Die Konflikte in der Türkei haben auch politische Nachwirkungen in Deutschland. Die Verzögerung des Vertragsabschlusses in Niedersachen zeigt dies deutlich. Sven Speer schreibt, wieso dieses Politikum eigentlich überhaupt keins ist.
Die Vertragsverhandlungen zwischen dem Staat und islamischen Gemeinschaften in Hamburg und Bremen mögen nicht leicht gewesen sein, aber im Vergleich zur aktuellen Situation in Niedersachsen waren sie ein Kinderspiel. Der Vertragsabschluss war ein erklärtes Ziel der Landesregierung aus SPD und Grünen. Die rot-grüne Landesregierung hat sich zwar viel Zeit mit der Aushandlung des Vertrags gelassen, handwerklich war der erste Entwurf jedoch so mangelhaft, dass er vollständig überarbeitet werden mussten. Nun fällt die Entscheidung über den Abschluss des überarbeiteten Vertrags in eine Zeit des tiefen Misstrauens gegen den Islam und alles Türkische. Der Zeitpunkt könnte kaum ungünstiger sein.
Ein riskanter Vertragsabschluss?
Ein Vertragsabschluss ist für viele politisch Verantwortliche hoch riskant. Mit der auf den gescheiterten Putschversuch in der Türkei erfolgte Gleichschaltungspolitik samt Ausschaltung weiter Teile der Zivilgesellschaft in der Türkei hat die Skepsis gegen den Islam und alles Türkische weite Teile der Öffentlichkeit erfasst. Dagegen richten auch noch so viele Distanzierungen der Verhandlungspartner DITIB und SCHURA nur wenig aus. Die Politiker sind entsprechend zurückhaltend mit Zusagen. Niemand will den geballten Zorn der Islam- und Erdoğankritiker auf sich laden. Denn 2017 sind Wahlen im größten Bundesland Nordrhein-Westfalen und im Bund, 2018 dann in Niedersachsen selbst. Daher wurde selbst der demokratisch legitimierte Wechsel an der Spitze von SCHURA zum Politikum.
Die aktuelle Situation erscheint extrem, aber sie ist für Verträge zwischen Staat und Religion keineswegs beispiellos – vor allem nicht in Niedersachsen. Als die niedersächsische Landesregierung 1954 versuchte, staatliche katholische Bekenntnisschulen abzuschaffen, entbrannte in Niedersachsen der „kleine Kulturkampf“. Im Jahr 1955 verklagte die Bundesregierung das Land Niedersachsen auf Einhaltung des 1933 geschlossene Konkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich unter Adolf Hitler, das die katholischen Bekenntnisschulen garantierte. Der Streit wurde schließlich 1965 mit dem Abschluss eines Konkordats zwischen Niedersachsen und dem Heiligen Stuhl beigelegt. Vorher zerbrach an der Frage jedoch die Landesregierung aus SPD und FDP, so dass erst die folgende Koalition aus SPD und CDU das Konkordat endgültig abschloss.
Nichts neues in Niedersachsen
Damals ging es um viel: Bis heute sind viele staatliche Schulen im Westen Niedersachsens katholische Bekenntnisschulen, teilweise ohne Ausweichmöglichkeit für nichtkatholische Schüler (1954 waren es 351 Bekenntnisschulen). Einige private katholische Schulen werden zudem höher vom Staat bezuschusst als andere Privatschulen. Die Zuschüsse an diese privaten „Konkordatsschulen“ belaufen sich auf 30 Millionen Euro pro Jahr. Hinzu kommen knapp 9 Millionen Euro an so genannten Staatsleistungen, die das Land aufgrund des Konkordats jährlich an die Bistümer der katholischen Kirche zahlt. Ferner wurden garantiert: der katholische Religionsunterricht und die katholische Theologie, der Schutz der religiösen Feiertage, die Seelsorge, die Berücksichtigung des religiösen Empfindens der katholischen Bevölkerung im Rundfunk, der Einzug der Kirchensteuer usw. Eine Kündigungsklausel enthält das Konkordat nicht.
Heute geht es um scheinbar wenig. Der materiell entscheidendste Punkt des gesamten Vertrags sind die insgesamt 500.000 Euro, die die beiden islamischen Gemeinschaften vom Land Niedersachsen bekommen sollen – aufgeteilt und vorerst begrenzt auf fünf Jahre. Hinzu kommen Absichtserklärungen mit rechtlich zweifelhafter Bindungskraft, bspw. bei Vertretung in Gremien. Alles andere gibt nur wieder, was längst Rechtslage oder gängige Praxis ist: die Geltung des Grundgesetzes, Religionsfreiheit, islamischer Religionsunterricht, islamische Theologie und die Aufhebung des pauschalen Kopftuchverbots für Lehrerinnen.
Symbolgeladene Debatte
Worum es im Vertrag nicht geht – auch wenn Kritiker dies häufig behauptet haben: Der Vertragsentwurf schreibt weder die Einrichtung islamischer Gebetsräume an Schulen vor, noch verpflichtet sich das Land dazu, Koranschulen zu finanzieren. Manche Regelungen in den ersten Entwürfen sahen tatsächlich eine Privilegierung der islamischen Gemeinschaften vor, waren aber wohl auf fachliche Unkenntnis zurückzuführen – und sind mittlerweile korrigiert oder ganz gestrichen.
Der Vertrag ist im Übrigen genauso wenig „Staatsvertrag“ wie die in Hamburg und Bremen geschlossenen Verträge. Anders als der Heilige Stuhl sind die islamischen Gemeinschaften in Niedersachsen keine Völkerrechtssubjekte, die Staaten ähnlich wären. Die Verträge sind bloß öffentlich-rechtliche Verträge. Das muss nicht weniger wert sein. Schließlich ist auch bei tatsächlichen Staatsverträgen sehr umstritten, welche Geltungskraft sie haben. Letztlich zeigt das Etikett „Staatsvertrag“, worum es bei den Verträgen eigentlich geht: Sie sind ein Symbol.
Als Symbol entfalten die Verträge eine besondere Bedeutung vor allem deshalb, weil für die meisten islamischen Gemeinschaften die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts in weiter Ferne liegt. Der Zusatz „K.d.ö.R.“ stellt gerade für kleine Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften einen Prestigegewinn dar. Für die meisten islamischen Gemeinschaften ist der Körperschaftsstatus derzeit unerreichbar, z.B. weil sich Diyanet in der Türkei nach wie vor Mitspracherechte bei DITIB sichert und der Extremismusverdacht gegen die IGMG nur langsam schwindet. Ein Vertrag wirkt in so einer Situation als Ersatz für den Körperschaftsstatus und als „staatliche Anerkennung light“.
Unterschiede zur christlichen Kirche
Anders als die katholische Kirche damals, können die islamischen Gemeinschaften heute einen Abschluss des Vertrags in Niedersachsen nicht erfolgreich einfordern. Jeder fünfte Niedersachse ist Katholik und Katholiken haben regelmäßig gezeigt, dass sie sich politisch mobilisieren lassen – mitunter auch gegen die eigene Kirche. Tausende gingen im „kleinen Kulturkampf“ gegen die damalige Landesregierung auf die Straße. Vermeintliche „Islamisierung“ des Abendlandes hin oder her: Die deutschen Muslime sind schlicht zu wenige und zu gering organisiert, um politisch einen Ausschlag geben zu können – und das obwohl Wahlergebnisse in Niedersachsen häufig sehr knapp sind.
Ebenfalls anders als die katholische Kirche sind die islamischen Gemeinschaften keine unverzichtbaren Partner des Staates in wichtigen gesellschaftlichen Fragen. Aufgrund der Angst in der Bevölkerung vor Salafismus und Terrorismus wird der Extremismusprävention zwar eine hohe Bedeutung eingeräumt. Aber dennoch haben die islamischen Gemeinschaften kein Drohpotential durch Verweigerung in diesem Bereich. Denn sie kooperieren längst mit dem Staat bei Präventionsprojekten, bei der Ausbildung von Imamen oder beim Religionsunterricht. Ein Rückzug aus den Kooperationen ist für die Religionsgemeinschaften keine Option, da Bayern bspw. zeigt, dass in fantasievoller Auslegung des Grundgesetzes islamischer Religionsunterricht auch ohne islamische Gemeinschaften durchgeführt werden kann – zumindest vorerst.
Aktuelle Situation in Niedersachsen
In Niedersachsen ist jüngst neue Bewegung in die Auseinandersetzungen über den Vertrag gekommen. Die Landesregierung aus SPD und Grünen, die oppositionelle FDP-Fraktion, DITIB und SCHURA haben angekündigt, öffentliche Diskussionen zu veranstalten, um mit den Bürgern in das Gespräch über den Vertrag zu kommen und für den Vertrag zu werben. Die CDU, die zu ihrer Regierungszeit gemeinsam mit der FDP die Kooperation mit den islamischen Gemeinschaften begonnen hatte, hat hingegen angekündigt, über die Verträge vorerst nicht weiter zu sprechen. Die Position der CDU-Fraktion mag sich noch ändern. Zumindest gibt deren Vorsitzender, Björn Thümler, einen Sammelband mit dem Titel „Wofür braucht Niedersachsen einen Vertrag mit muslimischen Verbänden?“ heraus.
Wir erleben die absurde Situation, dass ein Vertrag, der nicht viel enthält, zu einer Schicksalsfrage für Niedersachsen oder gar Deutschland stilisiert wird. Wir erleben darüber hinaus, dass die islamischen Gemeinschaften, die von weiten Teilen der Öffentlichkeit als Bedrohung eingestuft werden, in Wahrheit politisch nur Bittsteller sind. Die Politik hingegen, die das Heft des Handelns vermeintlich in der Hand hält, ist mutlos aufgrund der anstehenden Wahlen.
Die bisherige Auseinandersetzung hat dem Vertrag inhaltlich nicht geschadet, sondern ihn fachlich verbessert. Ein Abschluss in naher Zukunft erscheint dennoch unwahrscheinlich – und damit auch der Abschluss von Verträgen in den übrigen Bundesländern. Dennoch: Wenn der Vertrag mit den islamischen Gemeinschaften im Laufe des nächsten Jahrzehnts abgeschlossen wird, haben sie bis zur Unterzeichnung nicht mehr Zeit gebraucht als die katholische Kirche.