Chaos der Begriffe

Probleme werden theologisiert

Muslime kritisieren Begriffe wie „Islamismus“ und „Dschihadismus“. Wieso diese Begriffe die eigentlichen Probleme verdecken und zu welchen neuen Problemen sie führen, erklärt der Generalsekretär des Islamrats Murat Gümüş im IslamiQ-Interview.

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03
2017
Symbolbild- Brockhaus' Konversations-Lexikon © by Moni & Georgs Backstube auf flickr, bearbeitet by IslamiQ.

IslamiQ: Es wird öfter über „Islamismus“, „Dschihadismus“ und „Salafismus“ gesprochen als über den Islam, Dschihad und über die Salaf. Teilen Sie diese Einschätzung? Welche Gründe hat das Ihrer Meinung nach?

Murat Gümüş: Der 11. September, andere Anschläge auch auf europäischem Boden und die zunehmende Radikalisierung allgemein haben zu zwei getrennten Diskursräumen geführt.

Der erste und dominierende Diskursraum ist der weite öffentliche Raum, die politische und mediale Ebene. In ihm gehören die Begrifflichkeiten „Islamismus“, „Dschihadismus“ und „Salafismus“ zum Standardrepertoire der Erklärungsversuche von Radikalisierungserscheinungen. Überraschend ist, dass dieser von unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Akteuren geteilt wird: die Minderheit derjenigen Muslime, die den Islam auf eine Ideologie reduzieren einerseits und die „Islamkritiker“ andererseits. Beide Seiten etablieren und reproduzieren bestimmte Begriffe und deren Deutungen. Unter Dschihad/„Dschihadismus“ oder Islam/„Islamismus“ verstehen beide Seiten in etwa das Gleiche. In der Auslegungsmethodik der Primärquellen des Islams unterscheiden sie sich nicht wesentlich, beide haben Zugang zu diversen modernen Kommunikationsmitteln und können sich dementsprechend gut platzieren.

Der zweite Diskursraum beinhaltet die gelebte muslimische Praxis der überwältigenden Mehrheit der Muslime. Dort geht es nicht um die Frage, ob der Islam Gewalt befürwortet. Diese Frage ist in der gelebten Praxis bereits geklärt. Hier geht es vielmehr um eine gottgefällige Lebensführung im Alltag. Im Raum stehen praktische Fragen wie Halal-Lebensmittel, Zinsen beim Erwerb von Immobilien oder Organtransplantationen. Den Muslimen geht es um die gleichberechtigte Teilhabe im öffentlichen Raum – sozial, kulturell, intellektuell. Also auch ihre Existenz und Sichtbarkeit als Muslime. Das ist, was sie unter gelebtem Islam oder Dschihad auch verstehen. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Muslime irritiert sind, wenn sie immer wieder gefragt werden, wie sie diese und jene extremistische Gruppen einschätzen. Denn für sie lässt sich Extremismus islamisch nicht legitimieren.

Murat Gümüş, 1979 geboren, studierte Sozialwissenschaften in Duisburg. Vor seiner aktuellen Tätigkeit als Generalsekretär des Islamrates für die Bundesrepublik Deutschland und stellvertretender Generalsekretär der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) war er in der Jugendorganisation der IGMG und zuletzt ihrer Studierendenabteilung aktiv. Gümüş ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.

IslamiQ: In öffentlichen Debatten werden Ismen gerne zur Abgrenzung verwendet: Nicht der Islam sei gefährlich, sondern der „Islamismus“. Nicht der Bezug zur Salaf sei gefährlich, sondern der „Salafismus“. Solche Unterscheidungsbestregungen sind zwar verständlich, führen aber nur selten zu einer ausreichenden Differenzierung in der Wahrnehmung. Wie sehen Sie das?

Gümüş: Das ist in der Tat ein großes Problem. Auf der einen Seite existiert der nachvollziehbare Bedarf nach Erklärung und Benennung. Auf der anderen Seite stößt man bei solchen Versuchen auf seine Grenzen, wenn sie über den eigentlich fokussierten und klar abzugrenzenden Forschungsgegenstand hinaus noch andere Subjekte miterfassen.

Aufgrund des aktuellen Kontextes erleben wir das Problem bei den Begriffen „Islamismus“, „Salafismus“ und „Dschihadismus“. Die Begriffe Islam, Salaf und Dschihad sind für Muslime zentral und durchweg positiv konnotiert; sie sind konstitutiv für ihre Selbstdefinition. Durch das Suffix „ismus“ wird etwas ursprünglich Positives zu etwas grundsätzlich Negativem, „Bösem“. Wenn selbst Behörden hier manchmal nicht klar unterscheiden können, kann man eine Differenzierung auch von der Gesellschaft nicht erwarten. Hier muss etwas geschehen, es muss zu einem Umdenken kommen.

Die islamischen Religionsgemeinschaften versuchen bei jeder Gelegenheit hierauf aufmerksam zu machen und ein Umdenken anzustoßen. Die Politik zeigt zum Teil auch eine gewisse Bereitschaft, gemeinsam nach Alternativen zu suchen. Sie erkennen das Problem mittlerweile auch. Jedoch wird diese Sorge dem Anschein nach leider nicht von allen relevanten Akteuren getragen. Akademiker an den islamisch-theologischen Instituten müssen sich der Sorge der Muslime über die Zweckentfremdung islamisch-theologischer Begrifflichkeiten wie im Fall „Dschihadismus“, durch wen auch immer, stärker annehmen. Momentan ist es leider eher so, dass sie – sicherlich ungewollt – bei Tagungen oder Projekten diese Begriffe und Deutungen reproduzieren und verfestigen.

IslamiQ: Das Problem ist also ein sprachliches und kein theologisches.

Gümüş: Ja, aber mit gravierenden Folgen für die islamische Theologie. Denn durch die Verwendung theologischer Begriffe zur Kennzeichnung von problematischen Phänomenen wird auch das Problem selbst theologisiert. Viele Studien und Interviews mit Rückkehrern aus Syrien haben ergeben, dass diese Menschen über wenig bis kaum islamisch-theologisches Grundwissen verfügen. Vielmehr entsteht ein diffuses Bild alternierender, vielfältiger, potenzieller Ursachen, die sich zum erheblichen Teil auch aus unterschiedlichen Lebenssituationen ergeben, die mit ausschlaggebend für ihre Radikalisierung gewesen ist. Die Hinwendung zu problematischen und von der überwältigenden Mehrheit der Muslime abgelehnten Auslegungen islamischer Quellen ist dann häufig nicht der Auslöser der Radikalisierung, sondern das Ergebnis der Verquickung von hauptsächlich sozialen oder psychologischen Faktoren. Dies wird durch die Verwendung der Begriffe „Islamismus“, „Dschihadismus“ und „Salafismus“ häufig übermalt.

IslamiQ: Muslime werden aufgefordert, die Deutungshoheit über ihre Begriffe, die sie an extremistische Gruppen verloren zu haben scheinen, wiederzuerlangen. Wann und warum haben sie diese Ihrer Einschätzung nach verloren?

Gümüş: Die traditionellen Orte des Wissenserwerbs über die islamische Theologie waren lange Zeit islamische Bildungseinrichtungen wie Madrasas, Stiftungen, Moscheen und – wenn es um die Religionspraxis geht – die Familie oder Gesprächskreise. Das Internet ist in den letzten Jahren als neue Quelle hinzugekommen. Während bei den Ersteren eine systematische Einordnung der Quellen und der Zugang zu ihnen von einem Gelehrten oder nachweislich Fachkundigen beigebracht wurde bzw. wird, fehlt diese Instanz im Internet. Hier ist jeder sein eigener Herr. Das Internet bietet eine unüberschaubare und nur schwer überprüfbare Palette an Angeboten über die islamische Theologie. Hier ist man gänzlich auf sich selbst und dem bis dahin erworbenen oder nicht erworbenen Fachwissen überlassen. Wie bei allem anderen auch kann das Internet als Wissensquelle für den Kenner ein Segen sein, für den Laien hingegen ein Fluch.

Vor diesem Hintergrund kann kaum von einem Verlust der Deutungshoheit gesprochen werden. Denn zum einen werden spätestens seit dem 11. September im internationalen Kontext fast schon jährlich theologische Positionierungen vorgenommen. Auf der anderen Seite haben die islamischen Religionsgemeinschaften in Deutschland schon vor Jahren begonnen, dieses Thema auf ihre Agenda zu nehmen und dazu Positionierungen zu veröffentlichen. Die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) hat in ihren jährlichen Panels und Publikationen das Thema der problematischen Auslegung islamischer Quellen mehrfach aufgegriffen. DITIB hat zu diesem Thema eine ausführliche Stellungnahme veröffentlicht.

Ich denke, dass die Deutungshoheit auf lange Sicht nicht wesentlich gefährdet sein wird, auch wenn man diese Entwicklungen ernst nehmen muss. Es wäre aber verkehrt zu erwarten, dass es ausreichend sein könnte, wenn islamische Religionsgemeinschaften ihre Inhalte stärker im Internet platzieren. Das Internet kann – sinnvoll genutzt – nur eine ergänzende Funktion beim Wissenserwerb über den Islam einnehmen. Die eigentlichen und authentischen Institutionen und Instanzen beim Wissenserwerb waren, sind und werden weiterhin die traditionellen Orte wie Moscheegemeinden, Bildungseinrichtungen und das Zuhause sein. Hier müssen wir und sind wir aus einem islamischen Bewusstsein heraus bestrebt, mehr Menschen zu erreichen.

Weitere Interviews und Beiträge zum Thema:
Chaos der Begriffe: „Extremismus als Containerbegriff„, Michael Kiefer
„Der Kampf um islamische Begriffe“, Bekim Agai und Armina Amerika
Ismen sind Zentrismen, Ali Özgür Özdil

IslamiQ: Muslime müssen mit der Spannung zwischen ihrem Glauben und den Folgen der Taten Einzelner leben. Wie wird sich Ihrer Meinung nach die belastende Atmosphäre in Deutschland auf die muslimische Jugend auswirken?

Gümüş: Es wird sehr viel über den Islam gesprochen und diskutiert. Im europäischen Kontext ist das nichts Neues. Mit ähnlichen Herausforderungen sahen und sehen sich auch Christen konfrontiert. Jedoch sind Muslime in Europa eine Minderheit – eine von immer mehr Menschen weniger akzeptierte Minderheit. Minderheiten, egal ob religiöse oder ethnische, sehen sich stets vor der Situation, sich erklären zu müssen. Gerade vor dem Hintergrund terroristischer Anschläge – angeblich im Namen des Islams – sehen sich Muslime unter einer Doppelbelastung: sich aufgrund ihrer Minderheitsposition erklären zu müssen und unter Beweis stellen zu müssen, dass man eine andere Überzeugung vom Islam hat als die Terroristen. Insbesondere junge Muslime und hier vor allem kopftuchtragende Musliminnen sind dieser Situation besonders stark ausgesetzt.

Unter dem ständigen Rechtfertigungsdruck wird der Islam für Muslime nicht selten zu einem Sammelsurium von apologetischen Argumenten – und keine Religion, die man einfach lebt. Die Religion wird zu einem Kasten von Argumenten, aus dem man sich je nach Bedarf bedienen kann. Darunter leidet das Verhältnis zur Religion.

Oft lässt sich auch eine Trotzreaktion beobachten. Jugendliche, die sich auch aufgrund ihrer Religion nicht aufgenommen und akzeptiert fühlen, können mit der Zeit neben der bestehenden Barriere weitere eigene Barrieren aufbauen. Das kann in Extremfällen zur Abkapselung von der Gesellschaft führen. Uns werden aus unseren Gemeinden immer häufiger Fälle herangetragen, in denen Kinder in der Schule von LehrerInnen skeptisch und verdächtig beäugt werden oder LehrerInnen im Unterricht abschätzige Bemerkungen über den Islam machen. Solche Fälle werden jedoch leider weitestgehend tabuisiert. Kritik an solch einem Verhalten verhallt. Ich möchte nicht alle LehrerInnen über einen Kamm scheren, denn wir kennen auch sehr viele positive Beispiele. Aber die Problemfälle finden kaum Beachtung im öffentlichen Diskurs.

IslamiQ: Die entscheidende Frage: Gibt es alternative Begriffe und Ansätze?

Gümüş: Es ist einfacher, Kritik an Begriffen wie „Dschihadismus“, „Salafismus“ oder „Islamismus“ zu üben als nach alternativen Begrifflichkeiten zu suchen. Wie bereits erwähnt, belegen Studien zu Rückkehrern oder zum Klientel in Deradikalisierungsstellen, dass es sich bei diesen Personen um theologische Analphabeten handelt. Ich möchte damit keineswegs sagen, dass dieses Phänomen nichts mit dem Islam zu tun hat, sondern versuchen einzuordnen, welche Rolle die Religion hier spielt. Denn immerhin rekurrieren extremistischen Organisationen in ihrer Argumentation, Sprache und Symbolik auch auf den Islam als Referenz. Das kann nicht ausgeblendet werden. Auch kann nicht ausgeblendet werden, dass sie des Islams instrumentell bedienen. Vor diesem Hintergrund sollte statt von „Salafismus“, „Dschihadismus“ oder „Islamismus“ eher vom „den Islam instrumentalisierendem Extremismus “ gesprochen werden.

Außerdem ist es fahrlässig, eine jahrhundertealte islamische Bedeutungsgeschichte, die z. B. hinter dem Begriff Salaf oder Dschihad steht, für gewaltbereite Strömungen zu entfremden, um so einen schnellen Referenzrahmen für Rezipienten zu bieten. Die Beschreibung „den Islam instrumentalisierender Extremismus“ ist eine faktisch korrekte Begrifflichkeit, weil sie den Referenzrahmen umfassend und zutreffend berücksichtigt. Dieser soll keineswegs dazu dienen, eine neue Definition von zu formulieren. Er umfasst auch weiterhin nur die Personengruppen oder Phänomene, die versuchen, das Grundgesetz zielgerichtet aktiv kämpferisch zu beseitigen.

Das Interview führte Ali Mete.

Leserkommentare

Johannes Disch sagt:
@Charley Auch im Islam wird der Mensch letzten Endes auf sich selbst zurückgeworfen und ist selbstverantwortlich und muss sich am Ende vor Gott (Allah) für sein Leben rechtfertigen. Das jetzt aus der islamischen Theologie herzuleiten, wäre abendfüllend. Zur Al-Azhar: Nein, Sie hat kein "Unfehlbarkeitsdogma", vergleichbar der Katholischen Kirche. Der Islam kennt keine Kirche. Das ist ja einer der großen Unterschiede zum Christentum. Das muss aber nicht unbedingt ein Nachteil sein. Ein Problem besteht allerdings darin, dass sich praktisch jeder Muslim zum "wahren Imam", zum wahren Nachfolger des Propheten ausrufen kann. Er braucht nur genügend Leute, die ihm das glauben und ihm folgen. Erinnern Sie sich noch an Metin Kaplan, den selbsternannten "Kalifen von Köln, der Köln zum "Kalifat" erklärte?? Der Spinner hat in Deutschland jahrelang Sozialhilfe kassiert und es dauerte ewig, bis man ihn endlich abschob. Al Azhar hat sich im Laufe der islamischen Geschichte zu einer Art Autorität für den sunnitischen Islam entwickelt und die Rechtsgutachten dieser Uni haben in der islamischen Welt starke Autorität. Es kommt aber halt immer darauf an, wer dem Laden grade vorsteht. Ist es ein liberaler oder ein eher konservativer oder gar reaktionärer Rektor??
11.04.17
1:28
Johannes Disch sagt:
@Ute Fabel Die Aussage des ehemaligen Verfassungsrichters Dieter Grimm ist nicht fragwürdig, sondern schlicht deutsches Recht. Das hat das Bundesverfassungsgericht schon vor vielen Jahren in einem Grundsatzurteil deutlich gemacht. Der deutsche Staat prüft nicht die heiligen Schriften auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung -- denn dann müsste er auch die Bibel und die Upanishaden etc. verbieten,-- sondern er prüft die reale Glaubenspraxis der Anhänger einer Religion. Diese muss grundgesetzkonform sein, und nicht die Schriften.
11.04.17
1:32
Johannes Disch sagt:
@Ute Fabel Die Aussage von Dieter Grimm ist nicht fragwürdig und auch keine subjektive Meinung, sondern gibt unsere Verfassung wider. Das deutsche Grundgesetz verlangt nicht, dass eine Religion verfassungskonform sein muss. Die gelebte Praxis der Gläubigen muss verfassungskonform sein. Ihr Vergleich mit einer politischen Partei hinkt zwar, da eine politische Meinung / eine politische Weltanschauung nicht vergleichbar ist mit dem Grundrecht auf Religionsfreiheit, aber dennoch gilt für politische Parteien / politische Gruppierungen dasselbe: Man darf in Deutschland durchaus politische Meinungen vertreten, die verfassungsfeindlich sind. Denken Sie an die jahrelangen Verbotsdiskussionen bezüglich der NPD. Eine verfassungsfeindliche Haltung reicht aber nicht aus für ein Parteiverbot. Es muss nachgewiesen werden, dass die politische Praxis einer Partei / einer politischen Gruppierung aktiv darauf ausgerichtet ist, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beseitigen.
11.04.17
6:00
Johannes Disch sagt:
@Ute Fabel (Ihr P 10.04.2017, 9:05) Sie zitieren die Sure 9.5 und schließen verwundert: "Dieser Koranvers steht in der Ausgabe, die ich besitze, noch immer drin." Ja. Und er würde auch in allen anderen Ausgaben, die Sie erwerben könnten, stehen. Was erwarten Sie denn? Etwa, dass man den Koran zensiert?? Das wäre nicht zulässig. Wie gesagt: Die Glaubenspraxis ist entscheidend und nicht der Inhalt der (für manche) heiligen Schriften. In die Glaubensinhalte einer Religionsgemeinschaft hat sich der deutsche Staat übrigens nicht einzumischen. Diese Inhalte legt einzig und allein die jeweilige Glaubensgemeinschaft fest. Auch das sagt unsere Verfassung.
11.04.17
6:11
Charley sagt:
@Ute Fabel: Ich staune immer wieder, welche Probleme Sie mit dem NT haben! Das Zitat ist für mich nicht tiefsinniger als wenn jemand sagt: "Wer bei Rot über die Ampel geht, wird überfahren!" Ja, wenn es willkürliche Missgunst eines eitlen Gottes wäre, diejenigen "irgendwie nieder zu machen, zu vernichten", die "seiner Lehre" nicht huldigen, könnte ich Ihr Problem verstehen. Wenn aber eine bestimmte Selbstbestimmung und ein "vertrauendes Leben im Hinblick auf diese Erkenntnis" ("glauben") in der Natur des Menschen läge (was zu untersuchen wäre) und diese Selbstbestimmung einer selbst-befreienden und selbst-verwirklichenden Erkenntnis gleich käme , so wäre die Ignoranz einer Wirklichkeit verständlicher Weise irgendwann ein Problem eben in der Wirklichkeit. Vermutlich verstehen Sie unter "glauben" das ängstlich-bibbernde Nachplappern von Buchstaben-Glaubensbekenntnissen unter Aufgabe des gesunden Denkens, um einem wahnhaft vorgestellten Gott die Verantwortung und auch die Gnade zu zu sprechen?
11.04.17
16:41
Charley sagt:
@Johannes Disch: "Auch im Islam wird der Mensch letzten Endes auf sich selbst zurückgeworfen und ist selbstverantwortlich und muss sich am Ende vor Gott (Allah) für sein Leben rechtfertigen. Das jetzt aus der islamischen Theologie herzuleiten, wäre abendfüllend." Da wären wir wieder bei "unserem Thema": Nämlich, wer ist derjenige, als wen man sich findet oder erkennt, wenn man sich "auf sich selbst zurückgeworfen" fühlt! Wenn man sich dann "vor Allah zu rechtfertigen hat, so wäre ja schon eine Frage offen: Welche Verbindung habe ich zu ihm? Die eines Sklaven zu seinem Sklavenhalter, dass ich also seiner willkürlichen Sympathie ausgeliefert bin, oder entscheidet der Akt der Selbstbestimmung/erkenntnis/verwirklichung nicht schon selbst über mich, insofern dann das "urteilende Göttliche" nur der Harmonie oder Disharmonie meines Wesens mit der Wirklichkeit abbildet? Welches Interesse hat "Allah" an mir, wenn ich ihm nicht nahe ("Sohn") bin? Spielzeug? Wo ist da die Brücke, Schnittstelle, dass ich, der ich mir selbst wichtig bin/sein muss, zugleich darin eine Verbindlichkeit gegenüber einem "Allah" finden könnte?
11.04.17
16:48
Manuel sagt:
@Andreas: Sehen Sie sich die Islamische Welt an! Ich anaylsiere nur nüchtern was passiert, wenn der Islam Staatsideologie wird!
11.04.17
21:17
Johannes Disch sagt:
@Charley Das ist wirklich ein interessantes Thema. Bei Gelegenheit führe ich das mal näher aus. Aber entscheidend für die aktuelle Situation ist nicht der tiefsinnige theologische Diskurs. Es ist die Politik. An diesem Irrtum kranken nämlich viele Diskussionen hier bei uns (Nicht nur bei "Islamiq", sondern generell die Diskussion in Deutschland). Da wird die Frage gestellt, ob sich "Der Islam" reformieren lässt (der Dauer-Islamkritiker Abdel-Samad veröffentlicht die nächsten erneut ein Buch mit diesem Titel). Das ist einträglich für den Kontostand dieser oberflächlichen Schreiberlinge, trägt aber nichts zur Problemlösung bei. In den Staaten des Nahen Ostens haben sie kein funktionierendes Bürgertum, keine Mittelschicht, die eine gesellschaftliche Transformation einleiten und erfolgreich durchführen könnte. Es sind feudale Staaten. In ein Machtvakuum stösst dann in der Regel das Militär oder eine fundamentalistisch-islamische Gruppierung (bsp. "Muslimbruderschaft"). Die Probleme sind also politischer und sozio-ökonomischer Natur und nicht religiöser.
12.04.17
13:57
Andreas sagt:
@Manuel: Leider übersehen Sie dabei, dass es in der sog. islamischen Welt nicht zwingend am Islam liegen muss, dass Diktatoren regieren. Europa und die USA sind an den Entwicklungen dort nicht unschuldig. Zwischen der toleranten und weltoffenen islamischen Welt und der, wie wir sie heute wahrnehmen, liegt der Kolonialismus und der Postkolonialismus. Da kann man schon einen Zusammenhang vermuten. Ihre Art der Analyse kann man schön mit einem Beispiel vergleichen: Sie sehen einerseits einen Zuwachs an Störchen und andererseits höhere Geburtenzahlen. Daraus folgern Sie, dass der Storch die Babys bringt.
13.04.17
11:00
Johannes Disch sagt:
@Andreas Ein sehr treffende Analogie, das mit den Störchen und der Geburtenrate. Und auch ihr Hinweis auf den Kolonialismus ist richtig und wichtig. Jahrhunderte war der Islam eigentlich recht liberal. Es entwickelte sich sehr früh eine Arbeitsteilung: Die "Ulema" (Islamische Rechtsgelehrte) waren für die Theologie zuständig und die Kalifen für die Politik. Die "Ambiguität" (Mehrdeutigkeit / Vieldeutigkeit) des Textes (des Koran) wurde nicht als Problem empfunden, sondern als Bereicherung. Wer das genauer wissen möchte, der schaue bitte in das wegweisende Buch von Thomas Bauer: "Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islam." Das Buch erfordert Konzentration und Arbeit. Dafür ist der Erkenntnisgewinn höher als bei der Lektüre oberflächlicher "Islamkritiker" al Abdel-Samad oder Necla Kelek. Die Sucht nach Eindeutigkeit, nach einer letztgültigen Wahrheit und der angeblich endgültigen Interpretation des Textes (Koran) entwickelte sich erst im Zusammenprall mit dem Westen, ist also historisch betrachtet ein verhältnismäßig junges Phänomen. Mit dem endgültigen politischen Niedergang des Islam nach dem Ersten Weltkrieg setzte auch eine Sinnkrise ein. Die wurde zunächst gefüllt durch die säkulare Ideologie des Panarabismus (Arabischer Nationalismus). Erst nach dessen Scheitern-- vor allem verursacht durch die verheerende Niederlage der arabischen Staaten 1967 im Sechstage-Krieg gegen das kleine Israel--- bekam der moderne Islamismus Oberwasser. Der säkulare Nationalstaat wurde von den Islamisten als "importierte unislamische Variante" gebrandmarkt, und die Parole der Islamisten lautete: "Der Islam (in seiner politisierten Form -- Anmerkung von mir-) ist die Lösung." Hervorzuheben sind die Schriften des islamistischen Chefideologen Sayyid Qutb. Seine programmatische Schrift "Wegzeichen" ist die Bibel des Islamismus, vergleichbar des "Kommunistischen Manifests" für Kommunisten. Alle modernen Djihadisten-- der IS, Al Nusra, etc.-- beziehen sich auf Qutb. Auch Bin Ladn hat in seinen Videobotschaften fast ständig Qutb zitiert. Vor allem dessen Schriften muss man kennen, um das Problem des zeitgenössischen Islamismus/Djihadismus zu verstehen, und nicht den Koran. So, das war jetzt eine kurze Zusammenfassung der wirklichen Hintergründe der aktuellen Problematik. Darüber erfahren Sie in deutschen Medien allerdings kaum etwas (eine Ausnahme ist der ZDF-Terrorismus-Experte Elmar Theveßen, der diese Dinge schon öfters erläutert hat).. Stattdessen zig Talkshows, wo man sich frägt: "Ist der Islam an allem schuld?" Da werden dann zig angeblich gefährliche Verse aus dem Koran zitiert.... Diese Diskussionen sind ermüdend, nicht zielführend und auch nicht informativ. Deutsches TV-Dampfgeplauder halt... Und dann gibt es noch die Sorte von "Islamkritiker" a la Abdel-Samad, die fragen: "Ist der Islam noch zu retten?", so der Titel seines neuen Buches. Ist der Islam zu reformieren? Alles Kokolores, womit oberflächliche Schreiberlinge a la Samad nur ihr Konto füllen. Und für den deutschen Michl ist das ja auch so schön einfach und bequem. Es liefert eine scheinbar einleuchtende Erklärung: Ja, der Islam ist offenbar schuld und vor allem der böse Koran.... Alles Schmarrn! Man muss die politischen und die sozio-ökonomischen Hintergründe der aktuellen Konflikte im Nahen Osten kennen. Und die Ursachen reichen weit zurück: Genau 100 Jahre. ("Sykes-Picot-Abkommen). Und man muss-- wie bereits erwähnt-- die Schriften der modernen islamistischen Ideologen kennen. Vor allem die von Sayyid Qutb.
13.04.17
13:27
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