In islamischen Gesellschaften sei die Religion dominierend. Warum das falsch ist und Reformen nicht immer die beste Lösung sind, erklärt der Arabist Thomas Bauer im IslamiQ-Interview.
IslamiQ: In Ihrem Buch „Die Kultur der Ambiguität“ sprechen Sie von der „Islamisierung des Islams“. Das hört sich so an, als wäre es etwas Schlimmes. Was meinen Sie damit?
Bauer: Es geht mir darum, gegen ein Vorurteil anzukämpfen. Man liest sehr oft von bedeutenden Gelehrten und auch viele Muslime glauben, dass der Islam das gesamte menschliche Leben in allen Einzelheiten regelt, und dass in islamischen Gesellschaften die Religion der dominierende Faktor überhaupt ist, dem sich alles unterordnet.
Wenn man aber islamische Kulturen mit nichtislamischen vergleicht, dann stellt man fest, dass diese Annahme schlichtweg nicht stimmt. Weil wir alles islamisch nennen, was aus islamischen Kulturen kommt, sprechen wir z. B. auch von islamischer Kunst. Aber von der islamischen Kunst hat, genauso wie die deutsche, nur ein bestimmter Teil mit Religion zu tun. Was ist an einem Glasgefäß aus Syrien islamisch? Was ist an iranischer Miniaturmalerei islamisch? Auch ein großer Teil der Literatur aus islamischen Kulturen ist nicht spezifisch islamisch. Vieles davon kann man in Museen für islamische Kunst sehen, aber da ist eben nicht alles islamisch.
Heute hört man oft den Slogan Din wa Dawla und glaubt, im Islam sei Politik und Religion nicht trennbar. Das stimmt aber nicht, da diese Bereiche tausend Jahre durchaus getrennt wurden, wenn auch nicht komplett. Beides geht ineinander über, und zwar nicht nur in islamischen Ländern, sondern auch in Europa. Man hatte also sehr wohl säkulare Vorstellungen von Herrschaft. Der Slogan Din wa Dawla ist ja schon aus sprachlicher Sicht als moderne Bezeichnung erkennbar, denn Dawla heißt klassisch nicht Staat, sondern das Dransein eines Herrschers, Herrschaftszeit oder Dynastie. Staat heißt es erst in der Moderne seit dem späten 19. Jahrhundert.
IslamiQ: Kulturen wie auch Religionen befinden sich in einem stetigen Wandel. Trotzdem wird immer wieder eine „Reform des Islams“ gefordert? Was ist der Grund hierfür?
Bauer: Die Debatte ist überflüssig. Man denkt dabei immer an Luther, der sagt „Hier stehe ich und kann nicht anders“. Das ist übrigens eine recht kompromisslose Haltung ist, von der wir im Moment zu viel haben. Wir haben immer das Bild von dem Reformator, der die Religion reformiert. Das ist aber Unsinn. Tatsache ist, dass zahllose Muslime darüber nachdenken, wie man dies oder jenes anders auffassen kann. Solche Entwicklungen, die man für gut oder weniger gut halten kann, passieren, aber wie soll denn die umfangreiche Reform passieren?
Zudem stellt sich die Frage: Ist das denn überhaupt positiv? Die meisten Reformen, und dazu gehört auch die protestantische Reformation, blicken nicht in die Zukunft, sondern leben in der Vergangenheit. Man möchte die reine, von allen Zusätzen gesäuberte Urform der Religion wiederherstellen. Das gibt es im Islam schon. Der Salafismus bzw. die Islâh-Bewegung ist eine Reform, die ja eher zurückblickt und nicht fragt, wie man den Islam den gegenwärtigen Umständen entsprechend interpretieren kann.
Wichtig ist mir hier nochmal der Hinweis, dass die islamische Geschichte in all ihrer Vielfalt und Fülle enorm viel Potenzial bereithält, das man in der Gegenwart und Zukunft nutzbar machen kann. Vieles davon ist aber verschüttet und muss neu entdeckt werden. Das gilt natürlich nicht nur für den Islam. Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf zeigt, dass Frauen in der katholischen Kirche heute vielfach schlechter gestellt sind als vor 400 Jahren, wo die Äbtissinnen mächtige Kirchenfürstinnen mit mehr Befugnissen als heute waren.
Dabei ist es immer einfacher, auf die Tradition zurückzugreifen als nur in der Gegenwart nach Antworten zu suchen oder nur in die Ursprungszeit zu blicken. Denn die Geschichte hat auch zu positiven Ergebnissen geführt, die man für die Gegenwart fruchtbar machen kann.
IslamiQ: Der Islam hat ein schlechtes Image. War das immer so?
Bauer: Es gab immer Intellektuelle, bei denen der Islam ein schlechtes Image hatte. Zudem gab es eine Reihe von Konflikten mit islamischen Machthabern, wobei selbst hier die Frontlinien ganz unterschiedlich waren. Beispielweise waren die Osmanen erst Verbündete der Franzosen und haben später mit den Deutschen den Weltkrieg verloren. Natürlich gab es Zeiten, in denen der Islam ein sehr schlechtes Image hatte, etwa zu Lebzeiten Luthers. Danach wurde es wieder besser. Es hat immer einen Wechsel gegeben.
Allerdings hat sich in den letzten Jahrzehnten etwas getan. In den 1980er Jahren war das Islambild geprägt durch Urlaubsreisen, Karl-May-Romane und Geschichten aus 1001 Nacht. Die Gebildeten wussten zudem etwas über Goethes West-Östlichen Divan, und als neues Phänomen kamen die Ölscheichs hinzu. Im Großen und Ganzen war das Image positiv.
Wie sich das allmählich geändert hat, kann man an den Titelseiten des SPIEGEL beobachten. Dort gab es 1973 einen ziemlich ausländerfeindlichen Titel: „Die Türken kommen – rette sich wer kann“[1]. Da ging es um Gastarbeiter und Visionen von der Verwahrlosung der Städte. Interessant ist, dass das Wort Islam dort gar nicht vorkommt. Man sprach nur von den Türken. Das änderte sich 1979 mit der Iranischen Revolution. „Zurück ins Mittelalter“[2] lautete der Titel nun. Das war das erste Mal, dass sich ein Staat durch eine Volksrevolution aus dem Ost-West-Schema ausgeklinkt hat, was ein ziemlicher Schock für den Westen war. Damit begann eine gewisse Islamskepsis. Später kam natürlich das Jahr 2001 dazu. Von da an ist das Image des Islams nicht besser geworden, was sehr beunruhigend ist.
IslamiQ: Um die „islamische Welt“ steht es derzeit nicht gut. Doch das wird schon seit der Kolonialzeit so gesehen. Kann man von einem Niedergang der islamischen Kulturen sprechen?
Bauer: Die meisten arabischen Länder durchleben eine politische Misere, die alle Bereiche in Mitleidenschaft gezogen hat. Das fängt an mit der Art, wie Politik gemacht wird und geht weiter über Korruption bis hin zu Pseudodemokratien wie in Ägypten. Nur wenige Länder wie etwa Tunesien haben es geschafft, die Militärdiktatur loszuwerden, was auch damit zu tun haben dürfte, dass es geopolitisch recht unbedeutend ist. Viele islamische Länder liegen geostrategisch sehr ungünstig, weshalb es dort zu Kriegen kommt.
Ein anderes Problem ist das Bildungswesen. Die Eliten sind schon ab dem 19. Jahrhundert stark auseinandergedriftet. Auf der einen Seite gab es die prowestlich-nationalistischen Eliten, auf der anderen Seite die traditionellen, meist Ulama-Eliten, die sich zum Großteil abgekoppelt haben und deshalb zu keinerlei Innovation mehr imstande waren. Diese Spannung ist bis heute nicht behoben, was ganz stark im Bildungsbereich spürbar ist. Was es so gut wie gar nicht gibt, sind Geisteswissenschaften. Mir fällt kein geisteswissenschaftliches arabisches Buch aus den letzten Jahrzehnten ein, das man unbedingt gelesen haben sollte.
Die Folge ist, dass man über die eigene Kultur und Geschichte nicht reflektieren kann. Denn genau dafür sind Geschichts- und Kulturwissenschaften da. Wenn man das aber nicht kann, bleiben nur noch ingenieurmäßige Lösungen übrig. Der Ingenieur will natürlich eindeutige Lösungen haben, was zwar richtig für seinen Beruf ist, aber nicht für die Gesellschaft.
IslamiQ: Osten und Westen, Abendland und Morgenland. Sind solche Gegensatzpaare angesichts von Globalisierung und weltweitem Wissenstransfer überhaupt noch sinnvoll?
Bauer: Nicht wirklich. Je nach Weltlage ändert sich die Bedeutung dieser Begriffe. Ich halte diese Bezeichnungen für nicht hilfreich. Wir haben uns ja auch von der Orientalistik verabschiedet, in der man Japan, China und die arabischen Länder in einer Rubrik geführt hat, da man Gemeinsamkeiten zu erkennen dachte.
Interessant ist, wie alte Begriffe als Kampfbegriffe wieder auftauchen wie z. B. Abendland. Ich denke es gibt hier keine kulturellen Einheiten, höchstens kulturelle Gemeinsamkeiten, die allerdings entweder kleinräumig oder grenzüberschreitend sind. Ich spreche auch immer von islamischen Kulturen im Plural, um der Vielfalt gerecht zu werden. Denn was hat schon ein Berbernomade mit einem muslimischen Kaufmann in Delhi gemeinsam?
IslamiQ: In einem Aufsatz über die Fremdheit in der klassischen arabischen Literatur sprechen Sie von subjektiver und objektiver Fremdheit. Fremdheit werde in der islamischen Kultur vor allem verstanden als Verlust bzw. das Fehlen sozialer Beziehungen, also der Trennung von Familie und Freuden. Wie kann diese Sichtweise auf „die Fremde“ und „den Fremden“ in der aktuellen Lage – Stichwort: Flüchtlinge – fruchtbar gemacht werden?
Bauer: Fremdheit ist etwas, was mit der Mentalität der Menschen zu tun hat. Mentalität kann man aber nicht bewusst und schnell wandeln. Sie ändert sich nur langsam. Einer der Gründe weshalb es einen Unterschied in der Wahrnehmung von Fremden gibt, ist, dass die Gesellschaften des Nahen Ostens immer voller Fremder waren. Keine der großen Städte war monoreligiös und einsprachig, und auch auf dem Land war es oft gemischt. Das gilt bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, ab dem man versuchte, nach ethnischen Kategorien zu ordnen.
In Europa war das anders. Außer einer kleinen Minderheit von Juden gab es keine anderen Religionen. Die Religionsspaltung im Zuge der Reformation hat man auch nicht als Bereicherung empfunden. Doch heute ist es schlimmer denn je, dass sich Menschen durch Fremde bedroht fühlen, und zwar auch, wenn diese gar nicht da sind.
Das Interview führte Ali Mete.
[1] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41955159.html
[2] http://www.spiegel.de/spiegel/print/index-1979-7.html