Die Gründung einer islamischen Wohlfahrtspflege wird erwartet. Jetzt bildete sich zu ihrer Unterstützung das „Netzwerk muslimischer Sozialarbeiter und Sozialpädagogen“ (NEMUS). Im Interview mit IslamiQ beantwortet Gründungsmitglied und Sozialpädagoge Samy Charchira die wichtigsten Fragen zur aufkommenden islamischen Wohlfahrtspflege in Deutschland.
IslamiQ: Warum ist ein islamischer Wohlfahrtsverband so wichtig für die Muslime in Deutschland?
Samy Charchira: Ein fundamentales Prinzip der Freien Wohlfahrtspflege ist die Gewährleistung der individuellen Wahlfreiheit in der Nutzung sozialer Dienstleistungen, egal ob es sich dabei um einen Kindergartenplatz, eine Familienbetreuung, eine stationäre Pflegeeinrichtung oder sonstige soziale Dienstleistungen handelt. Unsere Sozialstaatlichkeit sichert den Menschen stets zu, sich frei für adäquate Angebote sozialer Versorgung entscheiden zu können. Doch gerade diese Angebote sind unzureichend und teilweise gar nicht vorhanden. Das schränkt die Wahlfreiheit muslimischer Bürger erheblich ein und tangiert ihre gesellschaftliche und soziale Teilhabe. Auch im Hinblick auf die gestiegene Zahl von neu zugewanderten Muslimen wird sich diese Situation verschärfen. Ein akuter Handlungsbedarf bleibt bestehen.
IslamiQ: Reicht die soziale Arbeit der muslimischen Gemeinden denn nicht aus?
Charchira: Muslimische Institutionen und Verbände können bei der Erbringung ihrer sozialen Dienstleistungen an ihre Grenzen kommen, weil sich ihre Arbeit hauptsächlich auf Ehrenämter stützt. Dies genügt nicht mehr! Zwar können muslimische Träger bei aktuellen und künftigen sozialen Versorgungssituationen eine entscheidende Rolle spielen, doch lässt sich dies nicht mehr – wie in den letzten 50 Jahren – ausschließlich mit Spendenmitteln und ehrenamtlichem Engagement bewältigen. Die Etablierung einer Freien Islamischen Wohlfahrtspflege hat daher zunächst die Aufgabe, die bestehenden Strukturen islamischer Wohlfahrtspflege in das professionelle Netz der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland zu integrieren. Selbstverständlich müssen schon heute die Weichen gestellt werden, um auf künftige Bedarfe und gesellschaftliche Herausforderungen adäquat reagieren zu können.
Die perspektivische Gründung eines islamischen Wohlfahrtsverbandes ist nicht als ein Projekt von Muslimen in Deutschland zu begreifen. Vielmehr ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe mit klarer Zielsetzung und der Etablierung einer komplettierenden professionellen Angebotsstruktur, die unsere Sozialstaatlichkeit stützt, sich an alle Menschen in unserer Gesellschaft richtet, die Qualität unserer sozialen Systeme sichert und die gesellschaftliche Solidarität fördert.
IslamiQ: Inwieweit hat die Deutsche Islam Konferenz die Diskussion und das Vorhaben der islamischen Wohlfahrtspflege gefördert? Welche Erfolge konnten durch die DIK bisher erzielt werden?
Charchira: Die Deutsche Islam Konferenz hat in ihrer aktuellen Legislaturperiode das Thema „Islamische Wohlfahrtspflege“ zum Schwerpunkt gemacht. Damit hat sie einen der wichtigsten Themenbereiche für muslimisches Leben in Deutschland aufgegriffen und für einen breiten und ergiebigen Dialog zwischen allen relevanten Akteuren gesorgt. Insbesondere die Kooperation zwischen staatlichen Stellen, muslimischen Gemeinden und Dachverbänden ist sehr konstruktiv. Die Annäherung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege an die islamischen Dachverbände mündet schon heute in konkrete Projekte und Kooperationen zum Wohle der Menschen in unserer Gesellschaft. Die Fokussierung auf die Bereiche Kinder- und Jugendhilfe sowie Altenhilfe erwies sich als sehr richtig.
Schon heute verzeichnen wir eine gestiegene Dynamik muslimischer Träger bei den Bemühungen der Partizipation an Regelstrukturen und Refinanzierungsmodellen. Ebenso wurden im Rahmen der Deutschen Islam Konferenz eine Reihe von Studien, Erhebungen und Handlungsempfehlungen erarbeitet und verabschiedet, die für den Ausbau und die Qualitätssicherung von sozialen Dienstleistungen der muslimischen Träger von großer Bedeutung sind.
Nun gilt es, diese wertvolle Vorarbeit in den kommunalen Raum überzuleiten. Professionelle Wohlfahrtspflege stützt sich primär auf ein breites Engagement in den Städten und Kommunen. Dort muss sich islamische Wohlfahrtspflege verstärkt verorten und institutionalisieren. Mit der Gründung der „Arbeitsgemeinschaft Islamischer Wohlfahrtspflege“ wurde hier ein wichtiger Schritt getan. Aber auch die Kommunen und die kommunalen Spitzenverbände sind hier gefragt, Zugangsbarrieren für muslimische Träger abzubauen und sie als gleichberechtigte Partner und Akteure in der Praxis anzuerkennen.
IslamiQ: Was steht der Gründung eines islamischen Wohlfahrtsverbandes noch im Weg?
Charchira: Die größte Herausforderung besteht im Augenblick darin, die bestehen Angebote islamischer Wohlfahrtspflege mit dem refinanzierten Netz der Wohlfahrtspflege in Deutschland zu verknüpfen und somit ihr regelmäßiges Erbringen nachhaltig zu sichern. Alleine dies erfordert eine konzeptionelle Justierung und Restrukturierung der bestehenden Angebote. Genau so wichtig ist es aber auch, dass diese Angebote auch tatsächlich in die sozialen Versorgungsstrukturen, wie etwa die kommunalen Jugendhilfeplanungen, Eingang finden. Hier waren muslimische Träger in der Vergangenheit mit einer Reihe von Zugangsbarrieren und Misstrauen konfrontiert. Das muss sich ändern.
Aber auch die muslimischen Träger stehen vor großen Herausforderungen. Der konstruktive Dialog im Rahmen der Deutschen Islam Konferenz hat Bewusstsein und Sensibilisierung für die Notwendigkeit einer islamischen Wohlfahrtspflege in Deutschland geschaffen. Nun gilt es, diesen Dialog in den kommunalen Raum zu tragen. Für islamische Dachverbände bleibt ein stärkeres Engagement in den Kommunen unabdingbar. Dadurch dezentralisiert sich auch der Diskurs zur Etablierung einer islamischen Wohlfahrtspflege und fördert sie ungemein. Den islamischen Gemeinschaften kommen jedoch dadurch nicht weniger Aufgaben zu – im Gegenteil – sie bleiben weiterhin gefragt, pädagogische Expertisen und praxisorientierte Konzeptionen zu akkumulieren und zu transferieren, Fachberatung anzubieten, Vernetzungsarbeit zu organisieren und Interessenvertretung zu gewährleisten – also klassische Aufgaben eines Wohlfahrtsverbandes anzubieten. Aus dieser Struktur müssen dann regionale und überregionale Organisationsformen erwachsen, die dann perspektivisch in einen muslimischen Spitzenverband der Wohlfahrtspflege münden können.
Ebenso wichtig bleibt die Frage, wie sich die Vielfalt des Islams in einem islamischen Wohlfahrtsverband integrieren lässt. Hier müssen neue kreative und praktikable Lösungen erarbeitet werden. Eins sei gewiss: Die bloße Übertragung der aktuellen islamischen Verbandsstrukturen in die Wohlfahrtspflege wird keine Abhilfe schaffen. Hier bleibt der wohlfahrtspflegerische Grundsatz des „Bedarfs“ und der „Bedarfsdeckung“ entscheidend für die Organisationsentwicklung. Jedem Träger könnte dann DIE Bedeutung zukommen, die mit seiner eigenen Angebotsstruktur korrespondiert.
IslamiQ: Wie beurteilen die bestehenden nichtmuslimischen Wohlfahrtsverbände die Gründung eines islamischen Wohlfahrtsverbandes? Ließe sich ein islamischer Wohlfahrtsverband in die bisherige Verbandslandschaft in Deutschland eingliedern?
Charchira: Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) hat mehrfach bekräftigt, dass ihrerseits eine große Bereitschaft besteht, die muslimischen Träger beim Aufbau und Betrieb islamischer Wohlfahrtsstrukturen partnerschaftlich und auf Augenhöhe zu unterstützen. Insbesondere im Bereich des Knowhowtransfers können hier tatsächlich viele Synergien geschaffen werden.
Die Gründung eines islamischen Wohlfahrtsverbandes korrespondiert durchaus mit dem Verständnis von Freier Wohlfahrtspflege und lässt sich ohne weiteres mit dem Grundsatz der Sozialstaatlichkeit in Einklang bringen. Mittelfristig könnte sich ein islamischer Wohlfahrtsverband als jüngstes Mitglied einer organisierten Wohlfahrtspflege in Deutschland etablieren. Gerade im Hinblick auf aktuelle und künftige gesellschaftliche Herausforderungen wäre dies sicherlich für uns alle von Nutzen.
IslamiQ: Inwiefern wird das neu gegründete Gremium NEMUS das Zustandekommen einer freien islamischen Wohlfahrtspflege beeinflussen?
Charchira: Zur Implementierung einer professionellen islamischen Wohlfahrtspflege müssen die jeweiligen Träger ihre Arbeit auf wissenschaftliche Grundlagen sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Handelns stellen und im Spannungsfeld zwischen sozialstaatlicher Intervention und einer subsidiarisch geregelten Wohlfahrtsarbeit agieren. Sie brauchen deutlich bessere Strukturen in ihren sozialräumlichen Verortungen und ausgebildete Fachkräfte im Haupt-, Neben- und Ehrenamt. Im Zentrum dieser Prozesse stehen Sozialarbeiter und Sozialpädagogen. Sie können der notwendigen Qualifizierungsoffensive Unterstützen, den Knowhowtransfer gestalten und die geforderten Qualitätsstandards einführen. Das Netzwerk NEMUS kann hier helfen die notwendigen Expertisen zur Verfügung zustellen, Qualifizierung und Fortbildung organisieren und ded Implementierungsprozess insgesamt beratend und begleitend unterstützen.
IslamiQ: Welche nächsten Schritte sind geplant bzw. notwendig, um das Vorhaben einer islamischen Wohlfahrtspflege zu realisieren?
Charchira: Aus meiner Sicht müsste der nächste Schritt darin bestehen, die gegründete Arbeitsgemeinschaft islamischer Wohlfahrtspflege zu institutionalisieren und sie mit den Strukturen der etablierten Wohlfahrtspflege in Bund, Land und Kommune zu vernetzen. Im Zuge dieses Prozesses können die Ressourcen akquiriert werden, die notwendig sind, um den Sprung von Konsumenten zu Akteuren der Wohlfahrtspflege zu schaffen.
Mehr noch: Auf diesem Wege kann es gar möglich sein, dass sich auf kommunaler Ebene verbandsübergreifende lokale Träger bilden, die sich als professionelle Träger sozialer Arbeit etablieren können und somit DIE Struktur schaffen, auf die sich ein islamischer Wohlfahrtsverband später stützen kann.
Der erforderliche strukturelle, konzeptionelle und methodische Transformationsprozess muslimischer Träger wurde in der Vergangenheit ausreichend skizziert. Nun muss dieser endlich umgesetzt werden. Erste Coachings- und Qualifizierungsprogramme laufen bereits in Nordrhein-Westfalen. Davon muss es jetzt noch mehr geben, damit das Vorhaben gelingen kann.