Interview

„Stirb, bevor du stirbst“

Der Tod ist für viele Menschen nach wie vor ein unangenehmes Thema. Wieso das schon immer so war und warum Muslime im Diesseits „wandelnde Sterbende“ sein sollten, erklärt Scheich Hassan Dyck im Interview.

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12
2016
Hassan Dyck © iQ

IslamiQ: Es gibt nur wenige Dinge, in denen sich die Menschheit einig ist. Das Faktum des Todes ist eines davon. Trotzdem ist in der heutigen modernen Zeit der Tod weit weg vom Alltag. Ist das menschlich?

Scheich Hassan Dyck: Je mehr man sich des Todes bewusst ist, desto besser ist das Leben. Ich trage einen Turban auf dem Kopf, der zugleich auch mein Leichentuch ist. Im Falle meines plötzlichen Todes kann ich in ihm eingewickelt und begraben werden, wenn es nicht anders geht. Wichtiger aber ist: Durch das Leichentuch ist der Tod mein ständiger Begleiter. Immer wenn ich in den Spiegel blicke, sehe ich das Leichentuch auf meinem Kopf.

Der Prophet hat empfohlen, dass man jeden Tag über den Tod nachdenken soll. Wenn man nicht mehrmals täglich an den Tod denkt, dann ist der Glaube zu schwach. Er wird erst stark, wenn wir unter Druck stehen, wobei der Tod der größte Druck ist. Deswegen gibt es viele Menschen, die, wenn sie krank oder kurz vor dem Sterben sind, ihre höchsten spirituellen Erfahrungen erleben. Doch wenn sie wieder gesund sind, dann vergessen sie diese Erfahrung wieder und geben sich dem Weltlichen hin.

Der moderne Mensch ist geprägt von dem Wunsch nach Freiheit. Er vergisst, dass er ohne himmlische Hilfe nur durch materielle Dinge niemals Frieden und Rettung finden wird. Mit der Freiheit ist aber nichts anderes gemeint als die ungezügelte, grenzenlose Freiheit des Egos. Die Auswüchse einer maßlosen Ratio sehen wir heute. Wenn das Ego ungezügelt ist, frisst es sich irgendwann selbst auf. Es zerstört sich selbst.

Alle Religionen sind ursprünglich gekommen, um das zu verhindern. Ihr Ziel war es, das Ego zu zügeln, vor allem durch die Erinnerung an den Tod, das Jenseits und die Vergänglichkeit. Die meisten Religionen haben sich aber inzwischen mit dem modernen Menschen abgefunden und versuchen zu überleben. Die Ausnahme ist der Islam. Er hat die Kraft, sich der Verherrlichung des Egos entgegenzustellen. Dieser Widerstand ist auch der Grund, weshalb am Ego orientierte den Islam ablehnen.

Die Hingabe der Menschen zum Weltlichen und die ihre Unterordnung unter ihr Ego lässt sie in „Gafla“ (Unachtsamkeit) verharren. Was uns wieder zur Achtsamkeit zwingt, ist die Aussicht auf den Tod. Deswegen hat der Prophet auch gesagt: „Stirb, bevor du stirbst.“

IslamiQ: Was bedeutet das?

Dyck: Lassen Sie mich das am Beispiel Abû Bakrs (r) erklären. Einmal fragte der Prophet seine Gefährten „Wollt ihr einen wandelnden Toten sehen?“. Die Gefährten reagierten verwundert. „Schaut euch Abû Bakr an“, fügte der Prophet hinzu. Denn Abû Bakr (r) hatte alles gegeben. Anfangs war er reich, am Ende hatte er nichts mehr – außer Allah. Das war auch seine Antwort als ihn der Prophet fragte, was er denn seiner Familie übrig gelassen hatte. Abû Bakr (r) antwortete: „Allah und der Prophet sind genug für sie.“

Diese Stufe der Einsicht zu erfahren ist nur wenigen vergönnt. Nur wer einen geistigen Führer hat und nur wenn Gott es will, kann jemand in diesen Zustand gelangen. Einige Awliya (Heilige) haben dieses Ziel erreicht und dieses wahre Wort des Propheten umgesetzt. Sie haben sich absolut Allah hingegeben und wollen nichts mehr außer die Liebe zu Allah – und das in einem Maß an Aufrichtigkeit, dass Allah es annimmt. Diese Awliya sind Diener auf dem Weg des Propheten und führen seine Botschaft fort.

Hassan Dyck absolvierte sein Musikstudium in Berlin und lehrte und arbeitete danach in Indien. Heute erzählt er vor allem Geschichten (Sufi-,Derwisch- und Weisheitsgeschichten), wobei er sich selbst auf der Campanula – auch Cello d’amore genannt – begleitet.

Diese Stufe der Erkenntnis in seinem Leben zu erreichen, ist nicht Menschen bestimmt. Wichtig ist, dass man die Absicht dazu hat und sein Bestes tut, um dem Propheten zu folgen. Die meisten Menschen sterben dann, ohne dass sie vor dem Tod gestorben sind. Diese Menschen gelangen – inschallah – nach einer seelischen Reinigung auch ins Paradies. Die Hölle ist ein Ort der Reinigung, indem die Seele durch das Feuer geläutert wird. Denn etwas Unreines kann nicht in etwas Reines wie das Paradies eintreten.

IslamiQ: Hat der Tod mehr mit dem diesseitigen Leben zu tun als mit dem Jenseits?

Dyck: Die Erinnerung des Todes festigt nicht nur den Glauben, sondern dient auch dazu, zu untersuchen, was der Tod ist. Der Prophet hat gesagt „Wenn du stirbst, wachst du aus einem Traum auf“. Das heißt, was wir als reales Leben ansehen, ist nicht real. Das Leben spielt sich im Bereich der Sinne ab und ist nur eine Illusion, gerade deshalb weil es irgendwann aufhört. Eine reale Existenz ist etwas Dauerhaftes. Die einzige dauerhafte Existenz ist die Gottes. Deshalb sagen wir „Lâ ilâha illallâh“, es gibt nichts/keine Gottheit außer Allah.

IslamiQ: Wie stehen die heutigen Menschen dem Tod gegenüber?

Dyck: Mit großer Achtlosigkeit. Das gilt für die gesamte Menschheit einschließlich der Muslime. Die Ausnahmen sind Menschen, die im Zuge einer Todeserfahrung ihr Leben verändert haben. Bei allen anderen zählt die Absicht. Wer in der Absicht lebt, dem Beispiel des Propheten folgend ein besserer Mensch zu werden, dem wird geholfen und der wird auch im Jenseits belohnt werden.

Wenn wir sterben steht nicht unser Wissen oder wie wir uns bezeichnen im Vordergrund. Gott stellt uns nur die eine: „Wolltest du Mich? Hat es einen Augenblick gegeben, in dem du aus tiefstem Herzen dankbar warst dafür, dass Ich dich erschaffen habe? Oder hast du alles nur für dein Ego getan?“ Leider ist es so, dass sogar viele religiöse Menschen nur für ihr Ego arbeiten.

IslamiQ: Philosophen, Literaten und auch Sufis haben sich schon immer mit dem „ewigen Leben“ beschäftigt. Die Menschen versuchen, ihr Leben auf jede erdenkliche Weise zu verlängern. Wieso?

Dyck: Wir Menschen lieben das Leben, weil wir den Genüssen des Lebens verhaftet sind. Wir haben uns einfach an das Leben gewöhnt und können nicht loslassen. Selbst wenn wir viel leiden, ziehen wir es vor, zu leben als zu sterben. Zum anderen – und das ist viel wichtiger – lieben wir das Leben, weil wir tief in unserer Seele wissen, dass es kostbar ist. Denn es ist schließlich ein Geschenk Allahs. Das Kostbarste am Leben ist es, Allah zu erkennen und zu sehen, dass eigentlich jeder Atemzug unendlich kostbar ist. Die meisten sind sich dessen nicht bewusst, aber tief in der Seele weiß man es. Ich denke, Allah hat das so in der Natur des Menschen angelegt. Der Prophet David (a) fragt einmal seinen Herrn, warum er alles erschaffen hat und bekam zur Antwort: „Ich war ein verborgener Schatz und wollte erkannt werden.“

IslamiQ: Gibt es Methoden und Wege, sich des Todes zu erinnern?

Dyck: Ich würde jedem empfehlen, sich ein paar Mal am Tag hinzusetzen und über den Tod zu sinieren, damit die Illusion des Lebens ins Bewusstsein gerufen und die andere Seite gestärkt wird. Unser Scheich hat aber nicht so sehr darauf gedrungen, bestimmte Methoden anzuwenden. Ein Grund dafür ist, dass wir in einer sehr verfallenen Zeit leben, von der der Prophet auch gesprochen hat. Er hat diese Endzeit beschrieben als Zeit der Dschâhiliyya, also der Unwissenheit und Ignoranz. Deshalb müssen die Gläubigen heute vor allem in der Lage sein zu tragen und zu ertragen, nämlich sich selbst mit all ihren Fehlern und ihre Mitmenschen samt ihrer schlechten Seiten.

Eine wichtige Methode der Tarikas, sich des Todes gewahr zu werden, ist die Chilwat (Einsiedelei). Während der Chilwat löst sich der Murid auf Geheiß des Scheichs für eine Zeit von 40 Tagen von seinem Alltag und zieht sich völlig aus dem weltlichen Leben zurück. In dieser Zeit wird der Tod praktisch simuliert. Indem man sich von allem Weltlichen löst und sich seiner Spiritualität widmet, schwächt man das Ego bis es stirbt. Das Ergebnis ist die absolute Freiheit vom eigenen Ich.

Das Interview führte Ali Mete.

Leserkommentare

Charley sagt:
@Ute Fabel: Alkohol verändert das Selbst auch bis zur Unkenntlichkeit. Und dennoch sagt und tut der Betrunkene in voller Inbrunst Dinge, die ihm nachher, wieder nüchtern, total peinlich sind. Dass das Selbst leibbedingt ist, wird so deutlich. Es gäbe noch tausende Beispiele. Ergo: Unser Bewusstsein ist ein am Leib u besonders Gehirn gespiegeltes, ein dadurch bedingtes, der Leib ein mehr oder weniger verzerrter Zerrspiegel (siehe Alkohol). Allerdings erklärt aus den Bedingungen heraus keine Wissenschaft die Tatsache des Bewusstseins. Vielmehr setzen diese es immer voraus. Sich unabhängig vom Leib zu erfahren ist Erfahrung nach dem Tod (was schon Nahtoderfahrungen zeigen) oder Ergebnis der Bewusstseinserkraftung. Da ist nichts Suggestiven dabei. Absolut voraussetzungslos. Das braucht keine Offenbarungsreligion.
27.12.16
17:22
Johannes Disch sagt:
Hervorragend! Endlich kommt hier mal ein spiritueller (Sufi)Muslim zu Wort. @Charley Happy New Year 2017. Tolle Ausführungen von Ihnen über Maharshi, etc. Danke dafür.
03.01.17
22:22
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