Das Jüdisch-Islamische Forum des Jüdischen Museums Berlin hatte vergangene Woche zur Ringvorlesung „Judentum und Islam in der Diaspora“ eingeladen. Ozan Keskinkılıç hat für IslamiQ die Höhepunkte der Veranstaltung zusammengefasst.
Wie wird man Jude? Wie wird man Muslim? Warum konvertieren weiße Deutsche und wie gestaltet sich ihre Beziehung zu jüdischen und muslimischen Gemeinden? Diese Fragen stellte das Jüdisch-Islamische Forum vergangene Woche in der Akademie des Jüdischen Museums Berlin. Tobias Jona Simon, Rabbiner des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, und Esra Özyürek, Professorin für Türkeistudien am European Institute der London School of Economics, diskutierten über die Konversion zum Judentum und Islam in Deutschland. An diesem Abend traf die Disziplin der Theologie auf den Geist der Critical Race Theory. Was mit Abraham begann, endete mit einer spannenden Diskussion über die komplexe Beziehung von Religion, Konversion und Rassismus in Europa.
Alles begann mit einer Beschneidung, so jedenfalls im Vortrag des Rabbiners Tobias Jona Simon. Mit diesem Ritual habe Abraham den Bund mit Gott besiegelt. Gemeinsam mit der Moabiterin Rut, der ersten Konvertitin in der Geschichte des Judentums, legte er das Fundament für den Übertritt zum jüdischen Glauben. Heute gehen in Deutschland ca. 60 bis 100 Menschen im Jahr diesen Weg, schätzt Simon. Darunter sammeln sich Menschen, die nicht das Privileg einer jüdischen Mutter genießen. Das trifft auch auf jene zu, deren Väter Juden sind. Die „nur patrilinearen“ Juden könnten, laut Simon, offiziell übertreten. Für viele unter ihnen sei das oft unverständlich. „Sie fragen sich, warum soll ich konvertieren, wenn mein Vater Jude ist und ich in der Sowjetunion Diskriminierung erfahren habe. Sie sehen sich als Juden.“ Um von der jüdischen Gemeinde in Deutschland hingegen als Jüdinnen und Juden anerkannt zu werden und ihren Status zu bestätigen, brauche es einen Übertritt.
Interessierte sollten deshalb folgende Schritte berücksichtigen: Erstens, Sie melden sich beim Rabbiner der Gemeinde und überzeugen ihn, von der Ernsthaftigkeit ihrer Entscheidung. Zweitens, Sie werden als Kandidat*in für den Übertritt aufgenommen und nehmen am religiösen Unterricht teil. Dieser kann abhängig von den Anforderungen des Rabbiners einige Monate bis hin zu vielen Jahren dauern. Drittens, Sie leben nach den jüdischen Gesetzen, nehmen am Leben der Gemeinde teil und besuchen regelmäßig den Gottesdienst. Dann können Sie sich für die Prüfung vor dem Rabbinatsgericht anmelden. Viertens, nach erfolgreicher Prüfung tauchen Sie in die Mikwe ein und sind jüdisch. Um die Transformation abzuschließen, können Sie einen hebräischen Namen wählen. Ben Abraham scheint eine gute Wahl zu sein, denn mit ihm hat alles begonnen.
Wem das zu viel Arbeit ist, findet in der islamischen Religion eine Last-Minute-Intensiv-Metamorphose. Sie brauchen lediglich das muslimische Glaubensbekenntnis auf Arabisch aufsagen. Sie bezeugen, dass es nur einen Gott gibt und dass Muhammad sein Prophet ist. Dann sind Sie Teil der großen Umma. In Deutschland sind es inzwischen mehr als 100 000 Konvertit*innen, schätzt Prof. Esra Özyürek. Die Wissenschaftlerin nähert sich dem Thema der Konversion von einer etwas anderen Perspektive. In ihrem Buch „Being German, Becoming Muslim: Race, Religion and Conversion in the New Europe“ (2014) beschäftigt sie sich mit der Konversion weißer Deutscher zum Islam. Viele Konvertit*innen haben, so Özyürek, durch die direkte Nähe zu Muslim*innen zum Glauben gefunden. Die einen machten sich Freunde unter iranischen Revolutionären, andere verliebten sich. Wieder andere verband der Griff zur Zigarette an der frischen Luft. In ihrer Forschung stellte die Professorin unter „Neu-Muslimen“ eine ausgeprägte Faszination vom Islam fest, die jedoch vom familiären und persönlichen Umfeld oft belächelt wurde. Besonders Konvertitinnen machten erste Diskriminierungserfahrungen mit dem Kopftuch.
Gleichzeitig bemerkte Özyürek selbst unter Konvertierten starke Ablehnungshaltungen gegenüber Immigrant*innen und „geborenen“ Muslim*innen. „Viele lieben den Islam, aber sie tun sich schwer damit, Immigrant*innen in Deutschland zu lieben.“ In einem gesellschaftlichen Kontext, in dem Deutschsein und Muslimsein als Widersprüche gesehen werden, würden einige Konvertit*innen ihr deutsches Muslimsein vehement verteidigen, indem sie Islam von Ethnizität trennen. Paradoxerweise reproduzieren sie darin rassistisches Denken und die Idee einer fremden, nicht dazugehörigen Kultur auf deutschem Boden. Sie versuchen den Islam von stigmatisierten Traditionen und ethnischen Zugehörigkeiten zu trennen und zu „reinigen“.
In diesen Abspaltungsmomenten erkennt die Soziologin eurozentrische Vorstellungen von Aufklärung und Rationalität, die als deutsche und europäische Eigenschaften einem vermeintlich irrationalen und primitiven „Orient“ entgegengehalten werden. Bilder eines aggressiven und unzivilisierten „islamischen Kulturkreises“ entfremde weiße Muslim*innen von ihrer Wahlgemeinschaft. Mit dem Defizit der Anderen wollen sie nichts zu tun haben. Özyüreks Interviewpartner*innen plädierten für einen deutschen, aufgeklärten Islam, der dem „orientalischen“ Islam überlegen sei. Das klinge dann beispielsweise so: „Wenn wir nur alle Türken zurück in die Türkei schicken könnten, dann könnte der reine Islam in Deutschland wachsen“, zitiert Özyürek aus einem Gespräch mit einem Konvertiten. Dahinter steckt ein klassischer Dualismus zwischen Deutsch und Nicht-Deutsch, der vermeintlichen Türk*innen und Araber*innen Zugehörigkeit und Rechte aberkennt, sie entlang ihres Aussehens, ihres Namens, ihrer zugeschriebenen Kultur und angenommenen Herkunft in den „Orient“ verbannt.
Doch wie verhält es sich mit weißen deutschen Konvertit*innen im Judentum? Was passiert, wenn Angehörige der Mehrheitsgesellschaft plötzlich in die Minderheit konvertieren? Welche Konfliktlinien ergeben sich hier in jüdischen Gemeinden? Rabbiner Simon gesteht, diese Frage habe er sich bis jetzt noch nicht gestellt. Ein junger Rabbinerstudent des Abraham-Geiger-Kollegs in Potsdam hakt jedoch nach. „Was, wenn Menschen zum Judentum konvertieren wollen, und wir wissen ganz genau, wer sie sind und woher sie kommen?“ Ihn beschäftigt die nationalsozialistische Vergangenheit und Biographie potentieller Konvertit*innen. Während also die eine Seite auf eine lange Geschichte des Jüdischseins in der Diaspora zurückblickt und ihre Identität von kollektiven Erinnerungen an Verfolgung, Diskriminierung und der Erfahrung der Schoah getragen ist, wechseln weiße Deutsche aus sozialen und biographischen Täterpositionen in den Status einer Minderheit. Tatsächlich gebe es Fälle, in denen weiße Deutsche aus Schuldgefühlen zum Judentum konvertieren wollen, sagt Simon. Das sei aber kein guter Grund, Jude werden zu wollen.
Wer an diesem Abend eine spirituelle Offenbarung erwartete und sich auf tanzende Derwische freute, wurde enttäuscht. Und das ist auch gut so. Denn der Übertritt zum Judentum und Islam ist weit komplexer als theologische Abhandlungen über Speisevorschriften oder rituelle Glaubenspraktiken in der Diaspora.