Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied, dass das Tragen eines Kopftuchs unter Umständen verboten werden könnte. Die österreichische Philosophin Amani Abu Zahra zeigt die Widersprüchlichkeit der Verbotspolitik und den fortlaufenden Anerkennungskampf von Europas Musliminnen auf.
Wieder steht die Kleidung der Frau im Fokus und einmal mehr die der Muslimin! Eine Debatte der Verbotspolitik jagt die nächste. Von Kopftuch zu Burka über Burkini sind wir – wie erwartet – nun wieder beim Kopftuch angelangt. Aktuell beschäftigen wir uns europaweit mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Kopftuch am Arbeitsmarkt, als Reaktion auf Klagen zweier Musliminnen aus Frankreich und Belgien, denen die jeweilige Arbeitsstelle gekündigt wurde. Was bewirkt dieses Urteil? Welchen Eindruck hinterlässt es bei Musliminnen?
Als Muslimin wird Frau samt ihrer Bekleidung zum Spielball der Politik. Denn es scheint als würde Religionsfreiheit, Gleichheit zwischen Mann und Frau, Zugang zum Arbeitsmarkt, Integration in die Gesellschaft und vieles mehr mit der Kleidung der Muslimin ausverhandelt. Als ob das Tragen (oder Nicht-Tragen) des Kopftuchs der Maßstab misslungener (oder gelungener) Integration schlechthin sei. Des Weiteren dient das Tuch und vor allem die Trägerin, als eine Projektionsfläche für die gegenwärtig geführten Islamdebatten. Auf viele Assoziationen zu Islam darf sich dann die sichtbare Muslimin gefasst machen – in Form von Fragen, Vorwürfen, Unterstellungen – und vor allem Gesetzen und Politiken, wie das aktuelle Urteil demonstriert.
Mit dem aktuellen Urteil des EuGH erfahren Musliminnen einen Schlag gegen ihre Selbstbestimmung und ihr Recht auf Selbstverwirklichung am Arbeitsmarkt. Europas Musliminnen sind gebildet, reflektiert, nehmen ihre Rechte in Anspruch und suchen gemäß ihrer Ausbildung einen Platz am Arbeitsmarkt, der ihnen zusteht. Doch dies wird ihnen nun noch mehr erschwert denn je. Denn der Arbeitgeber hat die Möglichkeit auf qualifizierte Frauen zu verzichten, statt ihnen die Freiheit zu lassen, selbst ihre Kleidung zu wählen. Hier werden einige Widersprüche sichtbar. Denn zum einen herrscht das stereotypische Bild im Kopf, dass muslimische Frauen unmündig und ungebildet seien und sich in erster Linie um Kind und Haushalt kümmern. Tritt sie aber in Erscheinung, als das Gegenteil, nämlich gerüstet mit Ausbildung und Eloquenz am Arbeitsmarkt, wird eine Linie gezogen die sie mit einem Tuch auf dem Kopf nicht mehr überschreiten darf.
Ein weiterer Widerspruch ist der Umgang mit Selbstbestimmung, ein hoch gehaltener Wert Europas. Im aktuellen Diskurs um die offene und freie Gesellschaft steht (scheinbar) kaum ein anderer Wert so hoch im Kurs, genauso wie die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Darauf sei man stolz, dies wisse man zu schätzen, so der Tenor in unseren Breitengraden. Blickt man jedoch genauer, so wird sehr schnell sichtbar, dass es einige Herausforderungen gibt, die es nach wie vor in Angriff zu nehmen gilt, wie zum Beispiel die ungleiche Entlohnung trotz selber Arbeitstätigkeit oder der unsere Gesellschaft bis in die Spitzen formende Sexismus.
Unmittelbar damit verbunden ist die Selbstverwirklichung für Frauen. Genau sie wird jedoch aktuell durch dieses Urteil beschnitten, das einem Verbot gleich kommt wenn man es in der schlechtesten Variante liest. Und in der momentanen Stimmung, in der Rechtspopulisten im Vormarsch sind, gibt es viele Gründe das Urteil in seiner schlechtesten Variante zu lesen.
Sehr oft wird als Argument hervorgebracht, dass durch ein Kopftuchverbot Musliminnen erst recht empowert werden. Doch das Gegenteil ist der Fall. Denn man entzieht der Mehrheit der betroffenen Frauen den Zugang zum Arbeitsmarkt und dadurch auch die Möglichkeit auf ökonomische Unabhängigkeit. Dies ist eine Grundvoraussetzung für die Selbstverwirklichung der Frau und für ein selbstbestimmtes Leben.
Ein weiteres Argument, es solle religiöse, politische und weltanschauliche Neutralität in der Firma vorherrschen, wenn dies der Arbeitgeber so wünscht, erzeugt viele Fragezeichen. Denn wie sieht denn eine neutrale Form des Lebens- bzw. Kleidungsstils aus? Das deutet doch vielmehr daraufhin, dass ein bestimmter Lebens- oder Kleidungsstil zur Norm auserkoren und dieser dann für neutral erklärt wurde. Alles, das abweicht, ist somit nicht neutral. Was ist dann eigentlich mit der Weihnachtsdekoration in der Firma?
Wie konsequent wird bzw. kann Neutralität überhaupt gehandhabt werden? Denn aktuell entbrannt in Österreich erneut die Debatte um das Kreuz in öffentlichen Institutionen und hier war der politische Tenordahingehend, dass sie weiterhin bleiben sollen. Das zeigt doch die Krux mit der Neutralität, denn wo beginnt und wo endet diese? Wie konsequent geht man dies an und vor allem wer definiert Neutralität? Um einer Gesellschaft der Pluralität gerecht zu werden sollten, allen Weltanschauungen und Religionen ihr Platz zugesprochen werden.
Die Vielfalt der Gesellschaft sollte sich in verschiedenen Bereichen wiederspiegeln, auch auf dem Arbeitsmarkt. Vor allem beim Kundenkontakt besteht die Chance zu lernen und zu wachsen, indem die vielfältige Gesellschaft auf allen Ebenen sichtbar gemacht wird. Denn genauso wie Selbstbestimmung ein wichtiger Wert der Demokratie darstellt, ist auch die Diversität einer. Wenn jedoch sichtbare muslimische Frauen exkludiert werden, stellt sich die Frage, ob es ein bestimmtes Bild der Vielfalt gibt? Wenn ja, wo verlaufen diese Grenzen? Bei der gebildeten muslimischen Frau? Denn bei der damaligen Gastarbeiterin oder der Reinigungsdame hat das Kopftuch bisher nicht gestört.
Die Sorge ist berechtigt, dass mit dem EuGH- Urteil die Botschaft für Europas sichtbare Musliminnen von „Du hast keinen Platz am Arbeitsmarkt“ schnell umschlägt in „Du hast keinen Platz in dieser Gesellschaft“ und dies kann nicht in deren Interesse sein, die sich für ein gleichberechtigtes, demokratisches und offenes Europa unentwegt einsetzen!