Minderheiten fordern und verdienen einen besonderen Schutz. Um sich in die Situation einer Minderheit hineinzuversetzen, bedarf es der Empathie und der Selbstkritik, meint der türkische Politiker Mustafa Yeneroğlu.
40 Jahre habe ich als Angehöriger einer Minderheit in Deutschland gelebt. Als Muslim habe ich hautnah erlebt, wie verletzend und aufreibend es ist, wenn der Islam und die Muslime pauschal als potentielle Bedrohung abgestempelt werden und Pluralität problematisiert, ja sogar von einem stetig wachsenden Teil der Bevölkerung als Gefahr betrachtet wird. Und ich weiß,wie eine ausgrenzende Rhetorik als Mittel der Identitätsstiftung auf dem Rücken von Minderheiten den gesellschaftlichen Frieden und Zusammenhalt gefährdet.
25 Jahre habe ich mich mit vielen anderen Gleichgesinnten gegen Ressentiments und Anfeindungen gegenüber Muslimen in Europa engagiert ohne der Versuchung der „Dämonisierung des Anderen“ zu erliegen. Wir haben uns beherzt denen entgegen gestellt, die sich als Hüter einer angeblich überlegenen Leitkultur verstanden und eine homogene Gesellschaft anstrebten, ohne zu erkennen, dass diese Illusion eigentlich einem gesellschaftlichem Alptraum gleichkam.
Die Quintessenz aus dieser Zeit war und ist, dass jemand der den Lebensstil des Anderen nicht respektiert, auch keinen Respekt für seinen eigenen Lebensstil erwarten kann. Hass und Abgrenzung vernebeln die Wahrnehmung und machen eine objektive Betrachtung sowie eine ausgewogene Analyse von gesellschaftlichen Herausforderungen unmöglich. So wird dann alles nur noch in Schwarz- und Weiß wahrgenommen, Grautöne blendet man gänzlich aus. Der Respekt vor anderen Lebensweisen wird infrage gestellt oder wütend als Auswuchs von naivem Gutmenschentum bzw. Selbstverachtung diffamiert. Die Sprache radikalisiert sich, findet dennoch wachsenden Zuspruch und vergiftet die politische Kultur. Zurecht fühlen sich diejenigen, gegen die sich die Wut richtet, bedroht. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird schwächer – und zwar nicht durch die Hand der vermeintlich Anderen, sondern durch das eigene Tun.
Um diesen verheerenden Teufelskreis besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Erfahrungen der Muslime in Deutschland. Die gegen Muslime gerichtete feindselige Rhetorik von Pegida, der NSU-Skandal, die Brandanschläge in Solingen und Mölln, fast 1000 Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte im Jahr 2016 – all das sind Folgen einer zügellosen Feindschaft eines Teils der Gesellschaft. Ähnliche Erfahrungen gibt es in vielen Staaten Westeuropas. Die Wahlergebnisse in Österreich sowie die Umfrageergebnisse für die anstehenden Wahlen in Frankreich und der Niederlande verheissen nichts beruhigendes. Erklärungsmuster wie die „Bewahrung vor dem kulturellen Untergang“ “ oder die „Verteidigung der Gesellschaft vor Überfremdung“ finden sich in ähnlicher Form auch in anderen Ländern wieder, wenn es darum geht, die eigene Empörung zu rechtfertigen. Der gesellschaftliche Frieden – auch in der Türkei – kann nur gewahrt werden, wenn wir uns dieser Muster bewusst sind und uns ihren perfiden Mechanismen durch die Stärkung unserer Empathiefähigkeit verweigern.
So lautstark wie wir uns gegen den Hass und die Diskriminierung gegenüber Muslimen in Europa erheben, genauso laut müssen wir der Diffamierung von Christen, Juden und anderen Lebensstilen in der Türkei widersprechen. Unabhängig davon wie Identitäten definiert wird, verbietet sich jede Form von Hierarchisierung. Diese Einstellung bildet das Fundament einer gleichberechtigten Gesellschaft und muss über der politischen Haltung, der Ideologie oder sonstiger Zugehörigkeiten stehen: Der Einsatz gegen Hass und Ausgrenzung ist ohne Alternative. Es ist an uns, der ausgrenzenden Empörung von „Gleichmachern“ und ihrem „Assimilationswahn“ mit Offenherzigkeit und Wertschätzung für unsere Vielfalt zu begegnen.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist nicht einfach. Die größte Schwierigkeit besteht darin, sich von den Herausforderungen unserer Zeit nicht einschüchtern zu lassen und uns bei der Lösung von Konflikten auf Prinzipien zu besinnen, empathiefähig zu bleiben und zu erkennen, wie negativ sich Hass und Ausgrenzung auf die gesellschaftliche Integration und gleichberechtigte Teilhabe auswirken. Selbstkritisch müssen wir hinterfragen, welche Auswirkungen der Volkszorn als globales Phänomen auf Minderheiten entfaltet, warum wir uns von selbigem immer mehr vereinnahmen lassen und nicht gerade aufgrund seiner verheerenden Wirkung uns zur versöhnenden Empathie anstrengen. Nur solange wir diese Fragen ruhigen Gewissens beantworten können und nicht reflexhafter Ablehnung verfallen, erkennen wir in der Wahrung unserer Vielfalt den Schlüssel für die Stärkung unserer Zusammenhalts.
Der Text entstand als Beitrag für die türkische Zeitung Yeni Şafak, erschienen am 4. Januar 2017. Die Übersetzung ist durch den Autor weiter überarbeitet worden.