Was ist los in Deutschland? Die Syrien-Expertin und Publizistin Kristin Helberg spricht im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) über Scheindebatten, Toleranz und den Reifeprozess eines Einwanderungslandes.
KNA: Frau Helberg, Sie schreiben in Ihrem aktuellen Buch, dass es Deutsch-Syrer gibt, die AfD wählen würden.
Helberg: Ich denke, dass viele Deutsche mit Migrationshintergrund – Türken, Iraner, Syrer -, die hier seit langem leben, inzwischen Angst haben, dass ihr „guter Ruf“ darunter leidet, dass sehr viele Geflüchtete gekommen sind. Dass sich etwa hier lebende arabischstämmige Menschen nicht mehr trauen, in der Öffentlichkeit Arabisch zu sprechen, weil sie Angst haben, für einen Flüchtling gehalten zu werden. Die Stimmung ist gekippt. Und deswegen mag es den einen oder anderen geben, der die AfD wählt. Ohne sich klar zu machen, dass er ein großes Eigentor schießt.
KNA: Sie fordern, dass europäische Regierungen den „moderaten“ Islam unterstützen müssten, um den „radikalen“ zu bekämpfen.
Helberg: Das Wichtigste ist, weniger Debatten über Scheinprobleme wie Burkas zu führen. Das Verfassungsgericht legt unsere Gesetze religions-positiv aus. Wenn die katholische Kirche Krankenhäuser, Kitas und Schulen betreibt, dann müssen wir das im Gegenzug, wenn wir unserer Verfassung folgen, auch Muslimen zugestehen. Wir brauchen einen „deutschen“ Islam. Also einen Islam, der in der Schule in einem Bekenntnisunterricht vermittelt wird. Moschee-Vereine sollten besser einbezogen werden in die Seelsorge, in Pflege und Jugendarbeit. Es wäre wichtig, dass wir die hier lebenden Muslime nicht in eine innere Migration treiben, so dass sie sich zurückziehen. Wir brauchen sie dringend für die Vermittlung zu den neu ankommenden Geflüchteten.
KNA: Ein Wort zu den Frauen: Sie sagen, der Koran sei eine emanzipatorische Schrift.
Helberg: Im historischen Kontext, ja. Wir müssen Dokumente, die aus einer bestimmten Zeit stammen, mit den gesellschaftlichen Vorstellungen und Regelungen jener Zeit vergleichen. Wenn wir auf die arabische Halbinsel im 7. oder 8. Jahrhundert blicken, dann war die Tatsache, dass Frauen im Koran zu eigenen Rechtssubjekten erhoben
wurden, also etwa erben konnten und andere Rechte bekamen, ein Riesenfortschritt. Als muslimische Frauen erben durften, bekamen Frauen in Europa nach dem römischen Recht gar nichts, solange es einen männlichen Erben gab.
KNA: Welche Situation haben wir heute?
Helberg: Wenn wir den Koran neben unser Grundgesetz legen, dann ist das eine Methode, bei der jede historische Schrift nur verlieren kann. Legen Sie das Alte oder Neue Testament oder die Texte Martin Luthers, Immanuel Kants neben unser Grundgesetz. Da ist vieles nicht mit unserer heutigen Vorstellung von Gleichberechtigung zu vereinbaren. Unsere vielgepriesenen Errungenschaften – Reformation, Aufklärung, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit – kamen in Europa jahrhundertelang nur weißen, reichen Männern zugute. Es dauerte 155 Jahre von der Französischen Revolution bis zum Frauenwahlrecht in Frankreich.
KNA: Wie kann man das Menschen näher bringen, die Angst vor dem Islam haben?
Helberg: Das beste Rezept gegen Vorurteile und Angst ist persönlicher Kontakt: Muslime kennenlernen, die Frau mit dem Kopftuch nicht fürchten, sondern ansprechen. Das halte ich für wesentlich. Denn die Ängste sind dort am größten, wo Menschen keinen Kontakt zu Geflüchteten oder Muslimen haben. Angst ist ein nachvollziehbare Gefühl, sie sollte einen aber nicht lähmen. Denn dann wird der andere zur Projektionsfläche: Jeder dunkelhaarige Mann ist dann ein potenzieller Vergewaltiger. Wir sehen in ihm nicht einen jungen Mann, der womöglich ähnlich denkt und fühlt wie der eigene Sohn.
KNA: „Deutschland steht auf der Kippe“, schreiben Sie. Helfen da Kontakte weiter?
Helberg: Ja. Und ich erkenne nach dem Anschlag von Berlin einen Reifeprozess. Die rechtsnationalen Reflexe waren vorhersehbar, werden aber zunehmend durchschaut. Dank der intensiven Diskurse sind viele Bürger weiter als noch vor einem Jahr bei der Debatte um die Kölner Silvesternacht. Wir entwickeln langsam ein Selbstverständnis als Einwanderungsland. Faktisch sind wir das schon lange, vieles ist im Alltag aber noch nicht selbstverständlich. Das ist der Punkt, an dem wir erwachsen werden müssen. Noch stecken wir als Einwanderungsgesellschaft in der Pubertät fest, in der wir uns fragen, wer wir sind oder sein wollen.
KNA: Können Sie das näher erläutern?
Helberg: Es ist selbstverständlich, dass eine Gesellschaft sich weiter entwickelt und dass alle Mitglieder diesen Prozess prägen. Viele Menschen wollen, dass Deutschland so bleibt, wie es in ihrer Nachbarschaft ist. Oder dass Deutschsein bedeutet, so zu sein wie sie selbst. Das ist zwar nachvollziehbar, geht aber an der Realität vorbei. Deutschland war noch nie eine homogene Abstammungsnation, der Versuch, sie dazu zu machen, führte zum Holocaust. Denken Sie daran, wie wir vor zwei Generationen gelebt haben, was Ihre Großmutter sagen würde zu vielen Dingen, die wir heute anders sehen. Die deutsche Gesellschaft ist immer in Bewegung. Das ist normal und wichtig in globalisierten und dynamischen Zeiten wie der heutigen.
KNA: Wie lautet Ihr Rat?
Helberg: Wir sollten uns nicht so schnell persönlich angegriffen fühlen und uns nicht vor Veränderungen fürchten, sondern diese mitgestalten. Ein Beispiel: Wenn eine Kita sagt, sie verzichtet auf Schweinefleisch oder insgesamt auf Fleisch, weil die Esserei sonst so kompliziert wird, dann ist das eine einzelne pragmatische Lösung und nicht das Ende des Abendlandes. Es fordert niemand, Schweinefleisch in Deutschland zu verbieten. Es wäre gut, etwas gelassener zu werden. Alles, worauf es ankommt und was nicht verhandelbar ist, steht im Grundgesetz. Sei es die Gleichberechtigung der Frau oder die Freiheit des Glaubens.
KNA: Wie lässt sich das verwirklichen?
Helberg: Wesentlich ist, dass meine Freiheit, die Dinge so zu tun, wie ich sie für richtig halte, gleichzeitig die Freiheit der anderen Menschen ist, es anders zu machen. Dazu braucht es Toleranz. Und Toleranz beginnt dort, wo es weh tut. Viele halten sich für tolerant – bewegen sich aber nur unter Gleichgesinnten. Toleranz bedeutet, dass ich Dinge ertragen muss, die mir gegen den Strich gehen und die ich nicht nachvollziehen kann. Das fällt vielen Leuten schwer, aktuell vor allem gegenüber Muslimen.