Interview

„Je religiöser, desto toleranter“

Wie stehen religiöse Menschen – vor allem Muslime in Europa – zu ihren religiösen Rechten und denen der Anderen? Diesen und vielen anderen Fragen ist u.a. Prof. Dr. Sarah Carol in der EURISLAM-Studie nachgegangen. Im Interview legt sie die Antworten offen.

14
08
2016
Prof. Dr. Sarah Carol

IslamiQ: Was ist das überraschendste Ergebnis der Studie?

Prof. Sarah Carol: Wenn man sich die vorhandene Literatur und Forschung zur Rolle der religiösen Herkunft für Einstellungen gegenüber anderen Gruppen anschaut, liegt die Vermutung nahe, dass starke Religiosität mit ablehnenden Einstellungen gegenüber anderen Gruppen einhergeht. In vielen Fällen findet sich dies auch. Wir haben jedoch herausgefunden, dass religiösere Menschen auch die religiösen Rechte für die andere Gruppe also Christen oder Muslime stärker befürworten. Dieses Ergebnis habe ich zunächst so nicht erwartet.

IslamiQ: In Ihrer Studie erwähnen Sie zwei Gruppen: muslimische Migranten und christliche Einheimische. Jedoch gibt es immer mehr muslimische „Einheimische“ und – dank der Migration – viele „christliche Migranten“. Inwiefern ist es richtig, Muslime als „Migrantengruppe“ zu betrachten und Christen als Einheimische?

Prof. Carol: Natürlich sind Muslime hier auch einheimisch, aber wenn wir interreligiöses oder interethnisches Zusammenleben untersuchen möchten, müssen wir die Gruppen irgendwie unterscheiden. Statt Einheimische könnten wir auch sagen, Menschen deren Eltern bereits in dem jeweiligen europäischen Land geboren wurden und der jeweiligen Herkunft sind, das ist aber einfach etwas lang. Es ging in der Studie nicht primär darum, einige Religionen als Migrantengruppen und andere als Einheimische zu bezeichnen. Unsere Stichprobe der Einheimischen war einfach überwiegend christlich. Darin sind jedoch keine Christen enthalten, deren Eltern beispielsweise in anderen Ländern wie Spanien oder Italien geboren wurden. Der Fokus lag auf Menschen, die muslimische Eltern hatten und aus dem ehemaligen Jugoslawien, der Türkei, Marokko oder Pakistan stammen.

Wir haben schon viele Daten über andere Einwanderergruppen, aber wenige, die uns erlauben, die Diversität innerhalb der muslimischen Gruppen zu untersuchen, weil beispielsweise Pakistanis in Deutschland einen kleinen Teil ausmachen und die vorhandenen Datensätze uns nicht erlauben systematische Untersuchungen zu machen. Deshalb haben wir diese vier Gruppen in sechs europäischen Ländern untersucht, so können wir auch sehen, ob es tatsächlich Gruppenunterschiede sind oder Menschen derselben Herkunft sich je nach Land, in dem sie leben, andere Einstellungen haben.

EURISLAM ist ein europäisches Forschungsprojekt, das untersucht, wie die Einbeziehung des Islams in Europa durch die nationalen Traditionen der Identität beeinflusst wird. Die Feldarbeit wird derzeit in Belgien, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz und Großbritannien durchgeführt. Die Soziologin Prof. Dr. Carol ist ein Mitglied des zehnköpfigen Forschungsteams.

IslamiQ: Welche Positionen vertreten Muslime in Europa bezüglich ihren religiösen Rechten?

Prof. Carol: Tatsächlich sehen wir deutliche nationale Unterschiede in der Befürwortung bestimmter Rechte. In Deutschland und Belgien beispielsweise sehen wir die stärkste Befürwortung des Religionsunterrichtes für Christen und Muslime, sowohl seitens der Muslime selbst als auch bei Menschen ohne Migrationshintergrund -oder wie auch immer man sie nennen möchte.

Die französischen Muslime hingegen scheinen den Laizismus stärker verinnerlich zu haben und haben sich an den Franzosen ohne Migrationshintergrund/ohne muslimischen Hintergrund orientiert, was sich im internationalen Vergleich daran zeigt, dass sie weniger befürwortend gegenüber dem Kopftuch für Lehrerinnen sind, ganz im Gegenteil zu Muslimen und Einheimischen in den Niederlanden, die dem Kopftuch für Lehrerinnen am meisten zustimmen. Obwohl französische Muslime teilweise laizistischere Tendenzen zeigen, treten sie im Vergleich zu ihren nicht-muslimischen Staatsbürgern stärker für religiöse Rechte ein, nicht nur für ihre eigenen, auch für die der Christen.

IslamiQ: Laut Ihrer Studie scheinen offenkundige Symbole problematischer zu sein. Warum stören sich die Menschen an religiösen Symbolen?

Prof. Carol: Die Frage nach dem ‚Warum‘ können wir nicht direkt beantworten. In der Debatte werden jedoch oft liberale Geschlechterwerte angeführt, die für manche im Wiederspruch zur Kopfbedeckung stehen. Aber es scheint darüber hinaus auch etwas generell mit religiösen Symbolen in öffentlichen Institutionen zu tun zu haben, weil auch nicht-Muslime christliche Symbole in Schulen ein klein bisschen weniger unterstützen, als sie beispielsweise Religionsunterricht unterstützen. Hier scheint der Wunsch nach religiöser Neutralität in Schulen größer zu sein. Innerhalb Deutschlands werden ja beispielsweise Kreuze in Schulen teilweise sehr kritisch gesehen, wo die Meinungen je nach Bundesland stark auseinander gehen.

IslamiQ: Die Debatten um das muslimische Kopftuch laufen auf Hochtouren. Was wird in dieser Diskussion Ihrer Meinung nach falsch gemacht?

Prof. Carol: Ich denke, dass es eine wichtige, aber sehr emotionsgeladene Debatte ist. Als Wissenschaftlerin plädiere ich natürlich für eine besser fundierte Debatte, angeregt durch neue Studien zu potentiellen Konsequenzen für Lernverhalten, Einstellungen und Identität, wenn Lehrer unterschiedlichster Religionen (nicht nur muslimisch) religiöse Symbole tragen. Darüber hinaus, wäre es sinnvoll eine gute Studie zu den gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen zu haben, zum Beispiel, ob die gesetzliche Ablehnung in einigen Bundesländern die interreligiösen Beziehungen belastet.

IslamiQ: Je „frommer“ Muslime sind, desto toleranter gegenüber anderen Religionen sind sie. So lautet eines Ihrer Studienergebnisse. Wird der positive Effekt der Religiosität rundum ignoriert?

Prof. Carol: Der positive Zusammenhang zwischen Religiosität und der Bewertung religiöser Rechte für andere Religionen bezieht sich nicht nur auf Muslime, auch auf Christen. Das stimmt, Religiosität kann durchaus positive Effekte haben, zum Beispiel auf Hilfsbereitschaft bzw. Solidarität. Es gibt jedoch auch genug Beispiele, in denen zu starke Religiosität sich in das Gegenteil umkehren kann. Das ist besonders in Kontexten der Fall, wo eine Religion anderen als überlegen dargestellt oder staatlich stark favorisiert wird.

Die Klassiker in der existierenden Forschung weisen auch immer wieder darauf hin, dass Religiosität viele Facetten hat, und man unterscheiden sollte, welche religiösen Verhaltensweisen und Überzeugungen einen positiven oder einen negativen Effekt haben können. Während die Vielfältigkeit religiöser Wirkweisen in der wissenschaftlichen Debatte erkannt wird, ist dies in der öffentlichen Debatte in der Tat nicht oft der Fall.

IslamiQ: Religiöse Menschen sind in Europa eine Minderheit. Welche neuen Kooperationsmöglichkeiten bieten sich zwischen Muslimen und anderen religiösen Menschen an?

Prof. Carol: In unseren Daten sehen wir ja diese interreligiöse Toleranz. In Analysen der Mediendebatten zum Islam, die wir im Rahmen des EURISLAM Projektes durchgeführt haben, sehen wir auch, dass sich die Kirche in Europa im Durchschnitt pro-muslimisch verhält. Dies könnte man so interpretieren, dass das Interesse an der Stärkung der gesellschaftlichen Rolle der Religion etwas verbindendes sein kann, wozu sich unterschiedliche Gemeinschaften zusammenschließen. Nicht zuletzt wäre es unklug die Rechte anderer Gruppen beschneiden zu wollen, wenn man in der Minderheit ist, weil wir in einigen Staaten sehen. Am Beispiel Großbritannien sehen wir, dass die Existenz religiöser Rechte für eine Gruppe Forderungen einer anderen Gruppe erleichtern können, weil gleiche Rechte gefordert werden können.

IslamiQ: Befürworten Sie Staatsverträge mit Muslimen?

Prof. Carol: Eine Schwierigkeit besteht zurzeit unter anderem darin, dass die muslimische Gemeinschaft weniger zentralisiert ist als beispielsweise die katholische Kirche. Es gibt unterschiedliche Gemeinschaften, die unterschiedlich viele Mitglieder repräsentieren. Es gibt somit nicht einen einzigen Ansprechpartner für den Staat und nicht eine Organisation, die die Mehrheit der deutschen Muslime repräsentiert. Solange dies nicht gegeben ist, stelle ich es mir schwierig vor. In einzelnen Bundesländern wird dies jedoch umgangen und einzelne Verabredungen mit bestimmten Gemeinschaften zur Organisation des Religionsunterrichtes getroffen.

IslamiQ: Wo sehen sie das islamische Leben in Europa im Jahre 2050?

Prof. Carol: Wir haben beobachtet, dass alle westeuropäischen Länder (mit Ausnahme der Schweiz) langfristig zunehmend inklusiver geworden sind, was islamische Rechte betrifft. Ich erwarte, dass sich dieser Trend fortsetzt, sofern diese Rechte auch mit den demokratischen Grundwerten vereinbar sind. Wie sich die Lage verändert, hängt aber wahrscheinlich auch davon ab, welche Parteienkonstellationen wir haben, wie viele Muslime (mit Wahlrecht) zu diesem Zeitpunkt hier leben werden, woher sie kommen und ob der Bedarf bestehen bleibt oder es eine Abnahme von religiöser Praxis im Laufe der folgenden Generationen geben wird.

Leserkommentare

Ute Fabel sagt:
Ich bin Atheistin und bin stolz darauf, weil ich meine, dass selbständiges Denken und kritisches Hinterfragen von Glaubenslehren der positiven Weiterentwicklung der Menschheit weit mehr nutzt als die Pflege - wie ich meine - zum Teil grotesker Dogmen aus der Antike und dem Frühmittelalter. Ich mache meine atheistische Überzeugung IN MEINER FREIZEIT auch gerne sichtbar, ich habe eine ganze Menge atheistischer T-Shirts und Anstecker. IN MEINEM BERUF trete ich aber immer optisch neutral auf. Dasselbe erwarte ich mir auch von meinen religiösen Mitmenschen,
14.08.16
19:09
Amina sagt:
@Ute Fabel, In Ihrer Argumentation sehe ich einige Lücken. Wenn wir jetzt Ihre kritische Art des Hinterfragens mal anwenden wollen: was bedeutet "optisch neutral"? Das Kopftuch, Kreuz oder andere optische Symbole sind "religiös". Ist das Gegenteil von diesen religiösen optischen Symbolen dann "neutral"? Aber das Antonym für religiös ist atheistisch. Muslimische Lehrerinnen tragen auch keine Anstecker, auf denen steht "wir sind stolze Muslime und gegen Atheismus". Muslimische Lehrer die einen Bart tragen, müssen sich rasieren? Aber atheistische Lehrer, die einen Bart tragen nicht? Sie vertreten eine sehr problematische und in meinen Augen, extrem ignorante Sichtweise, ähnlich, wie es auch im Iran oder Saudi-Arabien praktiziert wird: Dort dürfen Frauen ausschließlich MIT Kopftuch lehren, denn das ist "normal" dort! Bei Ihnen würde es dann so aussehen: In Deutschland dürfen Frauen nur OHNE Kopftuch lehren, denn das ist normal hier!
15.08.16
13:37
Sarah sagt:
Hallo Ute Fabel, der Atheismus hat eben nicht Regeln und Pflichten des einen Nichtatheisten, deshalb macht es nicht viel Sinn eine so eine optische Haltung zu erwarten. Es sollte der Mensch selber entscheiden. Neutral kann man immernoch sein, in der Hinsicht, dass man seine Arbeit erledigt und im Team sich über die Arbeit teilt. Nichtneutral wäre, wenn die Person bei der Arbeit ständig missionieren würde.
15.08.16
14:46
Ute Fabel sagt:
Ich habe den Eindruck, dass Frau Prof. Carol "tolerant" mit "unkritisch" verwechselt. Wenn sie schreibt "Je frommer Muslime sind, desto toleranter sind sie gegenüber anderen Religionen" will im Klartext heißen "unkritischer". Ist das wirklich eine Tugend und so wünschenswert? Ich bin der Meinung, dass die Menscheit durch Neugierde, kritisches Hinterfragen und selbständiges Denken weitergekommen ist und nicht durch blindes Akzeptieren der eigenen und anderer Dogmen und Rituale.
16.08.16
7:40
Paul F sagt:
Die Überschrift „Je religiöser, desto toleranter“ suggeriert eine höhere Toleranz bei Gläubigen gegenüber allem anderen. Dies ist aber hinsichtlich des gesagten irreführend, da hier nur von einer Toleranz von Religiösen gegenüber anderen religiösen Gruppen gesprochen wird. Kein Wort von der Toleranz der Klerikalen gegenüber eines jeden Menschen (bzw. dessen Recht), ohne vorgefertigte Gedankenkäfige sein Leben selbst zu gestalten. Daher fällt dieses Interview in meinen Augen in die Kategorie "Sand in die Augen streuen" und ist entsprechend Wertlos.
16.08.16
9:50
Elvenpath sagt:
Klar, wenn man Toleranz als Erhalt von religiöse Privilegien definiert, kommt man zu so einem überraschenden Ergebnis.
16.08.16
10:21
Manuel sagt:
Da gab es aber mal auch eine andere Studie von 2013, die genau das Gegenteil besagt.
16.08.16
14:14
Manuel sagt:
@Amina: Vielleicht wollen wir hier im säkularen Europa kein islamische Gesellschaftsordnung. Wenn Sie mit dem Säkularismus nicht umgehen können, es gibt ja andere Länder. Was ist wenn ich beispielsweise mit einem Lenin-T-Shirt als Lehrer aufkreuze, da würde es sofort Kritik hageln, also warum kann eine moslemische Lehrerin nicht akzeptieren, dass eine Schule neutral zu sein hat. Religionsfreiheit heißt auch Freiheit von Religionen, Kinder sollen zu kritischen Menschen erzogen werden und nicht religiösen Dogmen und Symbolen vollgestopft werden.
16.08.16
18:51
Ute Fabel sagt:
Frau Dr Carol klärt nicht auf, sondern streut Sand in die Augen, wenn sie den Schulterschluss der verschiedenden Religionsgemeinschaften zur Verteidigung und zum Ausbau von Privillegien als größere "Toleranz" religiöser Menschen deutet. Die Pressesprecherin der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich, Frau Baghajati, tritt ja nur deswegen für Kruzifixe in österreichischen Klassenzimmern ein, weil sie sich davon verspricht, dass dann auch Kopftuchfrauen unterrichten können. Die eine Handl wäscht die andere, nennt man dieses Prinzip, welches mit Toleranz und Offenheit reichlich wenig zu tun hat.
18.08.16
8:15
Charley sagt:
Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) hat in einer Studie im Jahr 2007/2008 bundesweit in 61 Städten und Landkreisen 45.000 Neuntklässler zwischen 14 und 16 Jahren befragt. Das Ergebnis zeigt, dass muslimische Migrantenkinder umso stärker zu Gewalt neigen, je religiöser sie sind. Bei christlichen Altersgenossen ist das Gegenteil der Fall: je christlicher, umso weniger sind diese gewaltbereit. Bei nicht religiösen Muslimen sind 8,7% gewaltbereit (aus christl. Hintergrund 7,7%); bei sehr religiösen Muslimen sind 10,2% gewaltbereit (sehr religiöse Christen 4,3%). Die höchste Gewaltbereitschaft ist bei sehr religiösen jugendlichen muslimischen Männern mit 23,5% festzustellen. Unter anderem leidet die Streifenpolizei erheblich darunter.
21.08.16
9:03
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