Rassistisch motivierte Straftaten haben in Deutschland einen Höhepunkt erreicht. Der von Amnesty International im Juni veröffentliche Bericht „Leben in Unsicherheit – Wie Deutschland die Opfer rassistischer Gewalt im Stich lässt“ untersucht, wie weitverbreitet institutioneller Rassismus eigentlich ist. Ein Gastbeitrag von Burak Altaş.
Die institutionelle Ausprägung von Rassismus mag auf dem ersten Blick eigenartig erscheinen, sind Institutionen doch Gebilde, die nur durch ihre Organe handlungsfähig sind. Wird eine solche Einrichtung als “rassistisch” betitelt, resultiert dies aus der direkten Zurechnung der Organhandlungen an die Institution. Ihre Berechtigung hat diese Zurechnung zum Beispiel dann, wenn es um Agitationen von Verantwortungsträgern geht oder rassistische Handlungsmuster quantitativ die Schwelle zwischen Einzelfällen und systematischer Benachteiligung überschreiten.
Einer altbewährten Definition zufolge, ist institutioneller Rassismus die unangemessene oder unprofessionelle Behandlung von Menschen “aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres kulturellen Hintergrunds oder ihrer tatsächlichen oder angenommenen ethnischen Herkunft.” Vorurteile und Stereotypen führen dazu, dass Träger dieser Merkmale durch bestimmte, ggf. formalisierte Abläufe, persönliche Einstellungen und Verhaltensweisen benachteiligt werden.[1]
Der eingangs besagte Bericht untersucht Hinweise, anhand derer sich die Existenz von institutionellem Rassismus belegen lassen. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich auf zwei Jahre. Die konzentrierte Darstellung von Fällen, die teilweise aus der Medienberichterstattung bekannt sind, veranschaulicht dabei die besorgniserregende Dimension dieses Problems. Anlass der Untersuchung war neben den NSU-Morden und den teilweise skandalösen behördlichen Defiziten bei deren Aufklärung, insbesondere auch die Zunahme rassistisch motivierter Straftaten in den letzten Jahren. In Anbetracht dessen wird mitunter der Frage nachgegangen, wie die Polizeibehörden, die Staatsanwaltschaften und die Gerichte auf solche Übergriffe reagieren und welchen Reflex sie zeigen.
Örtlich beschränkt sich der Bericht, unter anderem wegen der höheren Dichte der rassistisch motivierten Straftaten, auf Berlin, Bayern, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Neben diversen Bundes- und Landesbehörden sprach Amnesty mit einer Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Akteuren unterschiedlicher Art, etwa antirassistischen Organisationen, Flüchtlingsräten und Stiftungen, die sich alle inhaltlich mit diesen Themen befassen. Außerdem wurden 30 Opfer rassistischer Straftaten sowie 15 Rechtsanwält_innen, die für einige dieser Opfer die Mandate innehatten, interviewt.
Polizeibehörden sind die primäre Ermittlungsinstanz. Ihre Ermittlungsergebnisse sind in der Regel maßgebend für den weiteren Verlauf der Untersuchung einer Straftat. Rassistische Straftaten werden dabei in der polizeilichen Kriminalstatistik innerhalb der politisch motivierten Kriminalität (PMK) erfasst. Dadurch wird gewährleistet, dass eine jahresübergreifende Entwicklung über das Ausmaß solcher Straftaten nachgezeichnet wird. Dieses Erfassungssystem ist jedoch darauf angewiesen, dass die ermittelnden Beamten Indizien, die auf rassistische Motive des Straftäters hindeuten, tatsächlich erkennen und nicht davor zurückschrecken, diese in ihre Berichte aufzunehmen.
Die Interviews mit 48 verschiedenen Nichtregierungsorganisationen zeichnen eben an diesem Punkt ein sehr dunkles Bild. Fast alle Gesprächspartner äußern sich besorgt über die Kompetenzen der Polizei hinsichtlich der Kategorisierung einer Straftat. Fehlende Sensibilität und Disziplin führe dazu, dass die wirklichen Tatmotive verkannt und eine falsche Einordnung vorgenommen werde. Auch wenn die Polizei diesbezüglich die Information mitteilt, dass etwa rassistische Beleidigungen regelmäßig als Indizien ausgewertet werden, zeigen die im Bericht aufgeführten Fallbeispiele aus der Praxis, dass selbst die augenscheinlichsten Schimpfwörter bei der Bewertung der Tätermotive systematisch ausgeblendet werden.
So etwa im Fall von Hussein T., der 2014 Opfer eines rassistischen Übergriffs in Bayern wurde. Seine Rechtsanwältin Ricarda Lang kritisiert, dass die Polizei seinerzeit ihren Mandanten nicht ernst genommen und offensichtliche Anhaltspunkte für eine rassistische Motivation außer Acht gelassen habe. Nicht einmal drei Zeugen hätten ausgereicht, um die Polizei davon zu überzeugen, dass die Angreifer während des Übergriffs den Hitlergruß gezeigt hätten. Die Beamten hätten nur Hussein T. gefragt, ob es denn „wirklich der Hitlergruß“ gewesen sei, und die Tat letztendlich nicht als rassistisch motiviert eingestuft.
Leider handelt es sich bei diesem Beispiel nicht um einen Einzelfall. Der Kölner Antidiskriminierungsverband FAIR (Federation Against Injustice and Racism e.V.) teilte dem türkischsprachigen Nachrichten- und Debattenmagazin Perspektif ähnliche Erfahrungen mit. Der Angriff auf eine kopftuchtragende Studentin aus Kaiserslautern, in der Öffentlichkeit bekannt als der „Fall Leyla“, habe ähnliche Defizite sichtbar werden lassen. „Leyla“ wurde tagsüber auf dem Weg von ihrer Universität nach Hause Opfer einer körperlichen Gewalttat und verlor dabei ihr Bewusstsein. Als sie wieder zu sich kam, waren ihr Kopftuch heruntergerissen und ihre Kleidungsstücke mit Alkohol besudelt worden. Seltsamerweise wurde „Leyla“ jedoch von der Polizei wie eine Täterin behandelt. Eine Kette unerklärlicher Ermittlungspannen wirft noch heute einen dunklen Schatten auf die Arbeit der Polizei. Es wurden am Tatort keine Spuren gesichert, trotz mehrfacher Aufforderung ihres Rechtsanwalts und von FAIR kein Zeugenaufruf gestartet. Nicht einmal die mit Alkohol überschüttete Jacke des Opfers wurde zu Untersuchungszwecken sichergestellt. Anstatt die Indizien auszuwerten, die auf einen rassistisch motivierten Angriff hindeuteten, richteten sich die Ermittlungen gegen „Leyla“. Die Polizei hielt es für wahrscheinlicher, dass sich die religiöse Studentin tagsüber auf einer Studentenparty betrunken haben und sodann selbst gestürzt sein könnte. Eine andere Theorie lautete, dass sie evtl. einen geheimen Liebhaber hätte, der sie möglicherweise derartig zugerichtet habe. Für FAIR ist der „Fall Leyla“ ein typisches und aktuelles Beispiel für institutionellen Rassismus.
Die gezielte Ergreifung von Maßnahmen ist zur Verdrängung dieser Form von Rassismus aus den Institutionen unerlässlich. Die bloß verbale Ablehnung aller Rassismen ist ohnehin ein gesellschaftlicher Konsens; offene Bekenntnisse zum Rassismus werden nur am äußersten rechten Rand der Gesellschaft anzutreffen sein. Konkrete Schritte sind jedoch nur im Anschluss an eine detaillierte Bestandsaufnahme und Problemanalyse möglich. Amnesty International sieht das Hauptproblem der Polizeibehörden darin, dass die Kategorisierung der Straftaten vom individuellen Analysevermögen der Beamten abhängt. Diese sind keine speziell geschulten Kräfte, sodass bei der Tatbewertung rassistische Motive oftmals unerkannt bleiben. Ein erster Schritt zur Überwindung dieses Defizits ist deswegen die Sensibilisierung der Ermittlungsbeamten für dieses Thema und die Durchführung von Fortbildungsveranstaltungen.
Auch das Verhältnis staatlicher Behörden zu den Terroraktivitäten des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) ist nach wie vor nebulös. In Anbetracht der bisherigen Erkenntnisse insbesondere über den Wissensstand des Verfassungsschutzes bereits zu Zeiten, in denen die Gruppe noch aktiv war, ist die Frage der Verhinderbarkeit ungeklärt. Wie auch der Amnesty Bericht hervorhebt, richtet sich die Skepsis der Bevölkerung insbesondere gegen die Polizei und die Verfassungsschutzämter. Die Witwe des NSU-Opfers Theodorus Boulgarides, Yvonne Boulgarides, stellte am 17. September 2014 fest, dass institutioneller Rassismus „vor allem innerhalb der Polizei“ bekämpft werden müsse. Wie wir von Rechtsanwalt Yavuz Narin erfahren, habe die Polizei nach der Ermordung des Opfers seine damals 15-jährige Tochter gefragt, ob ihr Vater Drogenhändler gewesen sei und ob er sie sexuell missbraucht habe.
Der im Jahre 2012 im Deutschen Bundestag eingerichtete Untersuchungsausschuss stellte in seinem Abschlussbericht vom 22. August 2013 fest, dass von Seiten der Behörden keine angemessenen Maßnahmen zur Ermittlung des rassistischen Motivs hinter den Morden ergriffen worden sind und außerdem der Umgang mit den Opferfamilien unangemessen war. Dem UN-Antirassismus-Ausschuss (CERD) sowie dem Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muižnieks zufolge weisen diese Ermittlungsfehler auf institutionellen Rassismus hin.[2]
Seit der Änderung des § 46 Abs. 2 StGB im März 2015 müssen die Gerichte bei der Strafzumessung „rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende“ Motivationen des Täters beachten, weshalb in diesen Fällen die Strafe geschärft wird. Amnesty International kritisiert, dass trotz dessen die rassistischen Motive auch von Gerichten häufig außer Acht gelassen werden, und beruft sich dabei auf Recherchen von Wissenschaftlern und Journalisten. Die Berichterstatter sehen in diesem Umstand eine „offensichtliche Zurückhaltung deutscher Staatsanwaltschaften und Gerichte, (…) rassistisch motivierte Straftaten zu verfolgen und das rassistische Tatmotiv bei der Strafzumessung entsprechend zu berücksichtigen.“[3]
Die Bewertung steigender Angriffe auf Flüchtlingsheime im Kontext des institutionellen Rassismus ermöglicht einen neuen Blick auf das fortwährend aktuelle Thema der Flüchtlingsfeindschaft in Deutschland. Dass die Polizei in Anbetracht dieses Anstiegs keinen Aktionsplan zum Schutz besonders gefährdeter Flüchtlingsunterkünfte aufstellt und der Staat keine ausreichenden Maßnahmen zur Verhütung neuer Angriffe ergreift, wird zutreffend als institutionelles Problem aufgegriffen. Die Forderung nach einer polizeilichen Risikoanalyse in Gebieten, in denen sich Angriffe auf Flüchtlinge besonders konzentrieren, ist in diesem Zusammenhang konsequent.
Leider ist jedoch anzumerken, dass die Verfasser dieses Berichtes den institutionellen Rassismus in einem zu engen Rahmen thematisieren. Zwei weit verbreitete Ausprägungen dessen finden mit keinem Wort Erwähnung: Zum einen der Rassismus im Bildungssystem, der Kindern mit Migrationshintergrund den Gang durch die Bildungsinstitutionen systematisch erschwert und seit Jahren eines der Paradebeispiele des institutionellen Rassismus darstellt[4], und zum anderen die zunehmenden Angriffe auf Moscheen und das polizeiliche Ermittlungsverhalten in diesen Fällen. Beide Defizite deuten auf eine fehlende umfassende Sensibilität der Verfasser hin. Nichtsdestotrotz ist der Bericht wichtig, um den institutionellen Rassismus auch in bisher unbewussten Konstellationen wahrzunehmen und eine alarmierende Botschaft auszusenden.
[1] The Stephen Lawrence Inquiry. Report of an inquiry by Sir William Macpherson of Cluny, Februar 1999, Kapitel 6.34: http://bit.ly/2ci8mhV (zuletzt abgerufen am 05.08.2016).
[2] CERD Schlussbemerkungen zu den 19. bis 22. Staatenberichten der Bundesrepublik Deutschland (CERD/C/DEU/CO/19-22), 15. Mai 2015,http://bit.ly/2cocekL (zuletzt abgerufen am 07.08.2016);
Bericht von Nils Muižnieks, Absatz 184, http://bit.ly/2bKut40 (zuletzt abgerufen am 07.08.2016).
[3] Amnesty International, „Leben in Unsicherheit“, S. 47.
[4] Zur Thematik: Gomolla, Mechtild/Radtke, Frank-Olaf, Institutionelle Diskriminierung – Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule.