Die islamischen Gemeinschaften in Deutschland haben unterschiedliche Herkunftsländer, Sprachen und Rechtsschulen. Wie ein innermuslimischer Dialog trotzdem funktionieren kann, erklärt Celil Yalınkılıç, Vorsitzender der Irschadabteilung der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG).
IslamiQ: Worauf muss man als Muslim beim Dialog mit Menschen anderer Religionen und Rechtsschulen achten?
Celil Yalınkılıç: Ausgehend von den Beispielen in Koran und Sunna muss erst einmal festgehalten werden, dass die Frage des Ob positiv zu beantworten ist. Wichtiger ist die Frage des Wie. Daher muss erst besprochen werden, mit wem welches Thema auf welcher Grundlage behandelt werden kann. Es muss also der Gesprächsrahmen abgesteckt werden. Der Maßstab dabei ist die Förderung des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit bzw. die Absage an alles Schlechte.
Ein Beispiel hierfür ist, dass unser Prophet noch vor seiner Prophetenschaft ein aktives Mitglied des „Hilf al-Fudûl“ war. Das war ein Bund, der in Mekka gegründet wurde und unter der Führung einiger gewissenhafter Polytheisten gegen die Ausbeutung der Schwachen kämpfte. Als der Prophet Jahre später in Medina daran erinnert wurde, sagte er: „Wenn heute solch ein Bund notwendig wäre, würde ich wieder hingehen und mich beteiligen“. Damit unterstreicht der Prophet die Bedeutung der interreligiösen Zusammenarbeit gegen das Unrecht und für das Wohl der
Menschen.
IslamiQ: Wo liegt die Grenze des gemeinsamen Handelns?
Yalınkılıç: Die Kooperation mit Angehörigen anderer Religionen hört dort auf, wo sie Gottesdienste und Glaubensgrundsätze berührt. Die interreligiöse Zusammenarbeit darf nicht zum Ziel haben, bestimmte Religionsverständnisse zu unterstützen oder tragende Grundkonzepte neu zu interpretieren. Manchmal beobachten wir auch, dass zur Unterstützung der interreligiösen Zusammenarbeit Gemeinsamkeiten zwischen Religionen, wie dem Islam und dem Christentum, hergestellt werden, die kaum belastbar sind. Ganz ausgeschlossen sind Bemühungen, die nach einem wie auch immer gearteten gemeinsamen Glaubensbekenntnisses suchen.
IslamiQ: Heißt denn Kooperation automatisch Anpassung bzw. Annäherung?
Yalınkılıç: Nicht notwendigerweise. Wenn es ein Problem gibt, das nur gemeinsam gelöst werden kann, ist das nicht gleich Anpassung. Insbesondere in Europa haben wir viele gemeinsame Probleme, die nicht nur eine bestimmte Gruppe, sondern die ganze Gesellschaft bedrohen. Man denke nur an Drogenhandel, Kindesmissbrauch, Prostitution, Alkoholmissbrauch etc. Gegen solche Gefahren müssen Muslime mit Angehörigen anderer Religionen und auch mit Atheisten zusammenarbeiten. Für Muslime ist hier der Vers „Helft einander zur Rechtschaffenheit und Gottesfurcht und nicht zur Sünde und Feindschaft“ maßgebend.
IslamiQ: Welche Rolle spielen Thema und Ort der interreligiösen Zusammenarbeit? Ist zum Beispiel ein gemeinsames Vorgehen von Muslimen und Juden gegen Diskriminierung denkbar, wenn es andernorts Konflikte zwischen diesen Gemeinschaften gibt?
Yalınkılıç: Prinzipiell sollte das kein Hindernis sein, aber die Realität ist anders. Gegen das Unrecht sensibilisiert zu sein, das einem Muslim oder dem Angehörigen eines anderen Glaubens irgendwo auf der Welt widerfährt, und darauf zu reagieren liegt in der Natur des Menschen. Jeder gewissenhafte Mensch wird darauf in angemessenem Maße reagieren – und sollte das auch tun. Aber die Reaktion darf nicht zu einem unkontrollierten Handeln führen, der Verstand, Gewissen und Glauben ausblendet und uns blind macht. Die verständliche Reaktion auf internationale Ereignisse darf niemals Anlass für Vorurteile gegen unsere Nachbarn, Schulkameraden oder Arbeitskollegen sein. Unsere Reaktion muss sich gegen jene richten, die das Unrecht begangen haben.
Kurz: Wenn ein lokales Problem nach Europa getragen wird und die Verantwortlichen hier gesucht werden, wird die Zusammenarbeit für das Gemeinwohl erschwert. Das kann nicht der richtige Weg sein.
IslamiQ: Man hat manchmal den Eindruck, dass der interreligiöser Dialog einfacher ist, als der innerislamische. Wie ist Ihre Beobachtung?
Yalınkılıç : Offen gesagt sehe ich das nicht so. Die innermuslimische Zusammenarbeit in Europa wird seit Jahren ungebrochen fortgesetzt. Als Muslime finden wir viel einfacher zusammen. Es gibt so viele Gründe, die uns zusammenführen. Meinungsverschiedenheiten machen nicht mal einen Bruchteil davon aus.
Natürlich gibt es auch strittige Themen. Aber in erster Linie sind wir Glaubensgeschwister und ein jeder von uns ist Teil der Umma. Unterschiede in den Rechtsschulen sind normal, dürfen uns aber nicht spalten. Unsere Devise sollte sein, Gemeinsamkeiten zu fördern und Meinungsunterschiede auszuhalten.
IslamiQ: Sunniten und Schiiten folgen nicht nur verschiedenen Rechtschulen, sondern unterscheiden sich auch historisch und politisch. Welche Vor- und Nachteile hat eine Zusammenarbeit trotz dieser Differenzen?
Yalınkılıç: Die Differenzen sind unübersehbar. Doch die historischen Konflikte, die Teil der gemeinsamen Geschichte der Muslime sind, sollten nicht in unsere Zeit übertragen werden. Die Ableitung von Glaubensgrundlagen aus diesen Konflikten hilft den Muslimen kein bisschen bei der Lösung ihrer gegenwärtigen Probleme. Die historisch-politischen Rivalitäten gehören nicht auf unsere Agenda. Genauso obliegt es uns nicht, diese Differenzen zu beseitigen. Wichtig ist nur, dass diese Differenzen zu keiner Spaltung unter den Muslimen führen.
Als Minderheiten in Europa haben Sunniten und Schiiten dieselben Probleme: Sie sind besorgt um ihre religiösen und kulturellen Werte und möchten ihre muslimische Identität bewahren. Daher sollte unsere Zusammenarbeit lösungsorientiert sein.
Eines muss Sunniten und Schiiten klar sein: Nur mit vereinten Kräften können wir unsere Probleme hier in Europa überwinden. Es wird weder vom Iran noch von sonst woher jemand kommen und diese für uns lösen. Deshalb ist es notwendig, unter einem Dach und im Dialog mit Politikern und zivilen Akteuren zusammenzuarbeiten. Sunnitisch-schiitische Plattformen nehmen Muslimen nichts, bringen ihnen aber sehr viel. Dass sunnitische und schiitische Gemeinden in Europa in der Lage sind, gemeinsam auf ein Ziel hinzuarbeiten, sollte ein Vorbild für den konfliktreichen Mittleren Osten, den Irak und andere Regionen sein.
IslamiQ: Die spanische Regierung möchte den Religionsunterricht abschaffen. Dagegen protestieren katholische, jüdische und muslimische Gemeinden gemeinsam. In Schleswig-Holstein setzen sich Christen, Muslime und Juden gemeinsam dafür ein, dass der Begriff „Gott“ in die Verfassung aufgenommen wird. Es scheint, als könnte der Säkularismus und die damit einhergehende Verdrängung des Religiösen aus dem öffentlichen Leben Angehörige unterschiedlicher Religionen zusammenbringen. Was denken Sie?
Yalınkılıç: Der Säkularismus hat religiöse Werte und Konzepte aushöhlt. Er ist für religiöse Menschen ein großes Handikap. Manche beschreiben den Säkularismus sogar als eine Art moderne Religion. Für uns steht fest: Die Menschheit entfernt sich immer weiter von der Religion und sieht die Religion als ein materielles Gut an. Wie kann man gemeinsam dagegen vorgehen? Indem freie Möglichkeiten geschaffen werden, in denen sich Religionen auf Augenhöhe begegnen und sich erklären können.
Das Interview führte Elif Zehra Kandemir.