Es ist schwer von einer muslimischen Identität zu sprechen, wenn die Gläubigen in den unterschiedlichsten Umständen leben und es etliche Strömungen im Islam gibt. Doch trotz innermuslimischer Konflikte sehen sich Muslime als Umma. Salman Sayyid erklärt warum.
Die Auffassung, dass die muslimische Umma tief gespalten und zersplittert sei, wird von Muslimen und Nichtmuslimen gleichermaßen geteilt. Dies erscheint nachvollziehbar, betrachtet man nur die blutigen Bürgerkriege in Syrien, Jemen, Afghanistan und Libyen, wo sich Muslime unmittelbar gegenseitig bekämpfen. Auch die Art, in der Riad, Ankara und Teheran gegeneinander arbeiten, scheint ein Beleg für diese tiefe Spaltung zu sein. Zudem beruht das Mitgefühl, das notleidende Muslime erfahren, offenbar nicht auf objektiven Gesichtspunkten.
Während das Leid der Palästinenser innerhalb der muslimischen Community auf große Anteilnahme stößt, bleibt die Unterdrückung der muslimischen Rohingya in Burma weitgehend unbeachtet. Auch Muslime in Kaschmir, Tschetschenien und Ostturkestan hätten allen Grund darüber zu klagen, dass die Repressionen, denen sie ausgesetzt sind, kaum die notwendige Beachtung finden. De facto unterstützen Mitglieder der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) nichtmuslimische Behörden sogar vielfach bei der Verfolgung von Muslimen.
Neben ihrer Verzweiflung über die innermuslimische Un-Einigkeit sind viele Muslime in logischer Konsequenz fest davon überzeugt, dass eine Geschlossenheit der muslimischen Gemeinschaft nicht nur viele dieser zerstörerischen Konflikte beenden, sondern darüber hinaus dazu beitragen könnte, ihr Alltagsleben zu verbessern. Vor dem Hintergrund der großen Hoffnungen, die in die Einheit der Muslime gesetzt wird, stellt sich die Frage nach den Gründen für die bestehende Uneinigkeit. Um die Spaltung der Muslime zu verstehen, müssen wir uns zunächst damit befassen, auf welchem Wege innerhalb sozialer Gruppen ein Einheitsgefühl erzeugt wird.
Einheit ist ein Aspekt der kollektiven Identitätsbildung. Der Begriff bezieht sich auf soziale Bindungen, die ein „Wir-Gefühl“ unter Individuen schaffen und es ihnen erlaubt, sich als Gruppe wahrzunehmen. Dieses „Wir“ kann nicht nur auf eine einzige, sondern auf verschiedene Weise ausgedrückt werden. Einheit ist das Ergebnis der Überzeugungskraft, mit der dieses „Wir“ artikuliert wird. Die Einheit der Umma beruht also auf der Fähigkeit, mit Überzeugung „Uns Muslimen“ zu sprechen und entsprechend zu handeln. Damit eine solche Bekundung sinnstiftend sein kann, müssen Worten auch Taten folgen und zwar in einer Art und Weise, durch die sich andere Muslime unmittelbar angesprochen und in das „Wir“ einbezogen fühlen.
Das mächtigste Instrument zur Erzeugung eines solchen „Wir-Gefühls“ ist der moderne Staat, dessen vielfältige Tätigkeiten und Institutionen die dazu notwendigen Voraussetzungen und Strukturen schaffen. Durch sein Schulwesen, seine Sprachregelungen, Transportwege, seine Hoheit über die Tauschmittel, die Regelung wirtschaftlicher Aktivität und seine Anforderungen an die Nachweisführung erlangen bestimmte Formen des „Wir-Gefühls“ gegenüber anderen größere Bedeutung. Kollektive Identitätsbildung beruht zunehmend auf staatlichen Aktivitäten. Die staatlich geschaffenen Formen kollektiver Identität stimmen mit der Reichweite des Staates überein, während andere, darüber hinausgehende Formen des „Wir-Gefühls“ oder solche, die sich nicht mit der offiziellen Lesart decken, behindert bzw. in eine Randposition gedrängt werden. Dies geschieht auch beim Versuch der Schaffung eines „Wir-Gefühls“ unter Muslimen.
Gegenwärtig teilt sich die Umma in mindestens 57 muslimische Staaten und viele weitere nichtmuslimische Staaten mit hohem muslimischem Bevölkerungsanteil (Indien, Äthiopien, China, Russland, Frankreich und Thailand). Auf diese Weise sind viele Muslime in einen den Prozess der kollektiven Identitätsbildung eingebunden, bei dem der nationalen Zugehörigkeit Vorrang vor anderen Formen der Gruppenzugehörigkeit oder des „Wir-Gefühls“ eingeräumt wird. Es ist vor allem die Staatsangehörigkeit, die Arbeitsfähigkeit, Mobilität etc. gewährleistet. Angesichts der Vorteile, die nationale Identitäten mit sich bringen, ist es bemerkenswert, dass die ihrem Wesen nach transnationale muslimische Identität so weite Verbreitung gefunden hat. Die Schaffung eines muslimischen „Wir-Gefühls“ muss also in einem transnationalen Raum erfolgen, dessen Strukturen solche Bekundungen ermöglichen. Diese Beschränkungen ändern jedoch nichts daran, dass sich das Gefühl des „Muslim-Seins“ weltweit verbreitet hat und Muslime ihre Glaubensgeschwister in anderen Weltgegenden zunehmend bewusst wahrnehmen.
Aus einer ganzen Reihe von Gründen ist dieses Bewusstsein jedoch nicht einheitlich. Dies hängt zum einen mit historischen Verbindungen, zum anderen mit teilweise leichteren Kommunikationswegen zusammen, was aber dennoch nicht erklärt, weshalb die Unterdrückung einiger Muslimen stärkere Beachtung erfährt. Man sollte erwarten können, dass das Maß an Anteilnahme und Rückhalt der Muslime umso höher ist, je stärker eine muslimische Gruppe unterdrückt wird. Eine solche Skalierung birgt natürlich gewisse Schwierigkeiten. Wie lassen sich die Erfahrungen philippinischer Muslime auf Pälastinenser übertragen? Wie können wir das, was den Muslimen in Libyen widerfährt, mit den Geschehnissen in Tschetschenien vergleichen? Betrachtet man eine Reihe von Protestkampagnen, die nicht von Regierungen gestützt wurden, fällt auf, dass es sich dabei meist um Proteste gegen die Schmähung des Propheten (saw) handelte, etwa nach der Veröffentlichung der „Satanischen Verse“, dänischer Karikaturen oder Charlie Hebdo. Oder in Reaktion auf Ereignisse, bei denen Muslime Opfer militärischer Operationen von Kräften wurden, die als als Antwort auf Situationen in denen muslimische Zivilisten Opfer anti-muslimischer Militäroperationen wurden, bspw. in Bosnien, Gaza und Afghanistan.
Innermuslimische Konflikte hingegen besitzen bislang kein vergleichbar hohes Mobilisierungspotenzial (obwohl die jüngsten Versuche des Al-Saud-Clans und Takfiri-Gruppen, ihre Gegner de facto zu Nichtmuslimen zu erklären, das ändern könnte). Angesichts eines fehlenden Bestimmungsmaßstabs, der die Solidarität mit Unterdrückten regelt, flüchten sich Muslime in Metaphern. Oder anders ausgedrückt: Bestimmte Kämpfe werden über ihre konkrete, eine spezifische muslimische Gemeinschaft betreffende Situation hinaus auf unterdrückte Völker im Allgemeinen. übertragen. Dies ist einer der Gründe, warum so viele Menschen (Muslime und Nichtmuslime) weltweit in den Höhen und Tiefen des palästinensischen Kampfes für Gerechtigkeit viel mehr sehen. Die Mitglieder des African National Congress (ANC) in Südafrika konnten sich mit der palästinensischen Bevölkerung vor allem deshalb identifizieren, weil sie in deren Kampf eine Metapher für die andauernde kolonialistisch-rassistische Unterdrückung sahen. Die Bevölkerung des „globalen Südens“, die die Auswirkungen europäischer Kolonialherrschaft unmittelbar erfahren haben, sehen im Zionismus eine neue Spielart der europäischen politischen Ideologie, die Kolonialherrschaft und Besiedlung legitimiert. Indem dem Leiden muslimischer Gemeinschaften eine über den spezifischen Kontext hinausreichende Bedeutung zugeschrieben wird, lassen sich die Ereignisse von Muslimen als Ausdruck einer allgemeingültigen Wahrheit interpretieren.
Die Existenz innermuslimischer Konflikte und die Ungleichheit der Unterstützungspotenzials, dass muslimische Bevölkerungsgruppen unter anderen Muslimen mobilisieren können, ist kein Indiz für das Versagen der Umma. Die Uneinigkeit der muslimischen Umma ist das Ergebnis einer Spannung zwischen zwei Formen kollektiver Identifikation: Der auf die Zugehörigkeit zu international anerkannten Nationalstaaten bezogenen Form und jener, die sich nicht begrenzen lässt. Dieses Spannungsverhältnis offenbart sich sogar innerhalb der vielgeschmähten OIC, der größten überstaatlichen Vereinigung unter dem Dach der Vereinten Nationen. Die OIC basiert weder auf regionaler Nachbarschaft wie ASEAN oder OAS noch ist sie ein Zusammenschluss ehemaliger Kolonialgebiete, wie das britische Commonwealth. Sein Grundprinzip ist die Auffassung, dass die Zugehörigkeit zum Islam eine transnationale kollektive Identität begründet. Die gegenwärtige Uneinigkeit ist also kein moralisches Versagen der Umma, sondern ein Strukturmerkmal der gegenwärtigen Weltordnung. In Anbetracht der Tatsache, dass es weltweit nur wenige Mechanismen gibt, die das muslimische „Wir-Gefühl“ in nachhaltiger Weise fördern, ist es bemerkenswert, dass eine muslimische kollektive Identität, die sich nicht auf eine bestimmte Nationalität zurückführen lässt, weiter wächst.
Eben weil die Einheit der Muslime grundsätzlich möglich ist, wird ihr Fehlen beklagt. Muslime weltweit können die Umsetzung dieser Möglichkeit nicht erwarten.