den Gläubigen in seinem wahrhaftigen Hadern und Zittern eine unerschütterliche Bindung verleiht. Die hidschra lässt also einsehen, dass jede andere Bindung, wie sehr man auch daran festhält, zum Entgleiten verurteilt ist. Die Muslime sind also im Glauben beheimatet. Allein dies eint die Muslime, lässt sie sich als Umma (Gemeinschaft), als einen Organismus begreifen. Die Umma ist nämlich eine organische Einheit, die eine lebendige Vielfalt darstellt.

Das Individuum als Subjekt des Glaubens findet sich in einer diese Individualität überschreitenden Einheit. Nicht das Individuum ist das Subjekt, sondern es ist Teil einer größeren Einheit. Die Umma ist mithin das gelungene Subjekt eines Organismus, eines Körpers, welches mehr ist als die Summe seiner Glieder. Damit lässt sich die umma als Einheit der Ganzheit der Muslime gleichsam als Repräsentant des Propheten Muhammad begreifen. Sind Flüchtlinge bloß die anderen? Ist nicht jeder Mensch, der in der Hingabe zu Gott lebt ein Flüchtling? Wer glaubt, ist ein Muhadschir (Flüchtling). Wer der Spur des Propheten folgt, der hat ihn zunächst als einen Muhadschir zu begreifen. Nicht erst dann, wenn die Welt durch die Flüchtlingswellen erschüttert wird, sondern immer schon. Ja, wer dem Propheten nacheifert, der hat die hidschra in einem umfassenden Sinne zu vollziehen.

Der Islam in seinem Selbstverständnis ist eine Religion, die jenseits der Produktivität und des Nutzens, gerade dem Gescheiterten, Verletzten und Bedürftigen mit Würde Geborgenheit schenkt. Wer einem Flüchtling die Hand reicht, wer einen Flüchtling pflegt und ihm gedenkt, der gedenkt dem Propheten; er vollzieht in formaler Hinsicht den Glaubensakt. Doch die ethische Verantwortung für Muslime in Europa wächst nicht deshalb, weil die meisten Flüchtlinge Muslime sind; sie sind zunächst Menschen in Not – und Muslime sollen; der Koran und das Vorbild des Propheten Muhammad lehrt die Muslime in aller Entschiedenheit, im Antlitz eines jeden Menschen zunächst den Menschen erblicken. Muhammad Iqbal erinnert uns daran, wenn er in der Botschaft des Ostens schreibt: „Du bist frei vom Band von Lehm und Wasser, du sagst: „Ich bin ein Grieche, ein Afghane!“ Ich bin erst Mensch, ganz ohne Duft und Farbe; erst dann werde ich ein Inder, ein Turane.“ Somit ist die Verantwortung für die Flüchtlinge in der Binnenstruktur des Glaubens selbst verankert. In dieser Verantwortung ist aber zugleich eine große Lehre verborgen, die uns erstens erneut vor Augen führt, dass wir selbst Flüchtlinge sind und zweitens, dass wir endlich zu unserer Mitte finden, uns als eine Umma (Gemeinschaft) zu verstehen, denn in den Augen eines jeden Flüchtlingskindes lässt sich eindeutig lesen, was Bestand hat, was wert ist, wonach wir streben.

Leserkommentare

Yalçın Tekinoğlu sagt:
Vielen Dank Herr Karimi für diesen schönen Artikel und kommen Sie bald wieder einmal nach Heidelberg wie im letzten Jahr zur Iqbal-Gedenkwoche, die uns noch gut in Erinnerung ist. Denn: wir sind alle Ausländer - fast überall.
08.11.15
21:28
Mads sagt:
@Yalçın Tekinoğlu: Der Spruch, jeder sein Ausländer, fast überall, ist vollkommender Blödsinn. Inhaltlich mag er stimmen, aber nicht alle "Ausländer" machen sich in den Ländern anderer breit und versuchen dann noch die Einheimischen mit ihren religiösen Vorstellungen zu beglücken. Und als Gipfel des ganzen beklagen sie dann noch die moralische Verkommenheit ihrer Gastländer und sprengen die Menschen in die Luft oder erschießen sie (wie vergangenen Freitag wieder einmal in Paris geschehen).
16.11.15
9:49
Mehmet Karaoglu sagt:
@Mads: Blödsinn ist: "Der Spruch, jeder sein Ausländer, fast überall, ist vollkommender Blödsinn. Inhaltlich mag er stimmen, aber..." Widersprüchlich, oder nicht? Vielen Dank Herr Karimi, wunderschöne Worte.
16.11.15
19:29
Enail sagt:
Der Islam in seinem Selbstverständnis ist eine Religion, die jenseits der Produktivität und des Nutzens, gerade dem Gescheiterten, Verletzten und Bedürftigen mit Würde Geborgenheit schenkt. Wer einem Flüchtling die Hand reicht, wer einen Flüchtling pflegt und ihm gedenkt, der gedenkt dem Propheten; er vollzieht in formaler Hinsicht den Glaubensakt. Dann frage ich mich, warum die reichen muslimischen Länder im Nahen Osten ihre Glaubensbrüder nicht aufnehmen, oder sind das doch keine Muslime? Und warum fliehen sie dann zu den Ungläubigen, deren Werte abgelehnt werden, weil sie nicht dem Islam entsprechen? Irgendwie läuft da doch im Islam falsch, wenn Muslime sich gegenseitig umbringen wollen. Und das doch nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in Afrika, in Asien, überall dort, wo Muslime sich in der Mehrheit befinden. Soll hier in Europa auch ein Muslimisches Gebiet entstehen, das sich dann auch dort zurück entwickelt, wie man es aus überwiegend muslimischen Ländern kennt?
11.01.16
0:55