In Italien haben islamische Verbände und Regierung einen „nationalen Pakt für einen italienischen Islam“ geschlossen. Ist die staatliche Einmischung ohne Kritik anzunehmen? Dr. Milena Rampoldi geht dieser Frage nach.
Das demokratische und weltoffene Italien verändert sich. Die Gründe sind die internationale politische Lage, die Kriege im Nahen Osten, die Flüchtlingskrise, die steigenden Arbeitslosigkeit und die demographischen Probleme. Italien verwandelt sich immer mehr in ein gespaltenes Land: einerseits die Menschlichkeit, Offenheit und Solidarität vieler Menschen, vor allem auch mit Flüchtlingen, die sie Tag für Tag aus dem Mittelmeer retten, und andererseits ein Klima der Unsicherheit, das die demokratischen Werte der italienischen Verfassung gefährdet und Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie aufblühen lässt. Diese Lage zeigt sich vor allem seit den Anschlägen von Paris und kann im Bericht des Institut for Political, Economic and Social Research über die Islamophobie in Italien im Jahre 2015 nachgelesen werden.
Der Bericht fokussiert im Besonderen auf die wichtigsten Formen der Diskriminierung und fremdenfeindlichen Gewalt gegen Muslime in Italien. Die Hetze gegen Muslime in den Medien und im Internet, auch durch politische Parteien und Bewegungen, erreichte 2015 einen gefährlichen Höhepunkt. Es gab Angriffe gegen muslimische Frauen, Demos gegen den Moscheebau, u. ä., wie sie auch aus anderen europäischen Ländern wie beispielsweise Deutschland, Frankreich und den Niederlanden bekannt sind. In Italien handelt es sich aber meiner Meinung nach bei der steigenden Islamfeindlichkeit vor allem um eine ökonomisch motivierte Auflehnung gegen den Muslim, der als der Migrant gesehen wird, der den Italiener auf dem Arbeitsmarkt ersetzen werde. Dieses Argument nutzen vor allem islamfeindliche und migrationsfeindliche Parteien wie Lega Nord und Fratelli D’Italia und islamophobe Bewegungen wie Casa Pound und Forza Nuova.
Italien ist ein europäisches Land, in dessen Verfassung Arbeit und Religionsfreiheit sehr stark verankert sind. In Artikel 1 der Verfassung heißt es, dass Italien eine demokratische Republik ist, die auf Arbeit aufbaut. Doch ein Land, das auf Arbeit aufbaut und in der Arbeitslosigkeit und Perspektivenlosigkeit versinkt, ist nicht mehr das Land, das die Schreiber der Verfassung im Jahre 1946 vor Augen hatten.
Infolge der Wirtschaftskrise, des internationalen Militarismus, des intensiven Waffenhandels, der postkolonialistischen Angriffskriege im Nahen Osten und der dem „Islam als Religion“ zugeschriebenen terroristischen Gewalt kommt es in Italien vor allem aufgrund der regionalen Gesetzesinitiativen in der Lombardei und Venetien immer wieder zur „Erosion“ der Werte der Verfassung.
Man lehnt sich gegen die Migration auf, die aus dem Süden des Landes kommt. Man möchte den Norden vom Süden trennen. Man spricht von Kalabrien als Saudi Kalabrien, und wenn das Narrativ nichts mehr zu bieten hat, macht man sich demographische Sorgen zunutze und erfindet einen neuen Feind: den muslimischen Gastarbeiter, der vor allem aus Nordafrika kommt und in Italien versucht, irgendwie über die Runden zu kommen. Dabei werden die Zahlen der Muslime im Lande in die Höhe getrieben, obwohl die muslimischen Migranten immer noch unter 30% der gesamten Migranten liegen. Als dann auch noch der Geist des sog. IS über Europa schwebt, der Terror und der Krieg nicht mehr im Ausland bleiben, in das die eigenen Waffenfirmen ihre Ware exportieren, nutzt man die Unsicherheit der Italiener und ihre Zukunftsängste, um sie ins rechte Lager zu locken.
Aber islamfeindliche Gesetzesentwürfe, wie beispielsweise das Regionalgesetz der Lombardei vom Februar 2015, verstoßen eben gegen die Verfassung und dürfen nicht durchgesetzt werden. Sobald diese Gesetzesentwürfe auf dem Tisch sind, interveniert der Staat im Namen des Verfassungsgrundsatzes gemäß Artikel 117 c). Und das ist auch gut so. Die Artikel 3, 8 und 19 der italienischen Verfassung gewährleisten offensichtlich die Religionsfreiheit. Was Italien aber dringend braucht, sind ordentliche Gesetze zwecks konkreter Umsetzung vor allem, aber nicht nur der muslimischen Religionsfreiheit.
In Artikel 8 der italienischen Verfassung heißt es, dass sich die Religionen, die nicht die katholische Religion sind, frei organisieren dürfen, wobei dies unter der Voraussetzung gilt, dass ihre Organisation nicht gegen das italienische Gesetz verstößt und dass ihre Beziehungen zum Staat durch Vereinbarungen geregelt sind.
Bis heute gibt es aber keine Vereinbarung zwischen dem italienischen Staat und der muslimischen Gemeinschaft. Das führt zu Ungleichheiten im Land. Die Muslime sind in der Tat den örtlichen Behörden ausgeliefert, die islamfeindliche Gesetze vorschlagen. Obwohl diese gegen die Verfassung verstoßen und am Ende trotzdem nicht erlassen werden können, hetzen sie aber die Bevölkerung gegen die muslimische Minderheit auf und hinterlassen immer neue Spuren, die die Kluft zwischen den Muslimen und den anderen Bürgern im Land vergrößern.
Ein Beispiel ist das Regionalgesetz der Lombardei Legge Regionale 2/2015 vom 3. Februar 2015 über die Regelung des Baus neuer Gebetsstätten für die Religionen im Allgemeinen, das aber den Moscheebau erschwert, weil es islamfeindliche Zielsetzungen verfolgt. Die Regierung widersetzte sich dem Gesetz und lag Berufung beim Verfassungsgericht ein. Der italienische Staat hat nämlich gemäß Artikel 117 c) der Verfassung das letzte Wort, wenn es um die Beziehungen zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften geht.
Aber die Slogans wie „Islam raus aus Italien“ oder „Kriegszone, vom Islam besetzes Gebiet“, die Demos gegen den Islam und die Migration als Quelle der sozialen, kulturellen und existentiellen Verarmung Italiens und als Invasion zu Lasten der Italiener bleiben auf den italienischen Straßen.
Aber auch die Initiativen gegen Islamfeindlichkeit werden stärker. Im Februar 2015 wird die UNAR-Initiative „Spegni le discriminazioni, accendi i diritti“ (Schalte die Diskriminierungen aus und schalte die Rechte ein) ins Leben gerufen. Es wird auch eine Webseite für Opfer und Zeugen von Diskriminierung gegen Muslime eingerichtet. Im März desselben Jahres folgt eine weitere Initiative nach dem Motto „Accendi la mente, spegni i pregiudizi“ (Schalte den Verstand ein und schalte die Vorurteile aus).
Aber Italien bleibt gespalten: wie in Deutschland stehen sich auch hier zwei Zivilgesellschaften gegenüber. Denn die Islamfeindlichkeit betrifft nicht nur die Muslime, sondern alle Bürger einer demokratischen Gesellschaft wie der italienischen, deren Verfassung die Religionsfreiheit mehrfach betont und gewährleistet.
Italien braucht eine Vereinbarung zwischen den muslimischen Gemeinschaften und dem italienischen Staat, eine Intesa, d. h. einen Pakt zwischen dem Staat und der mulimischen Religiongsgemeinschaft, der auf dem gesamten nationalen Einzugsgebiet Anwendung findet. Die Religionsfreiheit muss durch eine klare Rechtsprechung durchgesetzt werden. Regionale Ungleichheiten müssen überwunden werden. Italien braucht klare Gesetze gegen Islamfeindlichkeit in der Gesellschaft, im Internet, in der Politik und in den Medien.
Denn der Titel von „Il Giornale“ vom 8. Januar 2015 „Islamische Metzger“ ist islamfeindlich. Der Facebookpost, in dem sich ein örtlicher Politiker einen Holocaust für die Muslime wünscht (9. Januar 2015), ist islamfeindlich. Titel wie der von „Libero“ „Islamische Bastarde“ ist islamfeindlich. Und alles was islamfeindlich ist, widerspricht dem Geist der antifaschistischen, demokratischen Verfassung von 1946.
Die italienische Verfassung gewährleistet den Muslimen die Religionsfreiheit in einem demokratischen Italien. Es braucht eine dringende Vereinbarung zwischen dem Staat und den muslimischen Gemeinschaften, um die in der Verfassung verankerten Grundsätze auch konkret umzusetzen und die regionalen Unterschiede zu überbrücken. Denn islamfeindliche Gesetzesentwürfe müssen auf diese Weise vor allem in den Regionen Lombardei und Venetien besser und effektiver blockiert werden können.
Es bleibt aber im Moment nichts anderes übrig, als der Zukunft optimistisch und dynamisch entgegenzusehen. Und der Pakt, den das Innenministerium und muslimischen Gemeinschaften vor einigen Tagen unterzeichnet haben, ist ein erster Schritt hin zu einer „Intesa“ zwischen dem italienischen Staat und den muslimischen Gemeinden. Gleichzeitig ist es aber auch von Nöten, den Wortlaut dieses Paktes kritisch zu hinterfragen, was Thema eine folgenden Beitrags sein wird.