Grossbritannien nach dem Brexit

„Verpiss dich aus meinem Land!“

Seit dem Brexit-Votum kommt es in Großbritannien vermehrt zu Anfeindungen gegenüber Muslimen. Die junge Muslima Esmat Jeraj hat es am eigenen Leib erlebt.

11
07
2016
Brexit ©sam auf flickr, bearbeitet by IslamiQ.

Es sind die Tage nach dem Brexit-Votum. Esmat Jeraj läuft durch Whitechapel, einen Stadtteil im Osten Londons. Als Muslimin mit Kopftuch sticht die Britin in dem multikulturellen Bezirk keineswegs heraus. Ein Mann läuft an ihr vorbei. „Verpiss dich aus meinem Land!“, ruft er ihr zu. Sie ist schockiert. Solch eine Beschimpfung, ausgerechnet hier, in Whitechapel, wo knapp 43 Prozent der Bewohner Muslime und etliche Nationalitäten vertreten sind. Sie weiß nicht, wie sie reagieren soll. Dann ist der Mann verschwunden. So beschreibt die 26-Jährige den Vorfall. „Als ich darüber nachdachte, war ich unglaublich wütend.“

Wut, Schock, Fassungslosigkeit, Hunderten Briten ging es in den Tagen nach der Brexit-Abstimmung am 23. Juni wohl ähnlich. Die Polizei in Großbritannien verzeichnete in der zweiten Junihälfte 3076 sogenannte Hassverbrechen, fremdenfeindliche Übergriffe, 42 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Unter den Opfern waren etliche britische Muslime. Der Spruch „Hau ab nach Hause“ kommt besonders oft vor, wie der britische Rat der Muslime beobachtet hat. In den Medien häufen sich Berichte über Demonstrationen vor Moscheen, Graffiti an Wänden und weißes Pulver, das als Angstmacher an Moscheen verschickt wurde.

„Es scheint, das Ergebnis des Brexit-Votums hat rassistische und feindliche Kommentare in gewisser Weise legitimiert“, meint Jeraj. Das Thema Zuwanderung war eines der wichtigsten Schlachtfelder, auf denen der Kampf um den EU-Austritt Großbritanniens ausgetragen wurde. Vor allem die Brexit-Befürworter nutzten provokative Aussagen, Plakate und Sprüche und setzten auf den Nationalstolz der Bevölkerung. „Das Brexit-Lager hat mit dem Zuwanderungsthema unter den Wählern Angst geschürt und somit Stimmen gesammelt“, sagt Pola Uddin, Mitglied des britischen Oberhauses und Muslimin.

Der Mann, der die 26-jährige Jeraj auf der Straße in Whitechapel beschimpfte, hatte sich klar die falsche ausgesucht. Die junge Aktivistin und Mitarbeiterin der Organisation Citizens UK wehrte sich. Sie ging zur Polizei, twitterte von ihrer Erfahrung, trat in den Medien auf, organisierte eine Kampagne gegen Hassverbrechen. Doch der Vorfall hat die die selbstbewusste Muslima mit indischen Wurzeln durchaus bestürzt. An Beleidigungen und Witze wegen ihres Kopftuches, wegen ihrer Religion sei sie inzwischen gewöhnt, erklärt sie. „Aber dass jemand sagt, ich soll aus meinem Land verschwinden – das ist schockierend.“ Der Tenor solcher Übergriffe hat sich aus ihrer Sicht verändert.

Muslime waren gegen EU-Austritt

Jeraj hat wie viele andere Muslime für den Verbleib in der EU gestimmt. Einer Umfrage des ehemaligen konservativen Politikers Michael Ashcroft zufolge stimmten rund 70 Prozent der britischen Muslime gegen einen EU-Austritt. Einige prominente muslimische Politiker, etwa der neue Bürgermeister Londons, Sadiq Khan, setzten sich stark für den Verbleib in der Union ein.

„Ich fühlte mich nie wirklich wie eine europäische Muslimin“, sagt Humera Khan, Mitgründerin der An-Nisa-Society, einer Organisation für muslimische Frauen und Familien in London. „Seit dem Votum fühle ich mich europäischer als zuvor.“ Tariq Ramadan, ein Schweizer Intellektueller und Professor an der Universität von Oxford, spricht seit Jahren von seiner Identität als europäischer Muslim. Nach dem Brexit-Votum twitterte er: „Es gibt einen breiten europäischen Kontext und eine breite europäische Kultur, zu der Großbritannien sehr wohl gehört.“

„Wir sind Teil der europäischen Gemeinschaft“, sagt auch Fuad Nahdi, Journalist und Gründer der Organisation Radical Middle Way. Neben ideologischen und praktischen Gründen wie die Reisefreiheit spielt für Nahdi auch die Gesetzgebung im Bereich der Menschenrechte eine große Rolle. Viele zeigten sich vor dem Referendum besorgt über die Aussage der Favoritin für die Nachfolge des Noch-Premiers David Cameron, Theresa May, Großbritannien solle aus der Europäischen Menschenrechtskonvention austreten.

Die Sorge um Menschenrechte in einem Großbritannien außerhalb der EU hört man immer wieder von britischen Muslimen – auch für Jeraj war es ein wichtiger Grund, für den Verbleib in der Union zu stimmen. In Zeiten, in denen einige Briten ihren Rassismus und ihre Fremdenfeindlichkeit offen darlegen, ist dies kaum verwunderlich. (dpa, iQ)

Leserkommentare

Norma sagt:
Wie kann denn eine indische Muslimin behaupten, England sei ihr Land? Ist England inzwischen von einem muslimischen Heer erobert worden? Tariq Ramadan, ein Enkel von Hassan al-Banna, dem Gründer der ägyptischen Muslimbrüder, ist auch so ein Fall für sich. Er träumt von einer Scharia auf europäischem Boden, die dann auch mit den brutalen Strafen aufwarten darf, wenn Muslime erst einmal das Sagen haben. Und britische Muslime sollten sich mehr Sorgen um die Menschenrechte in ihren Herkunftsländern machen, in denen der Islam regiert und wo die Menschenrechte geflissentlich missachtet werden. Man denke dabei nicht nur an den Islamischen Staat, sondern auch insbesondere an das mächtige Saudi Arabien und den Iran. Auch die Türkei ist in dieser Hinsicht auf einem bedenklichen weg. In Großbritannien dagegen braucht man sich um die Menschenrechte nicht zu sorgen. Erst ab dem Moment, in dem die Muslime die Mehrheit in Großbritannien darstellen, müssen wir uns Sorgen um die Menschenrechte machen, wenn Tariq Ramadan seine geliebte Scharia einführt und Körperstrafen wieder die Regel sind.
11.07.16
15:59
Ute Fabel sagt:
Ich denke schon, dass England aktuell ein Problem mit Rechtspopulismus hat (Stichwort UKIP). Dieses ständige selbstmitleidige Getue von Muslimen, die selbst auch einem Umfeld kommen, in welchem Selbstbestimmung, Vielfalt und Gleichberechtigung wenig zählen, finde ich jedoch ebenso unerträglich. Es ist der beste Nährboden für Rechtspopulismus. Esmat Jeraj und auch Tariq Ramadan sollte sich für den saudischen Blogger Raif Badawi stark machen, der dort gefoltert und gefangen gehalten wird, weil er sich religiös nicht stromlinienförmig verhält. Damit könnten sie ihre Menschenrechtsgesinnung und ihren behaupteten Kampf für religiöse Vielfalt am besten unter Beweis stellen.
12.07.16
9:21
Johannes Disch sagt:
@Ute Fabel Hebt ein Unrecht das andere auf? Macht das Unrecht, das Saudi-Arabien gegen den Blogger Raif Badawi begeht, das Unrecht, das Esmat Jeraji widerfährt, weniger schlimm??? So, Esmat Jeraji sollte sich für Raif Badawi stark machen??? Wäre da nicht erst einmal unsere Bundesregierung gefragt? Und überhaupt die "westliche Wertegemeinschaft?" Die macht aber glänzende Geschäfte mit Saudi-Arabien und betrachtet Saudi-Arabien als unverzichtbaren Stabilitätsanker in der Region und als Verbündeten im "Kampf gegen den Terror." Wir im Westen sollten endlich vom hohen Roß herunter und begreifen, dass es Gesellschaften gibt, wo andere Werte gelten als die westlichen. Und Saudi-Arabien ist nun mal eines davon. Esmat Jeraji muss überhaupt nix unter Beweis stellen! Sie kann erwarten, dass sie in einem westlichen Land nach deren Werten und Gesetzen behandelt wird! lg Johannes Disch
12.07.16
13:35
Johannes Disch sagt:
@Norma wie eine indische Muslima behaupten kann, GB sei ihr Land?? Werte Norma, die Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen definiert sich im Westen längst nicht mehr nach Abstammung oder Religiosität. lg Johannes Disch
12.07.16
13:37
Johannes Disch sagt:
@Norma Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen sein sollte: London hat inzwischen einen muslimischen Bürgermeister (Sadigh Khan). Ist GB etwa auch nicht "sein Land?" lg Johannes Disch
12.07.16
14:34
Manuel sagt:
@Johannes Disch: Ja andere Gesellschaften haben andere Werte, aber diese Werte möchte ich in Europa nicht (wieder) haben, ich möchte keine religiöse Gesellschaftsordnung.
12.07.16
18:33