Auf ihrer jüngsten Bundesdelegiertenkonferenz haben die Grünen ihre Behauptung, die „vier großen islamischen Verbände“ seien keine Religionsgemeinschaften, erneuert. Der IGMG-Generalsekräter Bekir Altaş erklärt, warum diese Position der Verfassung widerspricht.
Die 40. Ordentliche Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen fand am 11.-13. November 2016 in Münster statt. Dabei hat die Partei tatkräftig bewiesen, dass sie bereits seit geraumer Zeit religionspolitisch auf dem Abstellgleis steht. Ihr Beschluss „Religions- und Weltanschauungsfreiheit in der ofenen Gesellschaft“ beinhaltet hinsichtlich des Status islamischer Religionsgemeinschaften gravierende verfassungsrechtliche Fehler. Verglichen mit älteren Parteistandpunkten fügt sich dieser Umstand leider in eine gewisse Tradition ein. Auch die Grüne NRW hat sich auf ihrem Landesparteitag in Oberhausen am 02.-04. Dezember 2016 dieser Linie angeschlossen.
Das Prinzip der Trennung von Staat und Religion wird in Deutschland nicht annähernd so rigoros umgesetzt wie etwa im benachbarten Frankreich. Das historisch erwachsene Konzept des Grundgesetzes ist von Kooperation und Zusammenarbeit zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften geprägt. Diesem Verständnis haben wir es zu verdanken, dass religiöse Symbole wie das Kopftuch ihre Daseinsberechtigung im öffentlich-staatlichen Bereich haben und der Glaube nicht in den Privatraum verbannt wird. Unter der Voraussetzung der Neutralität und Nichtidentifikation ist der Staat befugt, mit Religionsgemeinschaften zu kooperieren, Verträge zu unterzeichnen oder gewisse Aufgaben gemeinsam zu meistern.
Außerdem gibt es eine Reihe von Rechten, deren Genuss der Staat den Religionsgemeinschaften gewährleisten muss. Dazu gehören insbesondere die Mitbestimmung an theologischen Fakultäten oder die Verantwortung des schulischen Religionsunterrichts. Die Glaubensinhalte einer Gemeinschaft sind nämlich von dieser selbst zu predigen, nicht vom Staat.
Wenn es um islamische Religionsgemeinschaften geht, wird diese verfassungsrechtliche Stellung kontrovers diskutiert. Die Grünen etwa behaupten, dass die als „vier großen Verbände“ bezeichneten Religionsgemeinschaften Islamrat, DITIB, VIKZ und ZMD keine Religionsgemeinschaften im Sinne des Grundgesetzes seien. Vielmehr hätten sie gewisse Voraussetzungen zu erfüllen, die teilweise von den Grünen frei erfunden sind.
Den Grünen zufolge sind die genannten Verbände bloße „religiöse Vereine“. Dies wird darauf zurückgeführt, dass sie sich untereinander angeblich nicht bekenntnismäßig, sondern nur in ihren „politischen und sprachlichen Identitäten aus ihren Herkunftsländern“ unterscheideten. Ein Blick auf die rechtlichen Voraussetzungen offenbart zügig, dass das Grundgesetz eine derart subjektive und unbestimmte Voraussetzung der bekenntnisorientierten Unterscheidbarkeit zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften gar nicht kennt. Die Anhänger der gleichen Religion oder gar der gleichen Konfession sind frei darin, sich in unterschiedlichen Gebilden zu organisieren. Dies stellt kein Hindernis für den Status als Religionsgemeinschaft dar. Das ist auch daran zu erkennen, dass die in erster Linie ethnisch unterschiedlichen christlich-orthodoxen Kirchen allesamt Körperschaften des öffentlichen Rechts sind.
Ein erheblicher Teil des aktuellen Beschlusses geht auf ein von Cem Özdemir und Volker Beck im Jahre 2015 veröffentlichtes Papier mit der sperrigen Überschrift „Den Islam und andere Religionen der Einwanderer ins deutsche Religionsverfassungsrecht integrieren – Gleiche Rechte für Muslime, Aleviten und Jeziden!“ zurück. Darin behaupten die Verfasser, dass das Bekenntnis in der Arbeit der vier großen Verbände nur eine „Randerscheinung“ mit „lediglich begleitendem, dienendem, peripherem Charakter“ sei und im Zentrum der Aktivitäten nationale, politische oder sprachliche Beweggründe stünden. Es ist ungewiss, ob es angesichts dieser haltlosen Behauptungen nützlich ist darauf hinzuweisen, dass bei den genannten vier Verbänden den Moscheen existenzielle Bedeutung zukommt. Nicht nur die Erfindung grundgesetzwidriger Statusvoraussetzungen, sondern auch die grob fehlerhafte Beschreibung realer Gegebenheiten durch die Grünen deutet auf einen vorsätzlichen Versuch hin, den islamischen Religionsgemeinschaften die ihnen zustehenden Rechte vorzuenthalten. Dass etwa Volker Beck wiederholt und trotz mehrfacher Hinweise das Wort „millî“ im Namen der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) fehlerhaft als „Nationale Sicht“ übersetzt, ist diesbezüglich nur eines von mehreren Indizien.
Darüber hinaus ist der Grünen-Beschluss auch von Widersprüchen befallen. „Demokratische Einmischung“ und eine starke Zivilgesellschaft mit politischer Teilhabe wird einerseits „gewünscht und gefördert.“ Andererseits werden gesellschaftspolitische Aktivitäten islamischen Verbänden bei der Statusfrage zur Last gelegt. Dabei dürfen diese kein Hindernis dafür darstellen, den Status als Religionsgemeinschaft zu erlangen. Bestes Beispiel dafür ist die Alevitische Gemeinde Deutschland e.V., die sich ganz konkret in die türkische Innenpolitik eingemischt und sogar eine Wahlempfehlung ausgesprochen hat. Dennoch kommt niemand auf die Idee zu hinterfragen, ob sie eine Religionsgemeinschaft ist – insbesondere nicht die Grünen.
Eines der vielbemühtesten Argumente gegen islamische Religionsgemeinschaften ist der des Auslandsbezugs, insbesondere im Falle der DITIB und ihrer Beziehungen zur türkischen Religionsbehörde „Diyanet“. Den Grünen zufolge verletze die „Anerkennung“ eines Verbands mit „struktureller Abhängigkeit von einem Staat und dessen jeweiliger Regierungspolitik“ als Religionsgemeinschaft das Prinzip der Trennung von Religion und Staat. Dieser Einwand ist ein sehr anschauliches Beispiel dafür, wie politische Bedenken in ein pseudo-juristisches Gewand hineingezwungen werden. Die erwähnte „strukturelle Abhängigkeit“ trifft viel eher auf die katholische Kirche und den Vatikan zu, was zu Recht aber nicht als Hindernis für den Status der katholischen Kirche diskutiert wird. Das Trennungsprinzip richtet sich in erster Linie an den deutschen Staat und beinhaltet keine Aussage über etwaige ausländische Einflüsse.
Die Religionspolitik der Grünen ist äußerst ungereift und unbestimmt, lässt zahlreiche Fragen offen und sorgt so für Verwirrtheit. Die Delegierten sind sich im Beschluss beispielsweise darüber einig, dass „innerkirchliche Religionskritik“ zu einer pluralistischen Gesellschaft dazugehöre. Der Notwendigkeit nach Pluralität in öffentlichen Diskursen bewusst, ist angesichts dieser Forderung zu hinterfragen, ob die Erzwingung von Religonskritik von Seiten der Religionsgemeinschaften nicht gerade diese Pluralität untergraben würde. Die Erhebung des Wahrheitsanspruchs liegt in der Natur der Religionen. Seine Relativierung bedeutet gleichzeitig die Aufgabe einer legitimen Position, wodurch keine Pluralität, sondern Homogenität erzeugt wird.
Eine andere vage Formulierung des Beschlusses lautet wie folgt: „Wir zielen nicht darauf ab, Religionsgemeinschaften in den privaten Raum zu verbannen. Allerdings wollen wir legitime Ansprüche von Menschen anderer oder ohne Religionszugehörigkeit auch gegenüber verfassten Religionsgemeinschaften sowie in Fragen der öffentlichen Repräsentation schützen und stärken.“ Welche Ansprüche hier gemeint sind und wie die Repräsentation von nicht organisierten Personen aussehen soll, bleibt offen. Die verfassungsrechtliche Privilegierung von Religionsgemeinschaften geht gerade darauf zurück, dass diese institutionalisiert und organisiert sind. Wenn sich Individuen nicht an einem Kollektiv beteiligen, ist das ein bewusstes Werturteil. Der Versuch, sie dennoch irgendwie zu repräsentieren, bedeutet demnach einen Bruch mit ihrem konkludent geäußerten Willen. Wer sich nicht organisiert, kann kollektive Rechte nicht geltend machen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet spielt die Zahl der durch die islamischen Verbände vertretenen Gläubigen auch keine Rolle. Daher ist der Einwand, die vier großen islamischen Verbände verträten nicht die Mehrheit der Muslime in Deutschland, abgesehen von ihrem Wahrheitsgehalt, irrelevant, da eine rechtliche Voraussetzung dahingehend, dass eine Religionsgemeinschaft ihre gesamte potentielle Adressatengruppe vertreten muss, nicht besteht.
Auch wenn sich der Grünen-Beschluss in erster Linie gegen die islamischen Religionsgemeinschaften richtet, trifft er in Wirklichkeit jeden Gläubigen einzeln. Es gibt Rechte, die nur durch die kollektive Religionsfreiheit ausgeübt werden können. Der Besuch bekenntnisorientierten Religionsunterrichts ist diesbezüglich ein wichtiges Beispiel. Deshalb verletzt der Beschluss der Grünen gleichzeitig auch die Religionsfreiheit jedes in diesen Verbänden organisierten Muslims.
Obgleich die Grünen es nicht versäumen zu betonen, dass den Verbänden der Weg zur Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts offenstehe und es hierfür unabhängiger Gutachten zur Prüfung der Voraussetzungen bedürfe, ist es doch sehr abwegig, dass sie über die bereits veröffentlichten Gutachten keine Kenntnis haben. Diese bescheinigen den Religionsgemeinschaften nämlich allesamt die Erfüllung der erforderlichen Statusvoraussetzungen. In Anbetracht dessen erscheint die zielgerichtete Diffamierung der Verbände durch die Grünen in einem ganz anderen Licht.