Kommentar

Europas neue alte Angst vor der muslimischen Samenkanone

Seitdem in der Kölner Silvesternacht nordafrikanische Migranten massenhaft Frauen belästigten, hat das Bild vom sexuelle enthemmten Muslim in deutschen Medien wieder Hochkonjunktur. Doch neu ist es nicht.

09
04
2016
Einer gegen alle? © evangelisches Schuldekanat auf flickr, bearbeitet by IslamiQ.

Plumper hätte man das Klischee vom muslimischen Mann nicht abbilden können: Auf dem Cover einer der auflagenstärksten Zeitschriften Polens steht eine blonde schreiende Frau, eingewickelt in die blaue Fahne der Euopäischen Union. Vom Bildrand greifen Männerhände nach ihr. Im Kontrast zur Frau sind sie dunkel und behaart. Und für all jene, die die wenig subtile Botschaft immer noch nicht verstanden haben, steht diese noch einmal in großen Lettern auf dem Cover: „Die islamische Vergewaltigung Europas.“

Knapp zwei Monate ist es her, als in der Silvesternacht vor dem Kölner Hauptbahnhof vorwiegend nordafrikanische Migranten dutzende, vielleicht hunderte Frauen sexuell belästigten. Das Bild vom sexuell enthemmten muslimischen Mannes ist in deutschen Medien seitdem so präsent wie selten zuvor. Stereotype, die bisher allenfalls in rechtspopulistischen Nischenpostillen offen zelebriert wurden, finden Einzug in die Mainstream-Medien: Auf dem Cover des drittgrößten Nachrichtenmagazins FOCUS prangen schwarzen Handabdrücke auf einem weißen Frauenkörper. Noch immer diskutieren täglich Kolumnisten in den größten Tageszeitungen des Landes über die sexuellen Spezifika der fremden Gattung „Muslim“, sezieren Kommentatoren die vermeintlich triebhafte Seele des Typus „Migrant“; zeigen sich Politiker entsetzt darüber, wie man nur so viele Flüchtlinge ins Land lassen konnte, als habe man den Ausbruch einer tödlichen Epidemie nicht rechtzeitig bekämpft.

Das Bild vom unzivilisierten Muslim ist älter als der Islam

Neu ist das alles nicht. Das Bild vom unkultivierten, zivilisationslosen und triebgesteuerten muslimischen Mann gibt es schon länger als es überhaupt muslimische Männer gibt. In der Bibel verstößt Abraham seinen gottlosen und von einer Sklavin abstammenden Sohn Ismail. Es ist der Gründungsmoment des westlich-christlichen Gefühls zivilisatorischer Überlegenheit. Als die muslimischen Osmanen im 15. Jahrhundert Konstantinopel einnehmen, gelten diese in Europa als Rächer Ismails. Das Bild des aggressiven muslimischen Eroberers, der seine Religion nur mit dem Schwert verbreiten kann, verfestigt sich schließlich im 18. Jahrhundert. Ganz ohne islamisches Zutun entsteht es in den Büchern britischer Historiker als Analogie zu den christlichen Eroberungen in der neuen Welt, die den Unterworfenen oft nur die Wahl ließen zwischen Auswanderung, Zwangsmissionierung und Tod lassen.

Gleichzeitig entsteht das romantisierte und exotisierte Klischee einer zivilisationslosen islamischen Welt. „Der Islam“ wird zur Projektionsfläche von unbefriedigten christlichen Sehnsüchten: Der muslimische Mann als lustvoller, ständig potenter Dauerstecher, der sich einen lebenlang durch die Harems der arabischen Halbinsel vögelt, stets aber Gefangener seiner Triebe bleiben wird. Der Urvater des deutschen Orientalismus Ernest Renan erklärte 1883 die „Semiten seien zu wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen unfähig“. Es ist das gleiche Klischee, das Samuel Huntington 200 Jahre später für sein berühmtberüchtigten Werk „Clash of Zivilisations“ bemühen wird.

Die Türken wollen Deutschland mit der Samenkanone islamisieren

Den Tiefpunkt erfährt dieses Motiv im westlichen Mohammed-Bild: Der dauervergewaltigende „Kinderschänder“, dessen Prophezeiungen im epileptischen Wahn entstanden seien, ist ein Konstrukt der vatikanischen Propaganda des achten Jahrhunderts. Noch heute wird es von Rechtspopulisten ebenso wie von der bekannteste Frauenrechtler Deutschlands, Alice Schwarzer, aufgegriffen. Von „Macho-Männern“, die „die Frauen ohnehin eine untergeordnete Rolle zuweisen und allein reisende Frauen als Freiwild behandeln“, sprach sie nach der Silversternacht in Köln. Die Türken wollten Deutschland mit der „Samenkanone“ islamisieren, heißt das in den Worten des Chefs der Neonazi-Partei NPD, Udo Voigt. „Schützt unsere Kinder und Frauen vor den Fremden“ lautet die Variante jener Deutschen, die jede Woche meist in irgendeinem ostdeutschen Dorf mit Fackeln gegen ihre neuen Nachbarn demonstrieren.
Auch in der deutschen Philosophie, zum Beispiel bei Hegel und Machiavelli, findet sich das Motiv des launisches, gesetzlosen, sexuell ausschweifenden islamischen Autokraten als Gegenstück zum rationalen guten Fürsten. Westlicher Demokrat versus islamischer Diktator. Heute wird dieses Bild nicht nur durch politische Rhetorik am Leben gehalten, sondern auch durch Hollywood. In dessen Filmen schaffen es allenfalls Außerirdische dem fanatischen arabischen Terroristen den Rang als gleichermaßen geistig beschränkten Superbösewicht streitig zu machen, der stets nur einen weißen gut aussehenden Helden davon entfernt steht, die „zivilisierte Welt“ zu vernichten.

In Talkshows erklären „Islamexperten“ Muslimen ihre Religion

Doch nicht einmal „True Lies“, „Raiders of the Lost Ark“, „Rules of Engagement“ und „American Sniper“ zusammen haben das Bild des muslimischen Mannes so stark geprägt wie die Abenteuerromane Karl Mays. Zumindest im deutschen Sprachraum. Hundertmillionfach wurden seine Orient-Geschichten seit dem 19. Jahrhundert gelesen. Nirgends wird so gut deutlich, was der deutsche Kleinbürger über den „Orient“ zu wissen meint wie in Karl Mays Orient-Zyklus. Der Held seiner Abenteuer: Kara Ben Nemsi, ein gut gebildeter, kultivierter und argumentativ unschlagbarer Christ, der seinem Gegenspieler Hadschi Halef Omar – einem einfältigen lasterhaften Türken – nicht nur die Welt, sondern auch den Koran erklärt.

Es ist dieselbe Rollenverteilung, wie sie auch heute noch wöchentlich in Talkshows zu beobachten ist, in denen deutsche „Islamexperten“ Muslimen erklären, was es mit ihrer Religion eigentlich auf sich hat. Oder, warum die Übergriffe von Köln quasi schon im Islam angelegt seien, der „muslimische Mann“ kaum anders könne als Frauen zu vergewaltigen und nur eine strikte Einwanderungspolitik solche Übergriffe verhindern könnte. Die besonnen Stimmen, die fragen, wohin diese Stimmungsmache führe könne, gehen da meist unter. Eine Antwort könnte eingangs erwähntes Magazincover geben. Auch sein Motiv hat Tradition in Europa. In den 1930ern prangte es von Wahlplakaten der NSDAP.

Leserkommentare

Andreas sagt:
Mir ist kein Fall in Deutschland bekannt, bei dem eine Frau gesteinigt worden wäre, weil sie Sex außerhalb der Ehe hatte. Auch gibt es mehr muslimische Länder, in denen diese Art der Strafe nicht angewandt wird, als es Länder gibt, in denen dies der Fall ist. Sie sollten anderen Menschen zugestehen, dass sie eine andere Sicht auf die Sexualität haben, als Sie.
19.04.16
11:15
Manuel sagt:
@Andreas: Noch nicht, aber dennoch ist dies in der Scharia als Hadd-Strafe vorgesehen und in London gibt es schon einige Vierteln in denen die Scharia angewendet wird, danke aber solche Zustände brauche ich in Deutschland nicht. Außerdem gibt es auch keine wirkliche Distanzierung der Moslems hier von der Scharia mit ihren Hadd-Strafen, wo wird den die Scharia von den Islam-Verbänden verurteilt. Weiters kann es auch nicht sein, dass Moslems meinen ihre Kinder nicht in den Sexualkundeunterricht schicken zu müssen, weil ihnen nicht passt, was dort unterichtet wird.
20.04.16
11:33
Andreas sagt:
@Manuel: Jetzt verstehe ich Ihr Problem. Sie denken, dass es "die" Scharia gibt. Außerdem glauben Sie, dass die Scharia eine Art "Strafgesetzbuch" ist. Das ist aber nicht richtig. Strafrecht ist nur ein Teil der Scharia. Und da gibt es dann das, was im Koran steht und das, was von Muhammad gesagt wurde (Sunna). Diese Bestandteile sind unverrückbar. Hinzu kommt aber noch das, was durch Auslegung hinzugekommen ist. Dieser Teil ist veränderbar. Jedenfalls ist bei genauer Betrachtung unsinnig, von Muslimen zu erwarten, dass sie die Scharia verurteilen oder sich von ihr distanzieren. Man kann immer nur fragen, was genau jemand meint, wenn er von Scharia spricht.
20.04.16
14:40
Manuel sagt:
@Andreas: Was ist nun mit den Hadd-Strafen (Auspeitschen, Steinigen, Handabhacken,...), auch nicht veränderbar, wenn Sie sich schon so gut auskennen?
21.04.16
15:39
Andreas sagt:
@Manuel: Ich kenne mich keineswegs aus. Mein Wissen über die Scharia fällt weit hinter dem Ihren zurück.
22.04.16
11:14
Manuel sagt:
@Andreas. Ja kann man nun verlangen, dass die hier lebenden Moslems die Hadd-Strafen verurteilen oder nicht?
22.04.16
12:35
Norbert sagt:
@Manuel: Gar nichts kann man verlangen. Was sind übrigens Hadd-Strafen?
26.04.16
14:39
Manuel sagt:
@Norbert: Auspeitschen, Steinigen, usw.., das sind die Hadd-Strafen. Bei Unzucht sind z. B. 100 Peitschenhiebe vorgesehen, siehe Sure 24, Vers 2.
27.04.16
21:09
Johannes Disch sagt:
@Manuel Die sogenannten "Hadd-Strafen" sind an enge Voraussetzungen geknüpft, die so streng sind, dass sie früher im Islam kaum zur Anwendung kamen. Die Saudis würden klassischen Rechtsgelehrten früherer islamischer Epochen heute nicht bestehen. Sie verwenden ihr Verständnis der "Scharia" hauptsächlich als Macht-und Herrschaftsinstrument. Das Strafrecht ist nur ein kleiner Teil der "Scharia." Sie ist hauptsächlich Ehe-und Zivilrecht. "Andreas" hat ja bereits angedeutet, dass es "Die Scharia" nicht gibt. Die Scharia ist hauptsächlich sittliche Orientierung und kein ausgefeiltes Rechtssystem. Die Scharia ist kein kodifiziertes Recht. Wir können nicht in die Buchhandlung gehen und uns eine Ausgabe der Scharia kaufen, so wie wir das mit dem deutschen Strafgesetzpunkt können. Die Scharia besteht aus unzähligen Fallbeispielen, an denen sich islamische Rechtsgelehrte (= Fachbegriff: "Fiqh") orientieren und daraus ihre Schlüsse und ihre Urteile ziehen. Es ist also immer (menschliche) Interpretation. Und diese ist-- wie alles menschliche Tun-- nun mal auch fehlbar. lg Johannes Disch
30.04.16
20:29
Moritz sagt:
@Manuel: Zwei Verse weiter steht dann aber auch, dass Augenzeugen benannt werden müssen. Wer nimmt denn Leute mit, wenn er unzüchtig handeln will? Eine Bestrafung nach den Regeln der Scharia scheint also nahezu unmöglich zu sein, wenn sich am Koran ausgerichtet wird.
02.05.16
21:20
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