Wahlen in den Niederlanden

Niederlande: Rechtsbrüche bei den Parteien

Laut einer Studie entspricht nahezu die Hälfte der Wahlprogramme der niederländischen Parteien nicht den Prinzipien eines Rechtsstaats. Besonders die Rechte und Freiheiten von Muslimen und ethnischen Minderheiten sind von Einschränkungen bedroht.

12
03
2017
Rutte, Verhagen, Wilders
Rechtspopulist und Islamhasser Geert Wilders (rechts im Bild) war 2010 die tragende Stütze für eine Minderheitenregierung in den Niederlanden. Wilders gilt als Prototyp eines Rechtspopulisten. © by Minister-president Rutte auf Flickr (CC BY 2.0), bearbeitet islamiQ

Im Januar veröffentlichte Amnesty International (ai) einen Bericht darüber, wie und inwieweit die in den letzten zwei Jahren im Rahmen der Terrorbekämpfung getroffenen Maßnahmen von 14 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union Grundrechte beschränken. Diesem Bericht zufolge sind Muslime und ethnische Minderheiten die Leidtragenden von „dem Egalitätsprinzip verletzenden, inhumanen und unverhältnismäßigen Gesetzen“. Die Ergebnisse des Berichtes sind besorgniserregend. Demnach haben die Maßnahmen dem Rechtssystem der europäischen Staaten einschließlich der Niederlande geschadet. Die Regierungen wurden mit mehr Macht ausgestattet, die Meinungsfreiheit eingeschränkt und die Menschen unter unkontrollierte staatliche Überwachung gestellt. In einem weiteren Bericht, den Amnesty International im Februar dieses Jahres veröffentlichte, wurde Holland wegen des Freiheitsentzugs von Flüchtlingen, des geplanten Verbots des Gesichtsschleiers und der Diskriminierung von Seiten der Polizei, kritisiert .

Eine dieser fragwürdigen Maßnahmen ist ein Gesetz, das am 14. Februar trotz vielfacher Kritik mit der Mehrheit der Stimmen vom Repräsentantenhaus verabschiedet wurde. Gemäß diesem Gesetz kann der niederländische Geheimdienst im Rahmen der Terrorbekämpfung leichter auf den Internetverkehr der Bürger zugreifen und diesen längerfristig überwachen. Eine weitere fragwürdige Maßnahme, die beschlossen wurde, ist die Möglichkeit, künftig „Dschihadisten“ mit doppelter Staatsbürgerschaft die niederländische Staatsbürgerschaft auch ohne richterliches Urteil abzuerkennen. Auch diese Maßnahme wurde ungeachtet der kritischen Stimmen vom Senat abgesegnet. Die Kritiker bemängelten die Unvereinbarkeit dieser Maßnahme mit dem Egalitätsprinzip, da sie sich in erster Linie gegen Menschen mit türkischem oder marokkanischem Migrationshintergrund richtet.

Die Kritik an den fragwürdigen Maßnahmen, die von den europäischen Staaten einschließlich der Niederlande im Rahmen der Terrorbekämpfung beschlossen wurden, ist nicht neu. Die Inhalte der Parteiprogramme, die im Vorfeld der Parlamentswahlen vom 15. März 2017 verfasst wurden, zeigen jedoch, dass diesen Kritikern wenig Gehör geschenkt wurde.

Die Hälfte der Parteiprogramme ist gesetzwidrig

Die Ergebnisse des Berichts, der von der Niederländischen Anwaltskammer (Niederl. “Nederlandse Orde van Advocaten”, NOvA) im Februar veröffentlich wurde, sind besorgniserregend. Die Juristen, die diesen Bericht verfassten, befassten sich mit der Frage, inwieweit die Parteiprogramme der 13 Parteien, die zur Parlamentswahl am 15. März antreten werden, den rechtsstaatlichen Prinzipien entsprechen. Den Ergebnissen der Studie zufolge widersprechen im Durchschnitt 40 Prozent der Wahlprogramme den Prinzipien eines Rechtsstaats. Die Verstöße waren besonders eklatant bei der in den letzten Umfragen vorne liegenden rechtsextremen „Freiheitspartei“ (PVV), sowie den vier auf sie folgenden Parteien. Außerdem haben die zu Lasten der Rechtsstaatlichkeit geplanten Sicherheitsmaßnahmen im Vergleich zu den Wahlprogrammen von 2012 gleichfalls um 40 Prozent zugenommen. Die kritisierten Programmpunkte drehen sich größtenteils um die Themen Immigration und Asyl, Terror und muslimische Extremisten.

“Einstellung der Finanzhilfen für Moscheen”

Die Christlich-Demokratische Partei (CDA) beispielsweise will die Finanzierung der niederländischen Moscheen aus dem Ausland verbieten. Dieses Thema war ohnehin bereits durch die Kampagne, die diese Partei gegen die Diyanet-Moscheen in den Niederlanden gestartet hatte, in den Schlagzeilen. Die Juristen bewerten es als Diskriminierung, dass sich die Aktionen ausschließlich gegen die muslimischen Vereinigungen richten. Die CDA verteidigt diesen Programmpunkt mit dem Argument „wir dürfen Moscheen, deren Aktionen unserer gesellschaftlichen Grundordnung zuwiderlaufen, keine Bühne hierfür bieten.“ Eine Maßnahme, die den rechtsstaatlichen Prinzipien widerspricht, soll die gesellschaftliche Ordnung schützen; ein Widerspruch in sich. Das gleiche Verbot hat auch die „Partei für die Niederlande“ (VNL) in ihr Wahlprogramm aufgenommen.

“Grenzen zu für Flüchtlinge”

Die Partei mit den meisten der Rechtsstaatlichkeit widersprechenden Programmpunkten ist die rechtsradikale Freiheitspartei (PVV). Ihre Wahlversprechen ist keinen einzigen Flüchtling ins Land zu lassen, die Grenzen für Migranten aus muslimischen Ländern zu schließen und den bereits im Land lebenden Flüchtlingen ihre Aufenthaltsgenehmigung abzuerkennen. Dies widerspricht sowohl dem Flüchtlingsabkommen der Vereinten Nationen, als auch europäischem und internationalem Recht.

Ein weiteres Wahlversprechen dieser Partei lautet, vorbestraften Doppelstaatlern die Niederländische Staatsbürgerschaft abzuerkennen und sie anschließend auszuweisen, was einer Diskriminierung gegenüber einstaatlichen niederländischen Staatsbürgern gleichkommt. Dies widerspricht zudem womöglich dem Gesetzlichkeitsgrundsatz, da die Partei keine Angaben darüber macht, ob sie diese Regelung auch rückwirkend zur Anwendung zu bringen plant. Der gleiche Vorschlag ist auch im Wahlprogramm der Partei für die Niederlande (VNL) zu finden.

Das angestrebte Verbot von Kopftüchern und anderen islamischen Symbolen im öffentlichen Raum mit der Begründung, sie widersprächen der öffentlichen Ordnung, wiederum widerspricht nach Ansicht der Juristen der Glaubensfreiheit und dem Gleichheitsprinzip. Denn diese Maßnahme richtet sich nicht gegen religiöse Symbole generell, sondern speziell gegen islamische Symbole.

Die Schließung muslimischer Schulen, das Verbot des Korans und die vorsorgliche Sicherheitsverwahrung radikaler Muslime wiederum widersprechen der Glaubens-, Meinungs- und Bildungsfreiheit, dem Recht auf ein faires Verfahren und dem Gleichheitsprinzip. Die Abweisung von rückkehrwilligen „Dschihadisten“ wiederum bewerten die Juristen als „Verbannung“. Letzteres bringt außerdem mit sich, dass Menschen mit niederländischer Staatsangehörigkeit, Schutz und ihre Grundrechte vorenthalten werden.

“Bestimmte Freiheiten nur für Christen”

Die Reformierte Politische Partei (SGP) will bestimmte Rechte und Freiheiten nur für Christen durchsetzen. Sie will unter anderem den Gebetsruf verbieten und argumentiert, dass er nicht mit dem Glockenläuten auf eine Stufe gestellt werden könne. Sie propagiert ein hartes Vorgehen gegen islamischen Extremismus, ohne dass die Kirchen von ähnlichen Maßnahmen betroffen sein sollen. Dies widerspricht dem Gleichheitsprinzip und der Glaubensfreiheit.

Die Absicht der Niederländischen Arbeiterpartei, „Dschihadisten“ unter Beobachtung zu stellen, ist nicht mit dem Anrecht auf ein faires Verfahren vereinbar. Die Strafmaßnahmen wiederum, die diese Partei ausschließlich bei Doppelstaatlern anwenden will, sind diskriminierend.

“Die Internationalen Abkommen sollen für die Niederlande nicht mehr gelten”

Die Liberale Partei (VVD) fordert, dass Personen, die sich terroristischen Vereinigungen angeschlossen hatten, vor ihrer Gerichtsverhandlung aus der niederländischen Staatsbürgerschaft entlassen werden. Diese Maßnahme wurde im Februar vom Senat angenommen. Die Partei geht aber in ihrem Anliegen noch weiter und fordert, dass auch „Terroristen“, die ausschließlich die niederländische Staatsbürgerschaft haben, selbige aberkannt wird. Um dies zu ermöglichen, will sie die internationalen Abkommen des Landes einer Revision unterziehen. Dabei ist es ein Bruch der Menschenrechte, Staatsbürger in die Staatenlosigkeit zu entlassen.

Die VVD will darüber hinaus das Arbeitsrecht über das internationale Recht stellen. Sie plant, in Zukunft die Verbindlichkeit internationaler Verträge für die Niederlande aufzuheben. Nach Ansicht stehen bei einer solchen Regelung die Menschenrechte auf dem Spiel, da der Schutz und die Gewährleistung der Menschenrechte zu großen Teilen von diesen internationalen Abkommen abhängen. Wenn die rechtsstaatlichen Prinzipien, die ihre Wurzeln im Liberalismus haben, von einer Partei ausgehebelt werden, die sich genau diesen Liberalismus auf ihre Fahne geschrieben hat, so befindet diese Partei sich im Widerspruch mit sich selbst und wird ihrem eigenen Anspruch alles andere als gerecht.

Die Einschränkungen der Muslime beeinflussen alle

Ein Punkt, der hier übersehen wird, ist, dass diese geplanten Maßnahmen die Freiheiten nicht nur der Muslime, sondern vielmehr aller Bürger der Niederlande beschneiden. So bedrohen beispielsweise die beschlossenen Maßnahmen zur Überwachung die Intimsphäre aller Bürger. Da die Maßnahmen jedoch über die Muslime und die Migranten thematisiert werden, wird dieser Aspekt leider übersehen. Die Bürger der Niederlande, die sich für die Rechte der Muslime und Immigranten einsetzen, schützen damit eigentlich ihre eigenen Rechte.

Parteien, die im Namen des Rechtsstaats radikale Entscheidungen befürworten, missachten auf der anderen Seite die gleichen rechtsstaatlichen Prinzipien, wenn sie sich gegen sie selbst richten oder ihren eigenen subjektiven Wertnormen und Ansichten nicht in Einklang stehen. Zuletzt war dies zu sehen bei Geert Wilders von der Freiheitspartei, der im Dezember wegen Volksverhetzung verurteilt wurde und den Rechtsstaat mit den Worten „falsche Richter“ und „Kein Richter kann mich aufhalten“ attackierte.

Von daher können diese Maßnahmen gegen Muslime und Migranten auch nicht als ein Dilemma zwischen Sicherheit und Menschenrechten betrachtet werden. Denn das Sicherheitsargument entbehrt die Glaubwürdigkeit, angesichts der Kulturkampf-Argumente in den Wahlprogrammen und den ethnozentrischen Aussagen der Politiker. Dies wird besonders deutlich bei dem Satz „nur wenn sie ‚unsere‘ Freiheiten akzeptieren, werden die Flüchtlinge als Teil der Niederlande akzeptiert werden“, der im Wahlprogramm der Liberalen Partei steht. Man sieht hier insgesamt weniger Sicherheitsmaßnahmen als willkürliche Maßnahmen, die die Migranten ausgrenzen.

Die Frage, die hier gestellt werden muss, lautet: Was ist hier der Maßstab? Die Prinzipien des Rechtsstaates oder kulturelle Werte? Rechtfertigen die kulturellen und weltanschaulichen Werte der Mehrheitsgesellschaft die Verletzung der Menschenrechte einer Minderheit und den Bruch der rechtsstaatlichen Prinzipien?

Sicherheitsmaßnahmen können keine Rechtfertigung sein für die Marginalisierung von Minderheiten durch die Politik, noch für die Verletzung von deren Grundrechten. In diesem Zusammenhang muss hinterfragt werden, inwieweit die Maßnahmen, die zum Schutze des Rechtsstaates getroffen werden, mit dem Rechtsverständnis eines Rechtsstaates in Einklang zu bringen sind.

Die wichtigste Frage, die sich hier stellt, lautet: Sehen die politischen Parteien der Niederlande nicht, welchen Schaden sie mit ihren Wahlprogrammen ihrem Land zufügen?

Leserkommentare

Ute Fabel sagt:
Ahmed Aboutaleb ist bereits seit 2008 Bürgermeister von Rotterdam, der zweitgrößten Stadt der Niederlande. Er wuchs in Marokko auf, kam erst im Alter von 15 Jahren in die Niederlande und besitzt auch heute noch die niederländische und marokkanische Staatsbürgerschaft. Das stellt die große Durchlässigkeit der niederländischen Gesellschaft für erfolgreiche Karrieren von Menschen mit Migrationshintergrund eindrucksvoll unter Beweis. Theo Van Gogh, ein Nachkomme des bekannten Malers, wurde 2004 in den Niederlanden auf offener Straße ermordet, weil er es gewagt hat den Islam zu kritisieren. Andere Islamkritiker wie Ayan Hirsi Ali wurden massiv bedroht. Die niederländische Rechtsordnung wäre fahrlässig, wenn sie darauf nicht reagieren würd. Skandalös ist nicht, dass die im Artikel dargestellten Maßnahmen ergriffen wurden, skandalös wäre es, wenn sie unterblieben wäre.
12.03.17
14:26
Manuel sagt:
Wenn Erdogan und seine AKP-Islamisten wiedermal die Freiheiten von Minderheiten oder Oppostioniellen einschränken oder sie ins Gefängnis werfen gibt es keinen solchen langen Artikel, warum?
12.03.17
15:14
Johannes Disch sagt:
@Manuel Gute Frage. Das frage ich mich auch schon länger.
15.03.17
2:46
Timo sagt:
Nicht berichtet wird natürlich darüber, dass Erdoğan gegen die türkische Verfassung verstößt, wenn er sich parteipolitisch einmischt, obwohl er parteipolitisch neutral und überparteilich sein müsste. Oder dass AKP-Politiker und Mitglieder der türkischen Regierung gegen das türkische Wahlrecht verstoßen, wenn sie z.B. in Deutschland Wahlkampfauftritte durchführen, um für die Verfassungsänderung in der Türkei zu werben.
20.03.17
9:04