Nachgefragt

„Ich versuche Zahlen ein Gesicht und eine Stimme zu geben“

Autoren schreiben hunderte Seiten. Doch was passiert, wenn sie ihr Buch auf seine Essenz herunterbrechen müssen? Unsere Serie „Nachgefragt“ liefert Antworten. Heute Nermin Ismail und ihr Buch „Etappen einer Flucht: Tagebuch einer Dolmetscherin“.

25
10
2016
Das Buch von Nermin Ismail: "Etappen einer Flucht"

IslamiQ: Wem würden Sie ihr Buch „Etappen einer Flucht: Tagebuch einer Dolmetscherin“ gerne schenken und warum?

Nermin Ismail: Jedem! Aus einem sehr einfachen Grund. Die Schicksale der geflüchteten Menschen gehen uns alle etwas an. Unsere Gesellschaft verändert sich. Ein Professor von mir pflegte immer zu sagen: Das einzig beständige ist die Veränderung. Das ist gut so. Aber der Krieg in Syrien ist immer noch in Gange. Während wir hier sprechen, sterben Menschen, andere machen sich auf die Flucht, um ihr Leben und das ihrer Kinder zu retten. Es sind diese Menschen, die hier in Europa ankommen. Das Problem ist, wir wissen zu wenig über sie, und das macht vielen von uns Angst. Und mit genau dieser Angst wird Politik gemacht. Den Menschen, denen ich begegnet bin, ist wichtig zu erzählen, was ihnen widerfahren ist und wo sie jetzt stehen. Vieles was wir glauben zu wissen, über die sogenannten „Flüchtlinge“ ist nicht wahr. Das Wort „Flüchtling“ an sich ist gefährlich, weil das eine „Masse“ ist, die kein Gesicht hat. Aber es geht hier um Menschen, um Individuen. Das Buch sollte jede Mutter lesen, deren Kinder neue Mitschüler bekommen, jeder Vater, der neue Nachbarn hat und jede Person, die verstehen möchte, was es heißt sich auf die Flucht zu machen und fernab von der Heimat einen Neuanfang zu machen.

Nermin Ismail
Etappen einer Flucht: Tagebuch einer Dolmetscherin
ISBN-10: 3853714099
Promedia Verlag
Oktober 2016

Das ist nicht einfach und diese Menschen sind vor allem auf die Offenheit der neuen Gesellschaften angewiesen. Sie haben so viel Schreckliches erlebt, dass man nicht so schnell wiedergutmachen kann. Deshalb sollten wir uns informieren und anhören, was sie uns zu sagen haben. Wir können einen Beitrag leisten, dass diese Menschen hier ankommen.

IslamiQ: Warum ist die Thematik Ihres Buches im Lichte aktueller Debatten wichtig?

Ismail: Das Buch will den Menschen eine Stimme geben, sie begleiten und ihnen die Chance geben selbst das Wort zu ergreifen. Wir leben in einer Welt der Informationsflut. Oft gehen die Stimmen jener, um die es geht, unter und keiner fragt nach ihnen. Menschen, die geflüchtet sind haben oft keine Plattform sich Gehör zu verschaffen. Diese kulturelle Ressource besitzen sie nicht. Deswegen müssen wir uns auch fragen, wo denn ihre Stimmen bleiben? Als Journalistin verstehe ich das als meine Aufgabe, ein Sprachrohr zu sein, die richtigen Fragen zu stellen und Menschen zuzuhören. Im aktuellen Diskurs werden „Flüchtlinge“ nicht als Einzelpersonen betrachtet, sondern oft als „Flüchtlingsstrom, Flüchtlingswelle“. Das ist gefährlich. Denn „das Menschsein“ wird so in den Hintergrund gerückt, weil wir eine Menschengruppe nur mehr über ihre Fluchterfahrung definieren. Diese Menschen sind so viel mehr. Wir müssen auf unsere Sprache achten. Worum geht es eigentlich, wenn wir über „unsere Werte“ sprechen? Geht es nicht genau darum Schutzbedürftige Freiheit und Sicherheit zu gewähren? Daran müssen wir uns erinnern, denn gerade in diesen Zeiten wird Europa immer mehr zu einem Ort, in dem Menschenrechte verletzt werden. Doch was sind unsere Werte wenn nicht die Wahrung der Menschenwürde, der Freiheit, der Gleichheit aller Menschen?

IslamiQ: „Beim Lesen guter Bücher wächst die Seele empor.“ Warum trifft dieses Zitat von Voltaire auf Ihr Buch zu?

IslamiQ: Ich denke, dass beim Lesen immer etwas mit dem Menschen geschieht. Lesen ist Reibung, Lesen ist Irritation, Lesen ist Bildung. „Etappen einer Flucht“ will auch das Bewusstsein erweitern. Wir leben viel zu oft in unserer sozialen Blase, schauen zu selten über den Tellerrand hinaus und haben das Privileg über so viele Sachen nicht nachdenken zu müssen, mit denen Menschen täglich konfrontiert sind. Warum soll es normal und akzeptiert sein, dass Kinder, die den Krieg erlebt haben, eine schreckliche Flucht hinter sich haben, dem Krieg entkommen sind und endlich angekommen sind, morgens nicht in der Schule auftauchen, weil sie abgeschoben werden? Ich will Ausgeblendetes in den Vordergrund stellen und versuche den Zahlen ein Gesicht, eine Stimme zu geben. Ich versuche den Leser, die Leserin auf meiner eigenen Reise mitzunehmen und zu zeigen was ich erlebt, erfahren und gesehen habe. Dabei geht es vor allem um die Menschen, die in mir eine Vermittlerin sehen, die eine Botschaft überbringen kann. Diese Botschaft geht an alle.

IslamiQ: Ihr Buch „Etappen einer Flucht: Tagebuch einer Dolmetscherin“ in drei Wörtern zusammengefasst?

Mensch – Hoffnung – Solidarität

Ismail: Eine spezielle Frage für Sie: Ist das Buch ein Aufruf an die muslimische Community zu mehr Engagement?

Wenn man möchte, kann das Buch als Aufruf an jeden einzelnen Menschen betrachtet werden. Jedes Individuum, das sich fragt, was man machen kann im Anbetracht der hiesigen Katastrophen auf dieser Welt. Oft fühlt man sich ohnmächtig oder frustriert, wenn man die Nachrichten sieht, aber das Buch will den Menschen sagen: Es liegt in unserer Hand. Es liegt an uns, was wir aus der derzeitigen Situation machen. Jeder Mensch kann etwas bewirken und sei es ein wöchentlicher Besuch in einem Flüchtlingsheim oder bei einer geflüchteten Familie. Ich denke an den österreichischen Pianisten, der gesagt hat: „Das Elend dieser Welt abzubilden ist nicht genug. Man muss sich auch bemühen, einen Ausweg zu finden.“ Und das kann jeder von uns, auch wenn nur im Kleinen. Und ich hoffe, dass mein Buch auch Einblicke in diese Handlungsfelder zeigen kann und auch aufzeigt, wie Solidarität aussehen kann.

Leserkommentare

Mein neues Buch: Etappen einer Flucht | andererseits sagt:
[…] Interview mit dem Onlinemagazin islamIQ am 25.10.2016 […]
26.10.16
11:54