Die Debatten über den Islam reißen nicht ab. Mehr Gespräche scheinen allerdings nicht zu mehr Differenzierung zu führen. Wissenschaftler und Aktivisten beobachten jetzt sogar eine gegenteilige Entwicklung.
Eines macht Muhterem Aras deutlich: Über die Religion wolle sie nicht definiert werden. Ihre Wahl zur ersten muslimischen Landtagspräsidentin möchte sie stattdessen als Zeichen für die Weltoffenheit Baden-Württembergs sehen, wie die Grünen-Politikerin im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) am Dienstag erläuterte. Dennoch solle die Religion nicht im Vordergrund stehen. Ähnliches ist immer wieder zu hören, bei Wahlen ebenso wie der Vergabe von Filmpreisen: Wahre Gleichberechtigung sei erst dann erreicht, wenn nicht länger Hautfarbe, Geschlecht oder eben Religion zählten, sondern allein die Qualifikation.
Unterdessen beobachten Vertreter von Muslimen ebenso wie manche Wissenschaftler hierzulande eine gegenläufige Entwicklung: eine „Ethnisierung“ des Islam. So nennt es Kübra Gümüşay, Bloggerin und Aktivistin mit türkischen Wurzeln. „Menschen, die so aussehen, als könnten sie aus einem muslimisch geprägten Land stammen, werden oft wie Muslime behandelt“, erklärte sie kürzlich in einem Gastbeitrag auf ndr.de.
Jahrelang seien „die Türken“ oder „die Ausländer“ als „sexistisch, gewalttätig, ungebildet, demokratiefeindlich und rückständig“ angesehen worden, schreibt Gümüşay weiter. Neuerdings werde die Religion pauschal als Ursache für diese Missstände herangezogen.
Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland, schildert in seinem soeben erschienenen Buch denselben Automatismus. Islamfeindlichkeit richte sich nicht gegen praktizierende Muslime. Sie treffe vielmehr „jene, die aufgrund ihres Aussehens, ihres Herkunftslandes (oder dem ihrer Eltern) oder ihres Nachnamens als ‚Muslime‘ markiert werden.“ So könne es geschehen, dass ein amerikanischer Sikh aufgrund seines Turbans für einen Muslim gehalten und ausgegrenzt werde.
„Jeder, der Ali heißt, gilt als frommer, praktizierender, wenn nicht gar fanatischer Muslim“, sagt auch der Berliner Extremismusforscher Wolfgang Benz. Dass viele Muslime in Europa ebenso weltlich geprägt seien wie Katholiken und Protestanten werde „geflissentlich übersehen“, kritisierte er unlängst im Interview der KNA. Denn dies passe nichts ins Feindbild von Pegida, AfD und Co.: Deren gemeinsamer Nenner sei die Islamfeindlichkeit.
Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf geht noch einen Schritt weiter. Es habe sich gezeigt, dass für viele Muslime in Europa nicht der Glaube entscheidend für die Identität sei, schrieb er vor kurzem in der „Süddeutschen Zeitung“. Elemente wie die ethnische Herkunft, Berufsausbildung und soziale Stellung seien wichtiger. Und selbst wenn nicht: Auch gläubigen Menschen werde man nicht gerecht, wenn man ihnen über die Religion eine „gleiche kollektive Identität“ zuschreibe, mahnt Graf.
Kristallisiert habe sich genau diese Wahrnehmung in der Folge der Kölner Silvesternacht, erklärte Bloggerin Gümüşay vor kurzem auf der Webkonferenz republica. „Seit Jahrzehnten – ein eigentlich altes koloniales Bild – wird das Horrorszenario gezeichnet von den wilden, triebgesteuerten schwarzen oder muslimischen Männern, die über Deutschland herfallen, plündern und Frauen vergewaltigen.“ Durch die Übergriffe rund um den Hauptbahnhof der Domstadt fühlten sich manche Beobachter in diesen Klischees bestätigt und hätten sie rassistisch instrumentalisiert.
ZMD-Vertreter Mazyek formuliert es allgemeiner: Menschen, die islamfeindlich argumentierten, interessiere nicht, ob und wie der Einzelne glaube. Sie konstruierten vielmehr eine unabänderliche „Natur“ von Menschen, bestehend aus Nation, Etnie, Kultur und Religion – „was nichts anderes als eine rassistische Konzeption darstellt“. (KNA, iQ)