Im Ramadan sind Muslime, getragen von der Spiritualität des Fastenmonats, gepackt von der alljährlich gesegneten Atmosphäre. Inwiefern der Ramadan eine Erfahrung der eigenen Grenze ist und warum der Verzicht Reichtum bedeutet, erklärt Dr. Milad Karimi.
Der Monat, an dem die Muslime angehalten sind, in einer dezidierten Form, das Fasten zu begehen, ist mehr als bloß auf dieses und jenes Verzicht zu üben. Dieser neunte Monat im arabischen Mondkalender ist ein religiöser Topos. Vor allem mit der Herabsendung des Korans, jene erste Rührung der Offenbarung, die sich im Monat Ramadan ereignete, avanciert dieser Monat zu einer besonderen Vergegenwärtigung.
Das Fasten im Monat Ramadan lässt sich in kürzester Form als Unterbrechung beschreiben. Kein Stillstand, aber Stille. Das Alltägliche, der Stress, die Verstricktheit des Lebens mit seiner Umgebung, das Streben nach mehr und immer mehr, nach Fortschritt und Optimierung, das immerwährende Begehren, Konsum, üble Nachrede, kurz: zu leben, als würde man ewig leben, wird unterbrochen. Plötzlich ist alles anders, alles schlägt in sein Gegenteil um, der Verzicht findet nicht seine Realität dadurch, dass auf dieses oder jenes verzichtet wird, sondern im Grunde auf all das, was Leben generiert, mitten im Leben als Lebendige.
Ramadan ist ein Monat wie kein anderer, aber genau das soll er sein, ein Monat wie ein anderer. Der Monat dürfte sich nicht als Ausnahme im Jahr verstehen, sondern das ganze Jahr begleiten, im ganzen Leben gegenwärtig sein. Wenn die Fastenden im Monat Ramadan von einer einzigen Frage getragen wären, welche wäre sie? Fragen sind stets Wege, sie sind Aufgaben, Orientierungen, Erhellungen. Die Frage ist: Was hält mich in Wahrheit am Leben? Brot und Wasser sind es nicht, auch nicht alles Genussvolle, wonach wir sonst trachten. Nach welchem Glück, nach welchem Gut trachten wir zumeist im Leben? Worin besteht unsere Glückseligkeit? Was sind die Genüsse, die uns hier beflügeln, wonach wir streben? Was ist wert? Was hat Wert?
Wer sich im Islam beheimatet sieht, hadert mit sich selbst.
Muhammad al-Gazâlî (gest. 1111) erinnert an die Worte des ältesten Enkels des Propheten (Friede sei über ihn) in seiner Schrift Al-Mîzân al-Amal (Das Kriterium des Handelns), der sagte: „Die Genüsse des Diesseits beschränken sich auf die Speisen, die Getränke, das Sexuelle, die Kleider, die Wohnungen, die Düfte, die Töne und die sichtbaren Dinge. Von den Speisen ist der Honig die beste, obwohl er ein Produkt der Bienen ist. (…) Was die sexuellen Genüsse anbetrifft, so beziehen sie sich auf die Vereinigung von Organen, die dem Urinieren dienen. Es sollte dir als Beweis doch genügen, dass die Frau ihr Schönstes (das Gesicht) schminkt und man von ihr das Hässlichste will, (ihr Schoß). Der beste der Stoffe ist die Seide, obwohl sie das Produkt des Wurmes ist. Der beste unter den Düften ist Moschus, welcher dem Blut einer Ratte entnommen wird. (…) Die sichtbaren Dinge sind Schatten, die vergänglich sind“. Besteht nicht die Fragwürdigkeit solcher Glückszustände darin, dass man nach ihrer Erfüllung, wie al-Gazâlî sagte, von denen „sofort fliehen möchte“?
Das Fasten im Monat Ramadan versteht sich zugleich als eine subtile Kritik unserer Haltung zum Leben. Die Kritik bleibt nicht theoretisch, sondern Muslime vollziehen diese Kritik am eigenen Leib. Verschwendung, Hab- und Selbstsucht sind nur einige Begriffe, die hier im Mittelpunkt stehen. Wer sich im Islam beheimatet sieht, hadert mit sich selbst. Erschöpft sich die Lebensführung der Gläubigen im Hier und Jetzt, in der vergänglichen Welt, im Diesseits?
Doch damit wird das Leben hier und jetzt nicht entwertet, sondern gerade deshalb ins rechte Licht gerückt. Distanz zum Verwerflichen wird existentiell vollzogen, denn das Fasten und der Verzicht fungieren zugleich als korrektiv, so dass Muslime sich im Ramadan selbst näherkommen, sich ein Stück besser kennenlernen, zu sich selbst in Distanz gehen. Eine Einsicht, die einem sonst nur selten gewährt ist.
Der Prophet Muhammad (Friede sei über ihn), der die gesamte Erde mit einer Moschee verglich, ist Muslimen ein vorzügliches Vorbild, auch weil er den Blick verändert, die Haltung prägt, Demut lehrt, kurz: das Fasten im Monat Ramadan ist ein Sinnbild für den Islam überhaupt, in der Welt nicht in der Welt zu sein. Das Fasten scheint auf dem ersten Blick der Inbegriff einer negativen Freiheit zu sein, indem wir uns von allem entfesseln, frei sind von diesem und jenem, aber eigentümlicher Weise schlägt diese negative Freiheit in die positive Freiheit um, indem sich die Freiheit als Potenzial zum Guten, zum Wertvollen und zum Nachhaltigen offenbart. So lässt sich der Islam und im Konkreten das Fasten im Monat Ramadan als freiheitsstiftend begreifen, weil er die Unverfügbarkeit des Menschen bewahrt und stiftet, indem er die Erfahrung mit der eigenen Grenze in den Mittelpunkt rückt – in der lebendigen Hingabe vor Allah.