Autoren schreiben hunderte Seiten. Doch was passiert, wenn sie ihr Buch auf seine Essenz herunterbrechen müssen? Unsere Serie „Nachgefragt“ liefert Antworten. Heute Dr. Muhammad S. Murtaza und sein Buch „Die gescheiterte Reformation“.
IslamiQ: Wem würden Sie ihr Buch „Die gescheiterte Reformation“ gerne schenken und warum?
Dr. Muhammad S. Murtaza: Ich würde es gerne jungen Muslimen schenken, die irritiert und verwirrt sind über die große Anzahl muslimischer Bewegungen und Gruppierungen da draußen, die allesamt mit dem Anspruch auftreten, den Islam und die Muslime erneuern zu wollen, seien es nun radikale und militante Organisationen oder sogenannte „liberale“ Muslime. Das Buch kann helfen, alle diese Bewegungen zu sortieren und zu bewerten. Anschließend können orientierungssuchende Muslime sich selber die Frage stellen und hoffentlich beantworten, ob sie wirklich Teil irgendeiner dieser Bewegungen sein müssen, um Muslim zu sein.
Aber ich würde es auch sehr gerne allen Nichtmuslimen schenken, die sich die Frage stellen, was denn eigentlich derzeit los ist in der muslimischen Gemeinschaft. Sofern sie bereit sind, in langen Zeiträumen zu denken und sich mit der Komplexität der Antwort auf ihre Frage auseinanderzusetzen, kann das Buch einen Beitrag leisten, den heutigen Zustand der Muslime verständlich zu machen.
IslamiQ: Warum ist die Thematik Ihres Buches im Lichte aktueller Debatten wichtig?
Murtaza: Ob das Buch wichtig ist, möge der Leser entscheiden. Inhaltlich setzt das Buch sich mit der an Muslime gerichtete Forderung auseinander, der Islam brauche eine Reformation, damit er endlich in der Moderne ankommt, womit natürlich immer die westliche Moderne gemeint ist.
Statt aber dieser Forderung zuzustimmen, wird in dem Buch aufgezeigt, dass die muslimische Welt sich bereits seit ca. 200 Jahren in einem Prozess befindet, der sehr viele Analogien zur Reformation aufweist. Die Salafiyya, ob nun die literalistische Salafiyya in Gestalt der Wahhabiten, die reformistische Salafiyya von Jamal Al-Din Al-Afghani und Muhammad Abduh, die ideologische Salafiyya wie beispielsweise die Muslimbrüder oder die literalistisch-ideologische Salafiyya wie sie von Sayyid Qutb und Muhammad Abd Al-Salam Faradsch vertreten wird, alle diese Bewegungen haben mit dem Protestantismus die Forderung *sola scriptura* (Allein durch die Schrift!) gemeinsam. Und das ist nicht die einzige Parallele zur christlichen Reformation.
In einem weiteren Schritt wird in dem Buch dann die Reformation kritisch betrachtet. Die Behauptung, dass die Reformation Europa erneuert habe, wird in dem Buch dekonstruiert. Die Reformation hat vielleicht den Menschen im Mittelalter etwas mehr Freiheit gebracht, aber sie hat das Christentum nicht erneuert, sondern gespalten und schreckliche Kriege bewirkt. Erst als beide Konfessionen erschöpft waren, war der Westfälischen Frieden 1648 möglich. Dies war damals zugleich eine Bankrotterklärung an die Friedenskraft des Christentums.
Daher muss auch an all jene, die von den Muslimen eine Reformation einfordern, zurückgefragt werden, ob sie dabei auch den Blutzoll der Reformation berücksichtigt haben. Sie sehen, das Buch will vor allem ein unbequemes Buch sein. Aber das Problem ist ja nicht, dass die Muslime eine Reformation benötigen, sie durchleben gerade eine, inklusiver all der Gewalt, die mit einem solchen Prozess verbunden ist.
In dem dritten Teil des Buches soll daher ein alternativer Weg aufgezeigt werden, der sich eben nicht an der europäischen Geschichte orientiert, da man geschichtlichen Ereignissen keine universale Bedeutung zuschreiben
kann. Vielmehr wird aus der islamischen Theologie, der islamischen Rechtswissenschaft, dem Sufismus und der islamischen Philosophie ein Lösungsweg aufgezeigt, wie wir Muslime einen Weg aus der aktuellen Gewaltspirale herausfinden. Ob dieser Lösungsweg vernünftig ist, darüber erhoffe ich mir Rückmeldung von den muslimischen Lesern.
IslamiQ: „Beim Lesen guter Bücher wächst die Seele empor.“ Warum trifft dieses Zitat von Voltaire auf Ihr Buch zu?
Murtaza: Ich denke muslimische Leser dürfte es erfreuen, dass das Buch keinen Forderungskatalog aufstellt, wie es so viele andere Bücher tun, die sich derzeit mit dem Islam beschäftigen. Vielmehr wird die Skizze einer Debattenkultur – inhaltlich und strukturell – aufgezeichnet, die es Muslimen unterschiedlichster Richtung wieder ermöglichen soll, vernünftig miteinander zu sprechen, damit die Umma als Akteur wieder Handlungsfähig wird.
Wo andere Autoren muslimische Gelehrte und Moscheegemeinden als Problem diffamieren, werden in dem Buch gerade die Moscheegemeinden und kompetenten Gelehrte als eine wichtige Komponente betrachtet, um erneut zu einem muslimischen Wir zu gelangen.
IslamiQ: Ihr Buch „Die gescheiterte Reformation“ in drei Wörtern zusammengefasst?
Murtaza: Integer, differenziert, konstruktiv.
IslamiQ: Eine spezielle Frage für Sie: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass der Islam keine Reformation im Sinne Luthers braucht, aber sich erneuern muss. Wie ist das zu verstehen?
Murtaza: Weder braucht der Islam eine Reformation noch eine Erneuerung, denn der Islam ist kein Subjekt. Wohl aber, muss die Umma sich erneuern. Was der Islam ist und morgen sein wird, hängt entscheidend davon ab, wie wir Muslime den Qur’an und das Lebensmodell des Propheten Muhammad interpretieren und verstehen. Es gibt Missstände in unserer Gemeinschaft, die kann man weder ignorieren, noch kann man sie hinweg reden. Also müssen wir in einem immerwährenden Prozess selbstkritisch uns gegenüber sein, Fehlentwicklungen wahrnehmen, thematisieren und uns von ihnen reinigen. Dieser Prozess stellt zugleich die Erneuerung der Muslime dar, da wir nur so den Idealen im Qur’an und in der Sunna gerecht werden. Und dann verändert sich natürlich auch die Außenperspektive des Islam. Von daher erklärt sich der Untertitel des Buches, auf den sie ansprechen.