Wie sollen sich Muslime im Krieg verhalten und was erlaubt der Dschihad und was nicht? Diesen und vielen anderen Fragen geht der amerikanische Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Sohail Hashmi im IslamiQ-Interview nach.
IslamiQ: Wie ist die koranische Haltung zu Krieg und Frieden?
Prof. Dr. Sohail Hashmi: Im Koran und in der Sunna gibt es eine interessante Zweiteilung. Während der mekkanischen Zeit, d. h. etwa während der ersten 13 Jahre, wird die Kriegsfrage weder im Koran noch in der Sunna behandelt. Das ist ziemlich bemerkenswert. Tatsächlich antwortete der Prophet auf die Frage seiner Anhänger, ob der Einsatz von Gewalt zulässig sei, mit dem Satz: „Uns wurde nicht befohlen zu kämpfen.“ Prinzipiell kann man also sagen, dass die mekkanische Periode ausnahmslos von gewaltlosem Widerstand geprägt war. Nach der Auswanderung nach Medina änderte sich dies jedoch.
Was der Koran anfangs gestattet, ist die Selbstverteidung, also die Anwendung von Gewalt zum Schutz der eigenen Person, der Familie und der eigenen Gemeinschaft vor anhaltender Verfolgung. Islamische Gelehrte sind sich weitgehend einig darüber, welche Verse diese Veränderung zwischen der mekkanischen und der medinensischen Zeit herbeigeführt haben. Während die ersten [damals offenbarten] Verse noch eine reine Erlaubnis darstellen, macht es eine Reihe weiterer Verse dann sogar zur religiösen Pflicht eines Muslims, Selbstschutzmaßnahmen zu ergreifen.
Die Sure Tawba, die allgemein als eine der letzten offenbarten Suren gilt, enthält zwei sehr wichtige Passagen. Vers 9/5, der berühmte „Schwertvers“, legitimiert scheinbar Strafexpeditionen der Muslime gegen die auf der Arabischen Halbinsel verbliebenen Polytheisten, die seit der Frühzeit des Islams gegen die Muslime gekämpft hatten. Ihnen sollte nur die Möglichkeit zur Konversion, nicht aber zur Beibehaltung ihres Glaubens gelassen werden.
Der zweite wichtige Vers, der sogenannte Dschizya-Vers (9/29), verpflichtet die Muslime scheinbar zum Kampf gegen die Schriftbesitzer, d. h. Juden und Christen, bis zur deren Unterwerfung. Sobald diese ihre Verpflichtung zur Entrichtung der Dschizya anerkennen, wird ihnen der Zimmi-Status verliehen, das bedeutet, sie können ihre Religion und deren Gesetze beibehalten, müssen jedoch die muslimische Vorherrschaft akzeptieren und die Dschizya entrichten.
Es gibt also eine Art zeitabhängigen Verlauf in der Entwicklung des koranischen Standpunkts zur Kriegsfrage. Die Annahme einer diesbezüglich von der medinensichen Epoche vollkommen unterscheidbaren Sichtweise in der mekkanischen Periode ist meiner Ansicht nach nicht korrekt. In beiden Phasen wird der Einsatz von Gewalt als Ultima Ratio aufgefasst. Während der mekkanischen Zeit war sowohl aus koranischer Sicht als auch nach Einschätzung des Propheten noch kein Zustand, der ein gewaltsames Vorgehen gerechtfertigt hätte, erreicht. In Medina jedoch gab es keinen anderen Ausweg mehr, als die Politik des gewaltlosen Widerstands aufzugeben und zu Selbstverteidigung mit kriegerischen Mitteln zu greifen.
Betrachtet man den Koran und die Sunna in ihrer Gänze, so denke ich, stellt man fest, dass die einzig legitime Form der Gewaltanwendung im Islam in der Selbstverteidigung im Angriffsfalle besteht, als quasi letztes Mittel. Insofern ähnelt die islamische Einstellung zum legitimen Gewalteinsatz im Allgemeinen und Krieg im Besonderen in vielerlei Hinsicht der (abendländischen) „Lehre vom gerechten Krieg“.
IslamiQ: Sie argumentieren, dass es zahlreiche Übereinstimmungen zwischen der islamischen Kriegsethik und der westlichen „Lehre des gerechten Krieges“ gibt. Warum glauben Sie, dass ein solcher Vergleich notwendig ist?
Hashmi: Der Grund dafür ist, dass der Dschihad für die, ich würde sagen meisten Menschen in der westlichen Welt, selbst hochgebildete Wissenschaftler, die sich mit den ethischen Fragen von Krieg und Frieden beschäftigen, einen diametralen Gegensatz zur abendländischen Auffassung eines gerechten Krieges darstellt. Mit anderen Worten: Beide Konzepte repräsentieren für sie ganz unterschiedliche Denkansätze bezüglich der Moral des Krieges.
Muslimische Wissenschaftler der Moderne – und so auch ich – halten das für eine Fehlannahme. In englischsprachigen Veröffentlichungen oder in Rundfunkmedien wird der Begriff „Dschihad“ – oft polemisch – mit „heiliger Krieg“ übersetzt. Das erste, was der Journalist sagt, ist: „Dschihad heißt ‚Heiliger Krieg‘.“ Es ist ein heiliger, kein gerechter Krieg. Dieser ist im Hinblick auf Ziele und Kriegsgründe sehr eng umgrenzt. Ein „Heiliger Krieg“ dagegen wird als Angriffskrieg verstanden, der dem Zweck dient, die eigene Religion zu verbreiten oder Gottes Willen zu vollstrecken. Ich denke, diese Vorstellung müssen wir widerlegen.
Dabei muss man jedoch vorsichtig sein. Die Auseinandersetzung mit dem Konzept des Dschihads dauert bereits seit 1400 Jahren an und wird sehr breit ausgelegt. Wenn wir vom Dschihad sprechen, können wir uns auf den Koran und die Sunna des Propheten beziehen und versuchen herauszufinden, welche Handlungsanweisungen sich für Muslime daraus ergeben. Aber wir haben auch das historische Erbe. Die Entwicklung dieses Erbes – ich würde es „Dschihad-Tradition“ nennen – begann etwa 150 bis 200 Jahre nach dem Tode des Propheten und wurde von Rechtsgelehrten konzipiert, die die verschiedenen islamischen Rechtsschulen entwickelt haben. Nun, aus unterschiedlichen Gründen deuteten diese Herren den Dschihad sowohl als Defensiv- als auch als Offensivkrieg. Wir können nur darüber spekulieren, weshalb sie sich grundsätzlich auf den Dschihad als Angriffskrieg konzentrierten und damit der Idee vom „Heiligen Krieg“ eine gewisse Legitimität verliehen haben.
Viele Muslimen sind heutzutage der Meinung, dass der Dschihad natürlich ein heiliger, von Gott befohlener Krieg sei. Ich glaube, die meisten Muslime verstehen den Dschihad heute als Akt der reinen Selbstverteidigung, der von jeher Grenzen hatte.
Diese Auffassung unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht vom westlichen Verständnis eines „Heiligen Krieges“. Ein „Heiliger Krieg“ ist offensiv, nicht defensiv, weitestgehend frei von (moralischen) Grenzen. Wer Gottes Willen vollstreckt, dessen Handlungen unterliegen keinerlei Beschränkungen. Man kann willkürlich einfach jeden bekämpfen. Diese Ansicht ist gefährlich und, denke ich, zu trennen von der Idee eines gerechten Krieges. Deshalb – um Ihre Frage zu beantworten – ist es so wichtig, sich Begrifflichkeiten und Konzepten zu bedienen, die im Westen verstanden werden.
IslamiQ: Kann die Unterdrückung und Verfolgung z. B. im Gaza-Streifen oder der West-Bank als Grund für den Bruch mit islamisch-ethischen Verhaltensnormen gelten?
Hashmi: Diese Frage lässt sich in Kürze nur schwer beantworten, denn sie betrifft eine selbst unter Experten umstrittene Frage der Kriegsethik: Behalten die Regeln der Kriegsführung unter allen Umständen, also selbst im Falle einer existenziellen Bedrohung des eigenen Lebens oder des Fortbestands der Gemeinschaft ihre unumstößliche Gültigkeit, oder können sie in außer Kraft gesetzt werden?
Ich weiß, dass einige Muslime mit Blick auf die Lage der Palästinenser und anderer unterdrückter Muslime, z. B. Tschetschenen, so argumentiert haben. Mit dieser Idee bewegt man sich meiner Ansicht nach jedoch auf dünnem Eis. Der Verweis auf einen Ausnahmezustand oder eine militärische Notwendigkeit öffnet allen denkbaren Willküraktionen Tür und Tor. Ich meine deshalb, dass Muslime unter allen Umständen an die grundsätzlichen und unveräußerlichen Beschränkungen gebunden sind, die ihnen das islamische Kriegsrecht auferlegt, und dass diese nicht zugunsten eigennütziger Erwägungen verändert werden dürfen. Diese Beschränkungen betreffen das Töten unschuldiger Zivilisten – also Frauen, Kinder, alle nicht unmittelbar an den Kampfhandlungen Beteiligte – sowie die Art, wie muslimische Soldaten den Kampf führen. Selbstmordattentate stellen aus meiner Sicht eine klare Verletzung dieser Regeln dar.
Jemand, der den Dschihad führt, um sich selbst bzw. seine Gemeinschaft zu schützen, tut dies in der Absicht zu leben, nicht, um sich selbst zu töten. Wie Sie wissen, verurteilt das islamische Recht Selbstmord aufs Schärfste. Diese Taktik ist also aus zwei Gründen in keiner Weise zu rechtfertigen.
Erstens richten sich Selbstmordanschläge in den meisten Fällen nicht gegen Soldaten bzw. militärische Ziele und Einrichtungen. Die Opfer sind überproportional häufig Zivilisten, die Mehrzahl von ihnen Muslime. Die Angreifer töten also ihre eigenen Glaubensgeschwister. Der Einsatz von Selbstmord als Kriegswaffe ist aus meiner Sicht außerdem auch deshalb verwerflich, weil einige authentische Hadithe eindeutig das Verbot der Selbsttötung auf dem Schlachtfeld belegen, und sei es nur zur Verhinderung des eigenen qualvollen Sterbens. Sich selbst zu töten ist in der islamischen Tradition also stark geächtet, und ganz sicher unzulässig für einen so genannten Mudschahid.
IslamiQ: Einig islamische Gelehrte sind, was den Selbstmord zu Verteidigungszwecken angeht, anderer Meinung.
Hashmi: Dafür gibt es zwei Gründe, die beide mit der breiten Kategorie der „Zarura“, der bereits erwähnten militärischen Notwendigkeit zu tun haben. Nach Auffassung dieser Gelehrten hebt eine „Zarura“ die im Dschihad normalerweise bestehenden Beschränkungen auf, da eine Ausnahmesituation vorliegt, die keine andere Handlungsmöglichkeit zulässt. Ich kann mich dem nicht anschließen. Denn wenn wir in die Geschichte schauen, stellen wir fest, dass muslimische Gelehrte ziemlich großzügig mit der Lockerung bestehender Verbote waren. Dazu musste nicht einmal ein echter Notfall eingetreten sein. Die Tatsache, dass die muslimische Seite dabei war, die Schlacht zu verlieren, genügte als Bedingung, um das Vorliegen einer „Zarura“ festzustellen. Das ist keine ethische Betrachtungsweise, das ist einfach Zweckmäßigkeit. Man befolgt die Regeln solange, wie die Dinge für die eigene Seite gut stehen. Sobald sich das Blatt aber wendet, wirft man sie über den Haufen. Diese Haltung ist aus moralischer Sicht wohl kaum vertretbar.
Wenn wir von der Idee einer ethischen Kriegsführung ausgehen, kommen wir nicht umhin, bestimmte Regeln unter allen Umständen einzuhalten. Andererseits stellt sich nämlich die Frage, wer die Entscheidung darüber fällt, ob und wann ein Ausnahmezustand eingetreten ist. Konkret werden die Anschläge auf Zivilisten zum einen mit den Taten des „Feindes“ begründet. Das islamische Recht verwendet dafür den Begriff „Mukabala bil-misl“, das Ergreifen von Vergeltungsmaßnahmen.
Außerdem, so heißt es zweitens, handele es sich bei den Zielen nicht um Zivilisten. Einige Gelehrte haben z. B. erklärt, in Israel gebe es keine Zivilisten; alle seien Besatzer, und da alle erwachsenen Israelis zum Wehrdienst eingezogen würden, seien sie infolgedessen legitime Ziele.
Meines Erachtens sind beide Argumente falsch. Wenn man nach dem Motto „Auge um Auge“ verfährt, handelt man nicht moralisch. Was ist das für eine Moral, wenn man die Frage, ob und inwiefern man nach moralischen Grundsätzen handelt, davon abhängig macht, wie der Gegner sich verhält? Das Argument, wonach es keine Zivilisten gibt, ist gefährlich, denn es öffnet den Weg zum totalen Krieg. Und genau das soll mit Regelungen für den Dschihad doch vermieden werden! In den klassischen Quellen findet man nirgends eine Erlaubnis für den totalen Krieg, für Angriffe auf Menschen ungeachtet der Frage, ob es sich dabei um Kombattanten oder Nichtkombattanten handelt.
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für die korrekte Kriegsführung im Islam betrifft die Unterscheidung zwischen denjenigen, die kampffähig und aktiv an den Kampfhandlungen beteiligt sind und denen, die nicht kämpfen. Frauen und Kinder wurden von jeher als Nichtkombattanten eingestuft und als Zivilisten betrachtet, die nicht direkt angegriffen werden dürfen. Zahlreiche Gelehrte schlossen auch Bauern, Mönche, Händler und Kranke in die Kategorie der verbotenen Angriffsziele ein.
IslamiQ: Ein weiterer heftig diskutierter Streitpunkt ist der Besitz von Massenvernichtungswaffen.
Hashmi: Leider findet man hierüber nicht viel, nur wenige Muslime haben sich detailliert mit dieser Frage beschäftigt. Ich habe weltweit Gelehrte dazu befragt. Wie ich herausfand, unterscheidet eine Mehrheit von ihnen offenbar nicht wirklich zwischen chemischen, biologischen oder atomaren Massenvernichtungs- und konventionellen Waffen. Man geht davon aus, dass Massenvernichtungswaffen zwar eine höhere Schlagkraft besitzen, im Kern aber nicht wirklich anders sind.
Ich halte das für eine sehr gefährliche Sichtweise. Massenvernichtungswaffen töten die unmittelbaren Opfer des Angriffs nicht nur auf grausame Weise, sie fordern auch weitaus mehr Tote als der Einsatz konventioneller Waffen. Hinzu kommt die Zerstörung der Umwelt, was ja aus islamischer Sicht ebenfalls ein wichtiger Gesichtspunkt ist. Schließlich hat der Einsatz von Massenvernichtungswaffen aufgrund der durch sie hervorgerufenen genetischen Mutationen generationsübergreifende Auswirkungen. Nicht nur die unmittelbar Betroffenen leiden ein Leben lang, sondern auch ihre Kinder, die zum Zeitpunkt des Angriffs noch nicht einmal geboren waren. Gerade aufgrund des Schadens, der von einer Generation auf die nächste übertragen wird, haben wir es hier mit ganz anderen Bedenken und ethischen Kategorien zu tun, als bei herkömmlichen Waffenarten.
Meines Erachtens ist auch die unter muslimischen Gelehrten mehrheitlich vertretene Position, wonach die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen als Abschreckungsmaßnahme zulässig sei, sehr gefährlich und moralisch nicht zu rechtfertigen. Können Sie sich einen Atomkrieg zwischen Indien und Pakistan vorstellen? Ein solcher Krieg würde Millionen Menschenleben fordern! Würden Sie in so einem Fall sagen: „Ja, die Entwicklung von Atomwaffen war gerechtfertigt, weil sie für 10, 15, 20 Jahre abschreckend gewirkt hat“? Ich glaube kaum, dass Muslime, egal unter welchen Umständen, Massenvernichtungswaffen akzeptieren können.
IslamiQ: Was halten Sie von der Behauptung, dass „wahre Muslime“ niemals willkürlich töten würden?
Hashmi: Ich glaube, islamische Gelehrte, vor allem solche, die eine sehr hohe Reputation haben, sind einhellig der Meinung, dass dies nicht von der islamischen Ethik gedeckt wird. Wenn man einmal anfängt, überall Ausnahmen zu machen, gerät das ganze Gebäude ins Wanken. Man zerstört im Grunde die Idee, dass es im Krieg auch Grenzen gibt. Damit beschreitet man einen sehr gefährlichen Weg.
Ich möchte hier keine Debatte über den Takfîr lostreten, also über die Frage, wer Muslim ist und wer nicht. Kein Muslim hat das Recht, einem anderen Muslim, der sich selbst als solcher bezeichnet, den Glauben abzusprechen. Als islamische Gelehrte und Ethiker können wir jedoch feststellen, dass die Taten einer Person nicht mit der Lehre und dem Verständnis vom Dschihad übereinstimmen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es gemäß der Dschihad-Tradition gewisse Kernprinzipien gibt, die jahrhundertlang galten und auch heute noch gelten.
Ich denke, einer der wichtigsten Schritte für Muslime ist die Gründung eigener juristischer Institutionen, die verbindlich festlegen können, was als Dschihad gilt und was nicht. Im Islam gibt es weder eine Kirche noch einen allgemein anerkannten Führer. Das ist sicher eine gute Sache. Ich würde mir aber Institutionen wünschen, die eine Interpretation übernehmen, einen Konsens entwicklen und sich im Namen der Muslime zu wichtigen Fragen der Internationalen Beziehungen, des Völkerrechts und im Besonderen zu Kriegsrechtsfragen äußern können. Die Organisation für islamische Zusammenarbeit (OIC) hat vor 32 Jahren für die Schaffung eines islamischen Pendants zum Internationalen Strafgerichtshof (ICJ) gestimmt. Dieser sollte sich aus hoch renommierten Gelehrten zusammensetzen, die gemeinsam über Fragen der Kriegsvölkerrechts und anderer für muslimische Staaten bedeutende Themen beraten und entscheiden sollten.
Leider wurde diese Einrichtung nie gegründet, weil einige OIC-Mitglieder die Charta dieser Organisation nicht ratifiziert haben. Es bleibt also weiterhin eine Idee, eine wichtige, aber verkümmerte Idee. Aber darum geht es, um die Schaffung eines verbindlichen Rechtsorgans, dass Terrorgruppen wie dem „IS“ klarmachen kann, dass ihre Taten in deutlichem Gegensatz zu den islamischen Gesetzen von Krieg und Frieden stehen.
Eine andere Möglichkeit, Terroristen zur Rechenschaft zu ziehen, ist das Völkerrecht. Wir dürfen nicht vergessen, dass Muslime im Großen und Ganzen das Völkerrecht anerkennen. Alle islamischen Staaten sind UN-Mitglieder und haben die Charta der Vereinten Nationen unterzeichnet. Das Völkerrecht ist für Muslime also bindend. Wir müssen internationale Behörden wie den Internationalen Strafgerichtshof oder den Internationalen Gerichtshof nutzen. Wir müssen deutlich machen, dass wir als Muslime an das Völkerrecht glauben und uns ihm anschließen können, weil es mit islamischen Prinzipien im Einklang steht.
IslamiQ: Kann man sagen, dass es in Bezug auf die islamische Kriegs- und Friedensethik einen innerislamischen Dissens gibt?
Hashmi: Meinungsverschiedenheiten gibt es, das bestreite ich nicht. Ich glaube aber, dass unter Gelehrten ein weitgehender Konsens herrscht. Abweichende Meinungen werden eher von Randgruppen vertreten, deren Pseudo-Gelehrte die islamischen Quellen in extremistischer Weise interpretieren. Im Verlauf der letzten 100 bis 150 Jahre zeigt sich innerhalb der Gelehrtenmeinungen des islamischen Mainstreams ein breites Einvernehmen. Die Hürden sind also nicht so hoch. Woran es den Muslimen fehlt, ist der politische Wille. Wenn es gelingt, diesen politischen Willen zu entwickeln oder zu wecken, werden wir feststellen, dass Gelehrte, die in der muslimischen Gemeinde weltweit hohes Ansehen und einen guten Ruf genießen, in vielen Bereichen der Kriegs- und Friedensethik weitestgehend übereinstimmen.
IslamiQ: Die Entwicklungen in Ländern wie Palästina, Syrien, Irak usw. werden mit großer Sorge verfolgt. Weitgehend unbeachtet bleiben die Konflikte in der Zentralafrikanischen Republik, Sudan, Nigeria, Ostturkestan oder Burma. Was ist die Ursache für diese selektive Wahrnehmung unter Muslimen?
Hashmi: Der Gedanke kommt ja nicht von ungefähr, dass die Medien, besonders die internationalen Medien, nicht wirklich von Muslimen gesteuert werden oder in muslimischen Ländern ansässig sind. Die westlichen Medien kümmern sich nicht um die Probleme in Zentralafrika. Afrikanische Angelegenheiten werden bekanntermaßen vernachlässigt. Das gleiche gilt für den Kaukasus. Selbst über schwere Kämpfe in Tschetschenien wurde in westlichen Medien kaum berichtet. Die Lage der muslimischen Rohingya in Burma ist noch so ein „Randproblem“. Die Medien formen nicht nur das Meinungsbild der Menschen im Westen, sie beeinflussen auch die Einstellungen der Muslime weltweit. Muslime hören und sehen BBC, CNN und all die anderen Kanäle. Wenn diese Medien nicht über diese anderen Konflikte berichten, woher sollen die Muslime dann ihre Informationen erhalten?
Es gibt eine wachsende muslimische Medienlandschaft. Einige leisten sehr gute Arbeit, haben aber nur begrenzte Mittel, die nicht vergleichbar sind mit denen der internationalen Medien. In vielen Fällen, denke ich, liegt es einfach an der mangelnden Berichterstattung. Das betrifft eine Fülle von Problemen, nicht nur die Frage nach Krieg und Frieden. Auch in Bezug auf Katastrophenhilfe, Dürre, Hungersnöte, Armutsbekämpfung bleiben einige Weltgegenden einfach unbeachtet. Für westliche Mächte sind sie nicht von Interesse.
Wir sprechen über die muslimische Umma und die Verpflichtungen eines Muslims gegenüber seinem Glaubensbruder. Doch letztlich sind wir in kleine Territorialstaaten zersplittert, von denen jeder seine ganz eigenen nationalen Interessen verfolgt. Die islamische Ethik muss also von Grund auf von einfachen Muslimen gefördert werden, die in NGOs und akademischen Kreisen organisiert sind.
Persönlich sehe ich es als meine Aufgabe, eine umfassende islamische Ethik der Internationalen Beziehungen zu entwickeln. Das ist eine sehr schwere Aufgabe, weil nur sehr wenige Leute in diesem Bereich arbeiten und noch weniger dieses Unterfangen für verfolgenswert halten. Sie sind davon überzeugt, dass Staaten auch weiterhin ihre Eigeninteressen verfolgen werden.
Dank des starken Drucks der Graswurzelbewegungen auf die staatliche Elite muslimischer Länder hat hier in den letzten Jahren aber eine Veränderung stattgefunden. Während dies Bosnien-Krieges waren die muslimischen Staaten wie gelähmt. Sie unternahmen nicht viel auf UN-Ebene, auch ihr Bemühen, als OIC Resolutionen zu verabschieden, blieb unwirksam. Doch der konzertierte Einsatz von Graswurzelbewegungen zwang die Staaten, aktiver zu werden. Letztlich, denke ich, hat diese Art der Druckausübung eine wichtige Rolle gespielt, weil muslimische Staaten damals bei westlichen Regierungen verstärkt auf das Ergreifen von Interventionsmaßnahmen drangen, um den Krieg in Bosnien zu beenden.
Das Interview führte Meltem Kural.