Das EuGH-Urteil entschied, dass das Kopftuch unter Umständen in Unternehmen verboten werden kann. Was sind diese „Umstände“ und was bedeutet das für die Einzelnen? Selma Öztürk Pinar hat die Antworten.
Mit seiner jüngsten Entscheidung hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) die langatmige Kopftuchdebatte ein weiteres Mal an den Tag gebracht. Das Urteil verbietet nicht nur unter bestimmten Umständen das Kopftuch in der Privatwirtschaft, es verwehrt auch jeder Art der sichtbaren Religiosität den Weg zu öffentlichen Räumlichkeiten. Der EuGH nimmt eine Abwägung zwischen der individuellen Religionsfreiheit des Arbeitnehmers und der unternehmerischen Freiheit des Arbeitgebers vor. Im Ergebnis wird dem Grundrecht der Religionsfreiheit – als eines der wichtigsten und elementarsten Grundrechte – weniger Gewicht beigemessen als dem Recht des Arbeitgebers. Letzterem wird von nun an Vorrang gewährt. Nachvollziehbar ist dieser Vorzug allerdings nicht wirklich. Denn sowohl die gegenseitige rechtliche Abwägungsfähigkeit als auch die Benachteiligung des Religionsgrundrechts ist rechtlich bedenklich.
Auf europarechtlicher Ebene bedeutet das Urteil, dass sich die deutschen und alle Gerichte der EU-Mitgliedsstaaten bei der Beurteilung ihrer künftigen Entscheidungen an die Vorgaben des EuGHs als supranationales Organ halten müssen (sog. Bindungswirkung). Die Entscheidung der EuGH-Richter ist eine Richtschnur und schafft Rechtsklarheit für künftige inländische Verfahren. Wenn eine Streitigkeit vor nationalen Gerichten ausgetragen wird, müssen sich die Gerichte in ihrer eigenen Urteilsfindung auf dieses EuGH-Urteil berufen. Ob Arbeitgeber in Zukunft von solchen allgemeinen Verbotsregelungen Gebrauch machen und wie die Entscheidung nationaler Gerichte bei Streitigkeiten ausfällt, wird abzuwarten sein.
Das EuGH-Urteil gibt Arbeitgebern die Möglichkeit, mit einer allgemeinen Regelung alle sichtbaren religiösen und weltanschaulichen Zeichen in seinen Räumlichkeiten zu untersagen. Der Gerichtshof verlangt hier also eine Neutralitätsregel. Es dürfen nicht ausschließlich Kopftücher in Unternehmen verboten werden, sondern – wenn denn ein Verbot auf dem Arbeitsplatz gelten soll – sichtbare religiöse und weltanschauliche Zeichen aller Art. Der Arbeitgeber muss allen religiösen Bekundungen gegenüber auf gleiche neutrale Art und im gleichen ablehnenden Abstand auftreten. Mit dieser allgemeinen Verbotsregelung soll eine unmittelbare Diskriminierung kopftuchtragender Frauen vermieden werden. Problematisch ist an dieser Stelle allerdings, wie dieses allgemeine Verbot in der Lebensrealität angewendet werden und worauf sich neben dem Kopftuch ein Verbot im konkreten Fall noch beziehen soll.
Was fällt somit alles unter dem vom EuGH vorgegebenen, möglichen verbotenen Zeichen? Muss z.B. angelehnt an dieses Urteil eine Mitarbeiterin ihre Halskette mit einem Davidstern vor der Firmentür abnehmen oder sie mit einem Halstuch bedecken, damit dieses jüdische Zeichen für die anderen Mitarbeiter nicht sichtbar ist? Oder gar eine Kreuztätowierung an sichtbaren Körperteilen wie Arm oder Halsbereich entfernen lassen, weil es als christliches Zeichen gegen die Neutralitätspflicht des Unternehmens verstößt? Welcher Voll- oder Schnurbart eines Mitarbeiters ist religiös oder weltanschaulich und welcher nicht? Ungeklärt bleibt also, wo die Grenzlinie zwischen erlaubten und unerlaubten Zeichen zu setzen ist. Die Vermutung liegt nahe, dass bei der Vorgehensweise des Gerichts das sogenannte „Kopftuchproblem“ umgangen wird. Denn erfahrungsgemäß ist das, was als religiös, fremd, unzumutbar und unerwünscht empfunden wird, meist das Kopftuch, da dieses islamische Erkennungszeichen stets mit europäischen Werten als unvereinbar erklärt wird. Es darf in diesem Zusammenhang auch nicht außer Acht gelassen werden, dass Auslöser für den konkreten Rechtsstreit in beiden Fällen das Kopftuch gewesen ist und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass bei künftigen Rechtsstreitigkeiten der alleinige Verbotsgrund wiederum das Kopftuch sein wird.
Um das Urteil des EuGH in einer einfachen Sprache wieder zu geben, wird im Grunde genommen nichts anderes gesagt als: Wenn sich Arbeitgeber in Europa in ihrer Arbeitsatmosphäre von einer kopftuchtragenden Mitarbeiterin ungeachtet ihrer Qualifikationen oder fachlichen Kompetenz gestört fühlen oder sie das Gefühl haben, dass ihre kopftuchtragende Mitarbeiterin allein mit ihrem äußerlichen Erscheinungsbild ihr Arbeitsklima „vergiftet“, dürfen sie eine allgemeine Regelung treffen, mit der sie theoretisch alle religiösen Symbole verbieten können, aber mit derselben Regelung praktisch und eigentlich nur das Kopftuch verbieten wollen. Es ist eine Art allgemeine Diskriminierungsregelung gegen alle Religionen mit einem mittelbaren Diskriminierungsgehalt gegen kopftuchtragende Frauen.
Im Ergebnis wird die Entscheidung des EuGHs Kopftuchträgerinnen den ohnehin schweren Weg in die Arbeitswelt mehr denn je erschweren. Es werden immer höhere Barrieren aufgestellt und die Berufsausübung ist mit immer höheren Risiken verbunden. Betroffene Frauen werden in Konfliktfällen weniger Chancen auf einen Klageerfolg haben. Ein primärer Anspruch auf den Arbeitsplatz oder sekundär auf Schadensersatz wird entfallen. Die erste Anwendungsproblematik des Urteils ist jüngst in Dänemark aufgetreten. Kopftuchtragenden Frauen, die aufgrund ihrer Verweigerung das Tuch abzulegen, nicht eingestellt werden oder ihnen gekündigt wird, soll in Zukunft das Arbeitslosengeld gekürzt oder gar nicht ausgezahlt werden. Den Frauen wird auf diesem Weg die Existenzgrundlage entzogen. Hier ist eine eindeutig widersprüchliche Haltung zu erkennen. Denn auf der einen Seite wird für die Selbstbestimmung der Frau plädiert, auf der anderen Seite lässt man die Frau aber nicht selbst bestimmen.
Das Urteil kann sowohl aus grundrechtlicher, als auch aus religionsrechtlicher Perspektive so nicht akzeptiert werden. Es kann nicht von Rechten sein, wenn kopftuchtragende Frauen derart unter Zugzwang gestellt werden und ihnen kein Handlungsspielraum mehr eingeräumt wird. Es stellt einen Unrechtgehalt dar, wenn Frauen sich zwischen Religion und Beruf entscheiden müssen. Das Urteil stellt in Verbindung mit dem Arbeitsrecht eine Aushöhlung des Religionsausübungsrechts dar, aberkennt die Religionsbekenntnisfreiheit, minimiert die individuelle Religionsfreiheit und verkennt die religiöse Bedeutung des Kopftuchs für betroffene Frauen im Einzelfall.
Sichtbare Religiosität ist und bleibt für Europa nach wie vor ein ernsthaftes Problem. „Religion müsse am Arbeitsplatz nicht toleriert oder akzeptiert werden“. So offen ist Europa, mit seinen europäischen Werten, die für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit stehen, eben noch nicht. Letztendlich verhindern religionsfeindliche Urteile jeglicher Art die religiöse Entfaltungsmöglichkeit aller Menschen, die Religion als ein essentielles und unverzichtbares Element ihrer gesamten Lebensführung sehen. Dazu gehört eben auch der Arbeitsplatz. Anstatt Religionsverboten zunehmend eine rechtliche Basis zu schaffen, wäre es wünschenswert, wenn der EuGH in Zukunft für mehr Religiosität statt Säkularisierung der öffentlichen Arbeitsräume urteilt. Arbeitgeber sollten nicht über die religiöse Erscheinung ihrer Mitarbeiter entscheiden dürfen; Religion sollte nicht der Willkür des Arbeitgebers ausgesetzt sein. Ein so vehementer Eingriff in das Grundrecht des Arbeitnehmers ist weder mit dem Grundgesetz vereinbar noch im Allgemeinen tragbar. Anstatt der Möglichkeit den Weg zu öffnen, Religion aus der Öffentlichkeit zu verbannen, sollten die Gerichte den Mut aufweisen, den Rahmen für sichtbare Religion zu setzen und somit der deklarierten Vielfalt, Verschiedenheit und Pluralität im 21.Jahrhundert Europas gerecht zu werden.
Das EuGH-Urteil mag zwar auf rechtlicher Ebene scheinbar eine Lösung gefunden zu haben, aber ob auch auf gesellschaftlicher Ebene von einer Lösung gesprochen werden kann, ist fraglich und mag zu bezweifeln sein.