David Theo Goldberg ist renommierter Philosoph und führender Gelehrter der kritischen Rassismustheorie. Im IslamiQ-Interview beantwortet er Fragen rund um den steigenden Rassismus und der Islamophobie und wie es zu diesem Punkt kommen konnte.
IslamiQ: Die Themen „Rassismus“ und „Rasse“ werden weltweit heftig diskutiert. Allerdings besteht eine bemerkenswerte Uneinigkeit bezüglich des Inhalts beider Begriffe. Wie definieren Sie die Konzepte „Rasse“ und „Rassismus“?
Goldberg: „Rassismus“ meint den aktiven Ausschluss, die Ausbeutung, Eliminierung (durch Vernichtung oder Umsiedlung), Erniederung und Vertreibung von Menschen aufgrund ihrer angenommenen Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe, der bestimmte Charakteristika und Verhaltensweisen zugeschrieben werden.
Rassismus, so lehrt uns Stuart Hall, erzeugt Rasse, nicht umgekehrt. Der Drang zur Unterwerfung und Ausbeutung benötigt „Außenseitergruppen“, auf die er sich richten kann und erzeugt sie auf der Grundlage erfundener oder stereotypisierender Verhaltens- und Wesenszuschreibungen.
IslamiQ: Worin besteht der Unterschied zwischen institutionellem und strukturellem Rassismus?
Goldberg: Institutioneller Rassismus wird durch organisationsinterne Regeln und Praktiken produziert und reproduziert. Die Regierung kann bspw. ein Gesetz erlassen, das Mitglieder einer ethnischen Gruppe von gewissen Arbeitsfeldern ausschließt. Eine Bank kann ihren Mitarbeitern nahelegen, Personen mit bestimmtem kulturellen oder ethnischem Hintergrund keine Kredite zu gewähren. Eine Zeitarbeitsfirma, obwohl auf den ersten Blick weltanschaulich neutral, kann einer internen Regel folgend nur Arbeitskräfte verleihen, die in unmittelbarer Nachbarschaft des Kunden wohnen. Solche Regeln reproduzieren, vor allem in ethnisch segregierten Stadtteilen, im Endeffekt Rassismus. Wird die Firma nun auf diese Wirkung hingewiesen, besteht aber darauf, ihre Praktikern fortzuführen und auszuweiten, können wir nicht mehr nur von quasi-institutionellem, sondern institutionell gewolltem Rassismus sprechen.
Struktureller Rassismus hat sich im Zeitverlauf in gesetzlichen Normen sowie den tieferen sozialen und institutionellen Strukturen niedergeschlagen und reproduziert so rassendiskriminierende Praktiken bzw. deren Auswirkungen immer wieder neu. Schwarze US-Bürger sind bspw. doppelt so häufig von Arbeitslosigkeit betroffen wie ihre weißen Mitbürger – und zwar unabhängig von der aktuellen Wirtschaftslage. Dies ist das Ergebnis historischer Prozesse, die sich über die Zeit in tiefliegenden diskriminierenden sozialen Strukturmustern verfestigt haben. Dazu gehören u.a. rassisch segregierte Wohngebiete, unterschiedlich ausgestattete Bildungseinrichtungen, stark unterschiedliche Bildungsmöglichkeiten, ein schlechterer Gesundheitsstatus, höhere Kreditzinsen auf Immobilien- und Autohypotheken, was wiederum die Armutsquote unter schwarzen US-Amerikanern erhöht. Kommen wir noch einmal auf die Zeitarbeitsfirma zurück: Der Feststellung folgend, dass ihre interne Regelung diskriminierend wirkt, könnte sie diese zwar abschaffen, gleichzeitig aber darauf bestehen, dass ihr Firmensitz in einem sozial bessergestellten Stadtteil verbleibt. Für Arbeitssuchende aus den verarmten, hauptsächlich von Schwarzen bewohnten Quartieren bedeutet dies, dass sie nicht nur längere Anfahrtswege in Kauf nehmen müssen, um die Agentur zu erreichen, sondern ihre Stellensuche auch mit höheren Kosten verbunden ist, was zu einer weiteren Schlechterstellung führt. Institutioneller Rassismus wandelt sich hier zu offensichtlichem strukturellen Rassismus.
Im Gegensatz zu institutionellen und strukturellem Rassismus ist unter individuellem Rassismus die Handlung oder verbale Äußerung eines Individuuems zu verstehen, die , Einzelne oder Gruppen erniedrigt oder diskriminiert, zumindest aber darauf abzielt. Im Falle absichtlicher Diskriminierung ist Rassismus leicht erkennbar. Nun mag anfangs auch keine unmittelbare Absicht vorgelegen haben. Erlangt der Betreffende jedoch Kenntnis von der diskriminierenden Wirkung seines Handelns, weigert sich aber dennoch, dieses zu ändern, können wir dennoch von mehr oder weniger gezieltem Rassismus sprechen.
IslamiQ: Sie argumentieren, die Diskussion um Rasse und Rassismus sei in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg verstummt. Das Thema sei „lebendig begraben“ worden, indem man nur noch bestimmte Gruppierungen mit Rassismus in Verbindung gebracht habe. Rassismus, so wurde behauptet, existiere hauptsächlich auf individueller Ebene. Wie hat diese Wahrnehmung zu der Problematik des alltäglichen Rassismus in europäischen Gesellschaften beitragen?
Goldberg: Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Begriff „Rasse“ in Europa verpönt. In einigen Ländern, wie etwa Deutschland, war seine Anwendung auf Menschengruppen gesetzlich verboten. Das Konzept blieb der Beschreibung von Pflanzen und Tieren vorbehalten. Infolgedessen wurde es im Zeitverlauf immer schwieriger, rassistisch begründete Diskriminierung zu identifizieren. Da das Phänomen konzeptionell nicht erfasst werden kann, lassen sich seine alltäglichen Erscheinungsformen – von Verunglimpfungen und Beschimpfungen auf der Straße, in der Schule, am Arbeitsplatz bis hin zur rassistisch motivierten Gewalt – auch nicht eindeutig als rassistisch benennen. Mit der Zeit wurde rassistische Diskriminierung in Europa zwar zunehmend geächtet. Das Fehlen geeigneter Instrumente zur eindeutigen Identifikation des Phänomens macht seine Erkennung und Bestrafung jedoch schwer bis unmöglich.
In seinem bemerkenswerten Film „Angst essen Seele auf“ beschäftigte sich Fassbinder mit der absoluten Unmöglichkeit interethnischer Liebe im Deutschland der 1970er Jahre. Angst vor dem Unbekannten, dem Anderen, Ungewohnten, die wahrgenommene Grenzüberschreitung, die Herausforderung von bzw. Unfähigkeit, soziale Normen anzuerkennen: all dies entlädt sich in Zurückweisung, sogar Gewalt gegenüber den als nicht zugehörig Empfundenen. Misstrauen durchdringt den Alltag, vergiftet die sozialen Beziehungen und beginnt schließlich, an der Seele zu nagen.
Die europäische Wahrnehmung von Rassismus und Antisemitismus hat sich unter dem Eindruck der traumatischen Erfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg verständlicherweise erheblich gewandelt, auch wenn es heute eher unpopulär ist, darauf hinzuweisen. Gleichwohl verstellt dies den Blick dafür, wie durch Angst und Misstrauen gegenüber denjenigen, die man heute als nicht zugehörig betrachtet, die Fähigkeit beeinträchtigt wird, sich den allgegenwärtigen Formen von Rassismus zu stellen. Europäische Schwarze, Araber und Muslime im Allgemeinen haben für die gesellschaftliche Weigerung, dies zu begreifen, einen hohen Preis gezahlt.
Ein ethnisch homogenes Europa hat es noch nie gegeben. Seit Beginn der Neuzeit war Europa stets ethnisch und rassisch heterogenes Gebilde. Die reduktionistische Sichtweise einer ethnischen Homogenität musste durch wiederkehrende Phasen von Unterdrückung, durch Schließungsprozesse, Zurückweisung und ethnische Säuberungen unterschiedlichen Ausmaßes hergestellt und immer wieder reproduziert werden. In jüngster Zeit erleben wir die Exhumierung des lebendig begrabenen europäischen Rassismus.
IslamiQ: Hohe Arbeitslosen-, Kriminalitäts- und Schulabbrecherraten gerade unter jungen Angehörigen ethnischer Minderheiten werden häufig als Resultat ihres sozialen oder sogar kulturellen Hintergrunds gedeutet. Spielt in diesem Fall institutioneller oder struktureller Rassismus auch eine Rolle?
Goldberg: Wer in einer Gesellschaft als nicht oder nur teilweise zugehörig betrachtet wird, weil er bestimmte normative Erwartungen nicht erfüllt, neigt dazu, sich ihr zu entfremden. Dieses Muster verfestigt sich zu einem Reproduktionsprozess aktiver Ausgrenzung. Die Anzeichen können sehr subtil sein: Du bist willkommen, aber… du gehörst nicht wirklich zu uns, du sprichst unsere Sprache nicht (gut), du hast merkwürdige Bräuche, Sitten, usw. Alltagsrassismus, ein Begriff, der in den frühen 1990er Jahren von Philomena Essed geprägt und theoretisch sehr gut beschrieben wurde, zementiert die institutionelle und soziale Ordnung, die sich wiederum in alltäglichen Erfahrungen manifestiert. Die Schulzeit ist lähmend, Jugendliche werden gehänselt und schikaniert, nicht beachtet und zurückgewiesen. Das soziale Leben ist auf den engen Kreis der eigenen peer group begrenzt. Die Beschäftigungsfähigkeit der jungen Leute ist dramatisch begrenzt. Aus dem Problemkind wird das kriminelle Element. Durch diese entscheidenden Erlebnisse und bestimmenden Strukturen ist der Weg von der Schule ins Gefängsnis für die Angehörigen einer gezielt ins Abseits gedrängten oder wenigstens implizit ethnisch gekennzeichneten Gruppe vorgezeichnet.
Mangelnde Bildung oder Schulversagen begrenzen die Arbeitsmöglichkeiten, wofür den Gescheiterten die alleinige Schuld zugewiesen wird. Strukturen und Institutionen werden dabei weder einer kritischen Betrachtung unterzogen geschweige denn mitverantwortlich gemacht. Lebenschancen werden durch fehlende Arbeits- und Weiterbildungsmöglichkeiten begrenzt. In diesem Teufelskreis wird das Gefühl des sozialen Versagens und der Nichtzugehörigkeit immer wieder reproduziert.
Das ist natürlich eine Verallgemeinerung. Menschen mit unterschiedicher sozialer Herkunft und kulturellen Fähigkeiten machen auch unterschiedliche Erfahrungen. Im Allgemeinen wird hier aber deutlich, mit welchen Schwierigkeiten die als ethno-rassisch nicht zugehörig Gekennzeichneten – also Menschen mit anderer Hautfarbe, Kultur, religiösem Hintergrund, die die Landessprache (wenn überhaupt) nicht akzentfrei sprechen (als ob wir das alle täten) – auf struktureller und institutioneller Ebene, also in ihrem Alltagsleben, konfrontiert sind.
IslamiQ: Europäische Staaten nehmen für sich in Anspruch, Rassismus überwunden zu haben. Ihre Integrationspolitik gegenüber „nicht-europäischen“ ethnischen Gruppen basiert jedoch auf der grundsätzlichen Überzeugung von der Überlegenheit der eigenen Kultur und Werte. Glauben Sie, dass europäische Integrationspolitik einen fruchtbaren Boden für postmoderne rassistische Praktiken bereitet?
Goldberg: Nun, wie ich bereits ausführlich in meinem Buch dargelegt habe, sind europäische Gesellschaften nicht in einem richtungsweisenden, sondern in einem bedenklichen Sinne „post-rassistisch“. Rassismus ist nicht überwunden. Post-Rassismus ist vielmehr das zeitgenössische Gesicht, die momentane „Sozio-Logik“ von Rassismus. Europäische Gesellschaften sind in unterschiedlicher Weise und unterschiedlichem Grad post-rassistisch. Es mag Technologien, Gesetze, Regularien, Gouvernmentalitäten geben, die der Ächtung von Rassismus dienen sollen. Die gesellschaftliche Praxis sieht anders aus.
Europäische Politik gegenüber den Neuankömmlingen zielt nicht auf Integration, sondern auf Assimilation, bestenfalls auf einen undurchsichtigen Mix aus beidem. Integration nimmt die kulturellen Bindungen des Anderen ernst und begegnet ihnen respektvoll und sensibel, selbst denen, die im Widerspruch zu einigen Elementen der eigenen Kultur stehen. Es soll eine mehr oder weniger gemeinsame öffentliche Kultur geschaffen werden, wobei kulturelle Differenz im Privaten (zuhause, in religiösen Einrichtungen, in der Gemeinde, Vereinen usw.) – wenn auch allzu häufig im Namen der „Toleranz“ gefördert wird. Vor allem aufgrund ihres formativen und transfomativen Charakters werden Schulen zu einer Art umkämpftem institutionellem Raum.
Im Gegensatz dazu geht es bei der Assimilation darum, „sie“ zu „uns“ zu machen, obwohl vorab angenommen wird, dass das nie wirklich gelingen kann. Assimilierung zielt auf Homogenität, auf die Beseitigung des „Anderen“. Homogenität ist jedoch kein natürlicher Zustand – wer ist schon so wie jeder andere, nicht zuletzt innerhalb der eigenen Familie (man denke an das „Schwarze Schaf“ als Grenzfall der Familienzusammengehörigkeit). Sie geht also mehr oder weniger einher mit physischer, psychischer und kultureller Repression. In den meisten Fällen verlangen europäische Länder von Zuwanderern einen Sprachtest. Assimilierung setzt darauf, dass Einwanderer sich von ihren kulturell bedingten Kleidungs- und Anredeformen lösen (z. B. Burkas, Burkinis, Salams). Wenn Toleranz stets aus einer gesellschaftlichen Machtposition heraus gewährt (wer möchte schon „toleriert“ werden?), gelten diese Formen der Bekleidung und Begrüßung als intolerabel, inakzeptabel. Assimilierung – und in unwesentlich geringerem Maße Integration – werden zu dauerhaften sozialen Vorbedingungen für die Möglichkeit der Erneuerung von Rassismus in Europa.
IslamiQ: Burka- und Burkini-Verbote, Anti-Terror-Gesetze richten sich vor allem gegen Muslime. Muslime werden als illoyal, gewalttätig und aggressiv wahrgenommen. Dies ist das Ergebnis eines wachsenden anti-muslimischen Fanatismus im Westen. Was ist falsch an diesem marginalisierenden Ansatz?
Goldberg: Muslime waren, wie bereits erwähnt, die prägende Verkörperung des „Anderen“, von der sich Europa als weißes, christliches Gebilde abheben wollte. Die Gestalt des Muslims als gewalttätig, kriegslüstern, aggressiv, aber auch undurchsichtig und unberechenbar wurde aus der Zeit der Kreuzzüge übernommen und dann auf den Kontext der islamischen Expansion über Süd- und Osteuropa übertragen.
Diese Projektion des aggressiven Muslims erlebte um die Zeit des Zerfalls der Sowjetunion, des Mauerfalls, der Umwälzung des europäischen Selbstverständnisses und des Irakkrieges 1991 und nicht zu vergessen die Ausweitung des Gastarbeiterprogramms in verschiedenen westeuropäischen Staaten eine Wiederauferstehung. Zusätzlich angeheizt wurde sie im Verlauf der 1990er Jahre durch die Talibanbewegung und den Aufstieg Al-Qaidas, die sich buchstäblich in den Anschlägen vom 11. September 2001 entlud. Die Gestalt des Muslims wurde zur Europas Schreckgespenst. Es – bzw. er – konnte kurzerhand für die feindliche, abschätzige und oft repressive Haltung des Westens gegenüber Muslimen im Allgemeinen und Muslimen aus dem Nahen Osten im Besonderen, verantwortlich gemacht werden. Die „Festung Europa“ wurde ein Sinnbild für das „wehrhafte Christentum“. Diese Wagenburgmentalität ist seit langem eine paranoide, rassisch europäisierte Antwort auf das Gefühl des Kontroll- und Vorherrschaftsverlusts.
Stereotypisierungen und die Erklärung zum Sündenbock sind gängige Mechanismen um die marginalisierte Gruppe zu kontrollieren, ihre Entfremdung auszuweiten und aufrecht zu erhalten. Aber diese Logik ist implosionsgefährdet. Die Stereotype „des Muslims“ – undemokratisch, antimodern, gewalttätig, sexistisch, homophob, unberechenbar und unmodern – beklagt in erster Linie die Unfähigkeit „der“ Muslime, sich angeblich westlichen Werten und Normen anzupassen, die bei dieser Gelegenheit oft reingewaschen werden. Durch das hartnäckige Beharren auf dieser Karikatur wird wiederum sichergestellt, dass die Betroffenen gar keine Chance haben, sich zu entwickeln und das Ideal zu erreichen. Das Festhalten an der Figur „des“ Muslims als Prügelknabe garantiert, wenn auch konzeptionell nicht beabsichtigt, deren tiefgehende Entfremdung. Natürlich ist diese Logik kränkend. Vor allem ist sie jedoch widersprüchlich: sie (re-)produziert genau die Bedingungen, die sie eigentlich beseitigen will.
Wenn es wirklich um Eingliederung, gegenseitigen Respekt und Verpflichtung geht, müssen die diesen Zustand ermöglichenden Bedingungen genauer ausgearbeitet werden. Was heißt es, gastfreundlich, offen, respektvoll zu sein und den tiefverwurzelten moralischen Grundsätzen des jeweils anderen Verständnis entgegen zu bringen? Was bedeutet es, einander mit den jeweiligen Voraussetzungen anzunehmen, ohne das Gegenüber auf einen Teil einer homogenen, entmenschlichten Masse zu reduzieren. Kurz: was ist nötig, um ungeachtet aller Unordnung, Komplixität und Aggressivität aus gewissen Ecken in Würde zusammen zu leben? Wie kann eine Politik der Angst abgelöst werden durch eine Politik der gegenseitigen Verpflichtung, Entfremdung durch Hoffnung, Aggression durch Sensibilität, Verzweiflung durch Würde?
IslamiQ: Welche Art der Verbindung besteht zwischen Imperialismus und Rassismus? Ist Islamophobie die neue Form des Rassismus, die politische und militärische Interventionen des Westens in der islamischen Welt legitimiert?
Goldberg: Die Ursachen für Islamophobie sind so alt wie der Islam selbst. Das Christentum hat den Islam immer als Herausforderung, Bedrohung seiner Dominanz und Vorherrschaft, ein Gegengewicht zu seiner hegemonialen Stellung betrachtet. Islamophobie war schon immer eine Antwort auf diese wahrgenommene Bedrohung, eine Rechtfertigung für die Paranoia und Selbstlegitimierung einer gewaltsamen Reaktion.
Das Verhältnis von Islamophobie und westlichen Militärinterventionen ist, ebenso wie das von Rassismus und Imperialismus wenig eindeutig. Wir andere Rassismen dient Islamophobie gelegentlich als nachträgliche Legitimierung für Landnahme und die Plünderung natürlicher Ressourcen. Islamophobie kann im Foucauld’schen Sinne auch „produktiv“ sein, d. h. gewaltsame, zerstörerisch, offensive Interventionen überhaupt denkbar machen. In diesem Sinne schafft Islamophobie als Form des Rassismus die Subjekte, die vernichtet, ausgebeutet und ihres Landes bzw ihrer Bodenschätze beraubt werden müssen. Islamophobie, wie andere Rassismen, ist also eine nachträgliche Rechtfertigung für Handlungen und auf anderem Wege erzeugte Auswirkungen.
Islamophobie gehört, wie ich dargelegt habe, zu einer Reihe historisch ausgefeilter und gewandelter rassitischer Diskurse. Wie alle Rassismen gleicht sie einem Chamäleon, unterliegt Verschiebungen im Hinblick auf Ausdruck, Stil, Einsatz und Zielsetzung in Abhängigkeit von der vorherrschenden Kultur und lokalen Erfordernissen. Ihr Wiederstaufstieg in der westlichen Welt in ihrer gegenwärtigen Ausdrucksform seit den 1990er Jahren, besonders aber in der Zeit nach dem 11.September, hat die Vorstellung von kriegerischen Invasionen zur eigenen Sicherheit, Landnahme zur Gewährleistung der Versorgung mit natürlichen Ressourcen , Regimewandel zur Demokratisierung, Militarisierung zur Ausweitung geostrategischer Macht, Europäisierung um der (Nicht-)Zugehörigkeit willen, politische Steuerung und – wenn als wünschenswert betrachtet – Rückführung gleichzeitig geformt und legitimiert.
Diese wiederbelebte Islamophobie bildet also einen Strang des Gegenwartsrassismus neben anderen Formen wie auf die Hautfarbe bezogenem Rassismus und Antisemitismus, mit denen sie Schnittpunkte bildet, gelegentlich aber auch konkurriert. Sie bilden die drei Hauptausdrucksformen des europäischen oder europäisch inspirierten Rassismus. Solange Europa an seinem selbsterdachten Gründungsmythos und seinem sein Selbstverständnis bestimmenden Konzept festhält, werden diese Formen in verschiedener Art und Weise vorherrschend bleiben, immer wieder neu belebt und umgewandelt werden.
Das Interview führte Meltem Kural.