Schreckenstat in Berlin

„Unser Junge war nie religiös“ – Familie in Tunesien erschüttert

Anis Amri, der mutmaßliche Attentäter aus Berlin, ist tot. Seine Familie in Tunesien ist erschüttert über die Nachrichten – und versteht nicht wie es dazu kommen konnte.

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Anis Amri in dem mutmaßlichen Bekennervideo, © flickr/CC 2.0/ quapan

In einem schmucklosen Zimmer in einer kleinen Stadt in den tunesischen Bergen hat sich die Familie des mutmaßlichen Berlin-Attentäters um einen niedrigen Tisch versammelt. Der kalte Wind weht durch die offene Tür, durch die pausenlos Nachbarn kommen. Alle fünf Schwestern sind da, zwei seiner Brüder, die Mutter mit den Berbertätowierungen im Gesicht, der alte Vater, der die linke Hand reicht, weil ihm der rechte Arm fehlt. Auf dem Tisch steht ein Bild von Anis, dem Jüngsten von insgesamt neun Geschwistern. „Ich kann es gar nicht glauben, dass Anis so etwas gemacht haben soll“, sagt die 28-jährige Schwester Najwa. Er habe doch noch am Sonntag angerufen. Einen Tag, bevor er in Berlin einen Lkw in einen Weihnachtsmarkt gesteuert und mindestens zwölf Menschen getötet haben soll. 

„Wir können es alle nicht glauben“, sagt die Schwester, die mit Kopftuch und im Trainingsanzug in dem kleinen Zimmer sitzt. „Anis war nie religiös. Er hat getrunken, er hat gefeiert, er hat Popmusik gehört.“

Zusammen mit vier anderen Jungs aus dem Viertel macht Anis Amri sich den Erzählungen seiner Familie zufolge im März 2011 auf den Weg über das Mittelmeer. Der Arabische Frühling ist gerade erst drei Monate alt. „Wir haben alle nicht damit gerechnet, dass sich irgendwas hier ändert“, erzählt die Schwester Najwa. Die Familie habe das Geld für den Schlepper von der Küstenstadt Sfax Richtung Italien zusammengekratzt, damit er es schafft. Anis ist damals 17 Jahre alt und ihm droht eine mehrjährige Haftstrafe wegen Diebstahls. Er soll einen Lkw geklaut haben, so die Anklage. 

Zehntausende brechen damals an der tunesischen Küste auf. Viele kommen aus ähnlichen Verhältnissen wie Anis, aus kleinen Dörfern wie der 8000-Einwohner Stadt Oueslatia, wo die Straßen staubig sind, die Häuser niedrig und die Zukunft ungewiss. Sie hoffen auf ein besseres Leben in Europa. Für Anis Amri endet die Reise zunächst in einem Flüchtlingslager in Italien, dann folgen mehrere Jahre Haft in Italien, wie die Familie berichtet. 

Zwar gilt Tunesien weltweit als einer der größten Exporteure von Kämpfern für den Islamischen Staat (IS) – Amerikanische Denkfabriken schätzen, dass bis zu 7000 Tunesier aufseiten der Terrormiliz in Syrien, im Irak und Libyen kämpfen – aber die große Radikalisierungswelle habe erst in den Jahren nach der Revolution, zwischen 2011 und 2014 stattgefunden. Da war Anis Amri in Italien in Haft.

Als er aus der Haft entlassen wird, die italienischen Behörden ihn aber nicht abschieben können, reist er nach Deutschland weiter. Er habe regelmäßig angerufen oder Nachrichten über Facebook geschrieben, erzählt seine Schwester Najwa. Einmal habe er auch ein Paket geschickt: Ein Handy und Schokolade. „Aber es war schwer für ihn. Er kam nicht gut zurecht, er wollte zurück nach Tunesien, das hat er in jedem Telefonat gesagt.“ Er habe sogar einen Anwalt eingeschaltet, damit seine drohende Haftstrafe aus der Jugend ausgesetzt wird. Die Mutter holt ein Schreiben vom 9. September diesen Jahres hervor: Ein Zeuge widerruft darin eine frühere Aussage, in der er Anis belastet hatte. Die Familie nimmt ernst, dass ihr Junge wirklich zurückkommen will und versucht alles, ihm zu helfen.

„Was ich nicht verstehe“, sagt Najwa: „Wenn Anis wirklich so gefährlich war und observiert wurde, warum hat man ihn nicht festgenommen?“ Die Frage schwebt unbeantwortet im Raum. Ein paar Wochen nachdem Anis in Deutschland ankommt, schickt er den Schwestern ein Foto: Er mit einer jungen blonden Frau im Arm. „Seine Freundin“, habe er gesagt. Für die Familie wäre das in Ordnung gewesen. So wie es für ihn egal gewesen sei, ob seine Schwestern Kopftuchtragen oder nicht. 

„Ich will nur, dass die Wahrheit herauskommt“, sagt Anis Mutter Nur el-Houda. Sie weint die ganze Zeit mit den Schwestern: um den Sohn. „Wir beten mit den Opfern, so oder so.“ (dpa, iQ)

Leserkommentare

Charley sagt:
Der Junge war halt- und heimatlos und seine Persönlichkeitsschwäche hat er mit religiösem Fanatismus ersetzt. Durch "Allah" fühlte er sich gerechtfertigt und "stark" und war von seinem persönlichen Elend abgelenkt, war sich selbst los. Zur Vollendung dieser Hingabe vollbrachte er seine Bluttat.
25.12.16
10:50
Abdulkerim sagt:
@Charley: Wie kommen Sie jetzt darauf? Wenn der Anis ein Christ gewesen wäre, würde es heissen der Mann war psychisch gestört. Und bei einem Muslim ist das direkt die Religion. In meinen Augen war Anis ein Psychopath, das hat nichts mit ALLAH zu tuen.
26.12.16
10:21
Charley sagt:
@Abdulkerim: Wenn das Christentum Vorstellungen hätte wie der islam, dass also ein "Gotteskrieger", "Märtyrer" direkt ins Paradies gebeamt wird, so hätten Sie recht. Das Christentum hat aber diese Vorstellungen nicht. Insofern liefert der Islam eine Paradevorlage für solch Psychopathentum und - da bin ich mir ganz sicher - es werden noch viele weitere diese Vorlage nutzen. Das ist ein Problem, das ist eine Verantwortung des Islam. Dazu kommt noch, dass die Vorstellung, dass das Ich sich letztlich wieder völlig in Allah auflöst und es keine ewige Individualität gibt. Dieses Denken bewirkt die Verantwortungslosigkeit für das eigene Tun, denn man hat ja nur "Allahs" Willen erfüllt und gerade in dieser Ich-losigkeit ist man der vollendete Moslem. Dass dieses Verständnis des Islam möglich ist, zeigen die vielen Ausführungen über das Märtyrertum. Selbstverständlich lässt sich - als Möglichkeit - solch destruktives Verhalten islamisch "rechtfertigen". Genau das machen doch die Salafistenprediger. Und sie werden nicht "widerlegt"! Sie werden nicht von der islamischen Gemeinde "ausgemistet"! Dafür wären ganz andere Statements vonnöten. Sie kommen aber nicht, ... eben weil es nicht so klar ist, dass solch ein "Märtyrertum", das "Sterben im Kampf mit Allahu akbar-Gebrüll" nicht doch das Paradies garantiert. Sie können auch meine Kommentare lesen unter "Religionsvertreter verurteilen Berliner Anschlag". Da führe ich genaueres aus.
26.12.16
12:03
Charley sagt:
@Abdulkerim: Ehrlich gesagt, bin ich schockiert, wie wenig Sie wissen. Wissen Sie denn nicht, dass sogar die türkische Religionsbehörde Diyanet, die obersten islamischen Autorität in der Türkei, in Comics das "Märtyrertum" verherrlicht und anpreist: Lesen Sie doch mal (die Comics sind im Netz zu finden!) Comic 1: „Allah wird unsere Märtyrer belohnen“ Vater: Wie schön, ein Märtyrer zu werden! Sohn: Wie kann man denn Märtyrer werden wollen, Papa? Vater: Natürlich will man das! Wer will denn nicht in den Himmel kommen? Comic 2: Schwester: Ich würde gerne eine Märtyrerin werden! Bruder: Aber du kannst doch kein Soldat werden! Mutter: Wenn man es sehr stark wünscht, wird Allah eine solche Gelegenheit bieten Comic 3 (Sohn u Vater im Gespräch auf dem Friedhof): : Sohn: Wie schmerzhaft ist es, ein Märtyrer zu werden, Papa? Vater: Märtyrer empfinden keinen Schmerz, mein Sohn! DAS veröffentlicht die türkische Religionsbehörde! Und Sie sagen, Märtyrertum sei nicht islamisch! Das ist schrill und absurd!. - Es war nicht einfach Anis krank. Das wäre sehr billig und man könnte weitermachen wie bisher. Nein, Anis Vorgehen zeigt die hässliche Seite des Islam! Natürlich kommt eine psychologische Elendssituation dazu, das schrieb ich doch oben, aber genau war die islamische Vorstellung als "Märtyrer" den Jackpot gezogen zu haben, die - religiös gerechtfertigte! - Ausflucht, sich nicht weiter mit sich selbst auseinander setzen zu müssen.
26.12.16
12:20
Abdulkerim sagt:
@Charley: Wenn Sie sich mit dem Islam intensiver beschäftigen dann werden Sie sehen, dass man nicht einfach so "Märtyrer" wird in dem man Zivilisten ( Frauen und Kinder ) tötet. Und zusätzlich begehen die meisten Terroristen auch noch Selbstmord. Das ist ebenfalls absolut tabu im Islam. Was die türkische Behörde in der Türkei veröffentlicht weiß ich nicht, interessiert mich auch nicht da ich hier in Deutschland lebe. Anis war ein kranker und krimineller junger Mann. Mit dem Islam hatte er nichts zu tuen. Das sagen seine eigenen Geschwister. Denn derjenige der sich mit dem Islam auskennt wird niemals unschuldige Menschen umbringen. Wussten Sie dass man im Islam auch "Märtyrer" wird wenn man beispielsweise auf der Arbeit durch einen Unfall stirbt? Märtyrertum und Cihad kann man nicht so platt interpretieren wie es gerne die Medien machen. Der Islam ist viel komplexer und wundervoller als man es in den Massenmedien indoktriniert bekommt. Z.B. ist der große Cihad jeden Tag aufzustehen zur Arbeit zu gehen, fünf mal am Tag zu beten, die Familie zu ernähren etc. Der kleine Cihad ist Krieg. Und die ganze Welt spricht vom kleinen Cihad als ob das auf die meisten Muslime zutreffen würde. Die Terroristen sind doch Neu-Muslime die den Islam gar nicht kennen. Durch die fehlende Islam-Bildung lassen sie sich radikalisieren und töten unschuldige Menschen. Dabei spielt es für solche Psychopathen keine Rolle ob sie gerade Christen töten oder Muslime.
26.12.16
17:13
Ute Fabel sagt:
@Abdulkerim: Ich habe den Koran in mehreren Übersetzungen gelesen und ich finde ihn alles andere als wunderbar. Meine Meinung über den Islam hat sich nach der Lektüre der Originaltexte wesentlich verschlechtert. Die blinde Hingabe an den Propheten wird als die absolute Kerntugend dargestellt. Selbstständiges Denken und kritisches Hinterfragen scheint hingegen nicht erwünscht. Die Allah-Gläubigen sind die Guten, die Ungläubigen die Schlechten - das zieht sich wie ein roter Faden durch den Koran. An mehreren Stellen wird Gewalt gegen Ungläubige gutgeheißen. Mohammed hat nach der religiösen Überlieferung auch die religiösen Kultobjekte der Andersgläubigen in Mekka zerstört - genau dasselbe also, was der IS in Palmyra und die Taliban in Afghanistan gemacht haben. Ich finde, dass der Koran in den Medien noch zu gut wegkommt. Die Menschen sollten viel mehr darüber aufgeklärt werden, dass das, was religiöse Extremisten im Namen des Islams machen bereits im Koran angedacht ist.
27.12.16
11:12
grege sagt:
Die Aussagen einiger Muslime zu diesem Terroranschlage offenbaren wieder einmal die typische Verantwortungslosigkeit. Die Terroristen sind nicht nur Muslime, sondern handeln auch aus religiöser Überzeugung und wurden von einem salafistischen Umfeld auch zu diesen Taten motiviert. Schon allein aufgrund dieser Tatsache ergibt sich hier ein Verbindung zur Religion. Was der Koran dazu sagt, ist mir ehrlich gesagt wurscht, da hier die Aussagen in alle Himmelsrichtungen gebogen werden können. Die Kreuzzüge haben mit der christlichen Lehre ebenfalls nichts gemein, dennoch können sich Vertreter der christlichen Religion auch nicht auf den Standpunkt berufen, dass die Kreuzzügler kranke Kriminelle waren, sondern müssen hier auch eine entsprechende Verantwortung zeigen.
27.12.16
17:58
Charley sagt:
@Adulkerim: Sicherlich, ich kenne auch Moslems, die ich für ethisch durchgebildete Menschen ansehe und vor deren Ethos ich Respekt habe. Das haben diese zumindest im Zusammenhang mit ihrem Muslim-Sein entwickelt. Und die islamische Welt war früher auch Hort hoher kultureller Werte. - Dass Sie sich nicht für die Türkei interessieren, ist nicht klug. Denn der Islam strotzt nur so von Regeln und Bestimmungen. Lesen Sie doch mal die Fatawa unter islaminstitut.de! Die Verfasser dieser Glaubensbestimmungen sind Islam-Profis. Und sie veröffentlichen absolut durch den Islam gerechtfertigte Regeln! - Nur weil die Moslems in Deutschland dem Gebot für islamtreue Moslems Apostaten pflichtgemäß zu töten nicht folgen, heißt doch nicht, dass diese Regel aufgegeben würde. Letzteres würde einen ja auch in Widerspruch zum Islam bringen. Ja, das ist ein Dilemma, nicht wahr? Und so ist der Islam voller Regeln, die z.T. absurd anachronistisch sind. Aber wer nur eine davon öffentlich aufgibt, bringt das ganze Gebäude zum Wackeln, weil der Islam auf Kadavergehorsam gegenüber Mohammend und dem Koran/Hadite beruht! Wehe, jemand stellt Mohammed, Allah oder den Koran in Frage. Schon die Lachverbote darüber sind pure Gewaltandrohung! Der Islam hat ein Problem und Gewalt ist durchaus islamisch zu rechtfertigen. - Lesen Sie doch bitte die Ausführungen von Johannes Disch von 13.12.16, 1:13 im Artikel "Heiratsalter – aus islamischer Perspektive". Die ethische Selbstbestimmung, eine Grundfeste des freien Menschen, ist im Islam durch den Druck der "Umma", Familien"ehre" usw. für Frauen nicht gegeben. Und so sind die "Ehren"morde plötzlich doch nicht so ganz "unislamisch". Ich glaube, Sie sehen "ihren edlen Islam" zu losgelöst von der folkloristischen Tradition und auch der dogmatischen Gesetzeslehre, die allesamt mit Macht an der islamischen Realität dran hängen. Es ist ja schön, wenn Sie ihre moralische Natur aus dem Islam unabhängig von diesen anachronistischen Kategorien bekunden, aber Sie können nicht garantieren, dass nicht plötzlich ein Moslem von diesen Kategorien geritten wird, oder gar dass das als "islamische Bewegung" aktiv wird. Davor warnen doch geschulte Islamkenner, dass Otto Normalverbraucher in Deutschland gar nicht ahnt, wie unvereinbar die reine islamische Lehre mit unserem europäisch-demokratischen Gemeinwesen ist. Dass da mit fatwata in Comics der offiziellen türkischen Religionsbehörde auch "Märtyrertum", "Gotteskriegertum" "gerechtfertigt" wird, ist nur die Spitze des islamischen Eisberges.
27.12.16
23:57
Charley sagt:
@Adulkerim: Sie schreiben: "Denn derjenige der sich mit dem Islam auskennt wird niemals unschuldige Menschen umbringen." - Ja, und wer entscheidet - nach welchen koranischen (?) Kategorien wer "unschuldig" und wer "schuldig" ist? Ja, besonders verwerflich ist es ja, wenn dabei auch Moslems zu Tode kommen. Wirklich? Nein, besonders verwerflich ist es, wenn bei den Toten unterschieden wird, ob es Moslems oder sonstige Gläubige oder auch Atheisten sind. Dass Moslems doch immer irgendwie eine "bessere Sorte Mensch" sind, ist schon eingebildet/rassistisch/Menschlichkeit verachtend!
28.12.16
0:11
Abdulkerim sagt:
Die Kreuzritter wurden von der Kirche zum heiligen Krieg gerufen. D.h. die gesamte christliche Welt hat quasi mitgemacht. Heute sprechen wir von ein paar Terroristen. Keine islamische Organisation oder Gelehrter heißt den Terror gut. Das gilt auch für kein islamisches Land. Ich kann euch die Bücher von Jürgen Todenhöfer u. Michael Lüders empfehlen. Da könnt ihr genau lesen wie solche Terror-Organisationen entstehen. Dann werdet ihr erkennen dass der Islam nichts mit Terrorismus oder Terroristen zu tuen hat. Der Islam ist eine wundervolle und friedliche Religion. An dieser Stelle werden sie wahrscheinlich die berühmten Verse zitieren wo es um die Kriegserklärung geht. Und ja, es war eine Kriegserklärung für den Propheten Muhammed (Friede sei auf ihn). Er wollte nämlich lange Zeit nicht gegen sein eigenes Volk in den Krieg ziehen. Jedoch haben sich die Araber von der neuesten abrahamischen Religion bedroht gefühlt. Blind vor Hass haben sie Muslime gequält und abgeschlachtet. Bis der Vers mit der Kriegserklärung kam. Durch den Siegeszug der Muslime ist Saudi Arabien zum Islam konvertiert. Zwangskonvertierung gibt es nicht im Islam. Sonst wären heute Länder wie Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Serbien, Kroatien, Armenien, Georgien, Spanien etc. muslimisch, weil sie jahrhundertelang unter islamischer Herrschaft standen.
29.12.16
4:14
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