Vorbilder, die uns positiv stimmen, sind heute wichtiger denn je. In der neuen IslamiQ-Reihe möchten wir unsere Leser zu Autoren machen. Ibrahim Aslandur schreibt über sein Vorbild Alija Izetbegović.
Der indische Philosoph Osho soll gesagt haben: „Es benötigt eine gewisse Dunkelheit, um Sterne zu sehen.“ Mit dieser metaphorischen Aussage deutet er darauf hin, dass erst in dunklen Abschnitten der Menschheitsgeschichte strahlende Persönlichkeiten zum Vorschein treten.
In der nahen Vergangenheit durchlebte Osteuropa ein solch dunkles Kapitel. Der Zerfall Jugoslawiens und der damit einhergehende Bürgerkrieg der slawischen Völker überschwemmte die Region mit Leid und Verwüstung. 1991 standen sich die Kriegsparteien unversöhnlich gegenüber.
Vor allem die Lichtblicke sind besonders dem Denker und charismatischen Führer der bosnischen Muslime zu verdanken: Alija Izetbegović. 1925 im nordbosnischen Bosanski Samac geboren, wuchs Izetbegović in Sarajevo auf. Der gelernte Jurist verbrachte zwischen 1946 und 1988 nahezu zehn Jahre in jugoslawischen Gefängnissen. Die kommunistischen Richter warfen ihm vor, Propaganda für die Errichtung eines „islamischen Religionsstaates“ zu betreiben. Seine Funktion als politischer Akteur bekam er jedoch erst im forgeschrittenen Alter, zuvor arbeitete er als Rechtsberater für diverse jugoslawische Firmen.
Im Jahre 1990 gründetet er die „Partei der demokratischen Aktion“ und gewann die freien Wahlen der damaligen jugoslawischen Teilrepublik Bosnien-Herzegowina. Im Frühjahr 1992 überfielen und besetzen serbische Millizen einen Großteil der bosnischen Gebiete. Im Laufe der bewaffneten Auseinandersetzung war Izetbegović die unbestrittene Führungsperson der Isolierten, Vertriebenen und scheinbar von aller Welt verlassenen bosnischen Muslime.
Was verlieh Izetbegović diese Strahlkraft?
„Er war ein unglaublich bescheidener Mensch“, verrät mir Dr. Süleyman Gündüz, der während des Bosnienkriegs den damaligen türkischen Staatspräsidenten in Angelegenheiten zum Balkan beriet. Als Berater und politischer Funktionär pflegte Dr. Gündüz einen engen Kontakt zu Izetbegović. „Nicht nur seine menschlichen Qualitäten schätze ich, sondern vor allem als Philosoph und politischer Führer ist Alija eine wahre Inspiration.“
Alija verfasste zu Lebzeiten zwei Hauptwerke, die seine Positionen zur Religion, Politik und Gesellschaft widergeben. Sowohl „Der Islam zwischen Osten und Westen“ als auch „Die Islam-Deklaration“ beinhalten einen retropersepektiven Blick auf die islamische Geschichte als auch eine kritische Bestandsaufnahme der muslimischen Denk- und Lebensweise. Dabei geht Alija darauf ein, dass ein Paradigmenwechsel in der muslimischen Welt notwendig ist. Dieser Paradigmenwechsel sei nur dann zu bewerkstelligen, wenn der muslimische Verstand kritisch und unabhängig urteilen würde. Diese kritische Urteilskraft könne nur ein Produkt der gelungenen Erziehung sein. Die Erziehungsmethode der muslimischen Welt sei zu sehr darauf bedacht Denkstrukturen auswendigzulernen und weniger sie zu hinterfragen. In seiner Veröffentlichung „Die Islam-Deklaration“ erklärt er: „Unsere Kinder wachsen mit einer Philosophie des Kadavergehorsams auf. Doch müssen sie dahin gebracht werden, frei, kritisch und eigenständig Entscheidungen fällen zu können. Eine Generation, die aufgezogen wird, geführt zu werden und nicht zu führen, erweist dem Islam einen Bärendienst.“
Denker und Macher in einer Person
Für Alija ist auch die Vielfalt und religiöse Toleranz ein ganz besonderes Augenmerk. Vehement wehrt sich Izetbegović gegen das gemeinsame Bosnien in ein muslimisches, kroatisches und serbisches Gebiet zu separieren. So teilt er mit: „Sarajevo war für mich immer ein Symbol für Toleranz, die kosmopolitische Stadt überhaupt.“ Außerdem weist er darauf hin, dass der Islam – zu Lebzeiten des Propheten als auch in der Zeit der ersten vier Kalifen – als Bindeglied des gesellschaftlichen Zusammenlebes zwischen Juden, Christen und Muslimen fungierte. Ein Miteinander sei nur deshalb möglich gewesen, weil die koranischen Prinzipien der „Freiheit zur Religionswahl“ und dem „Recht auf Unversehrtheit“ eingehalten wurden. Wenn sich Muslime auf diese islamischen Werte besinnen würden, könnte der Islam auch in Zukunft eine Vermittlerfunktion zwischen Volks-und Religionsgruppen einnehmen.
In großen Zügen dargestellt tauchen in Alija’s Reden und Schriften immer folgende fünf Begriffe auf: Aufbau eines islamischen Bewusstseins, Recht, Freiheit, Moral und Kritik. Seine Anlaysen sind schonungslos, fundiert und haben keinewegs an Aktualität verloren. Im innerislamischen Diskurs werden nach wie vor diese fünf Kernaspekte aufgegriffen und kontrovers diskutiert. Doch vermutlich ist Alija aber aus einem anderen Grund so bedeutungsvoll für viele Menschen: Er verstand es „den Denker“ und „den Macher“ in einer Person zu vereinen, deshalb wirkt er nach wie vor sehr authentisch.