Philosoph

Habermas gegen deutsche Leitkultur

Der renommierte Philosoph Jürgen Habermas hält eine deutsche Leitkultur nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Er widerspricht dem Bundesinnenminister De Maizière.

03
05
2017
Europa Pont © flickr / CC 2.0 / by Habermas29, bearbeitet IslamiQ

Der Philosoph Jürgen Habermas hält eine deutsche Leitkultur für nur schwerlich mit dem Grundgesetz vereinbar. „Eine liberale Auslegung des Grundgesetzes ist mit der Propagierung einer deutschen Leitkultur unvereinbar“, schreibt Habermas in einem Gastbeitrag für die „Rheinische Post“ am Mittwoch. „Sie verlangt nämlich die Differenzierung der im Lande tradierten Mehrheitskultur von einer allen Bürgern gleichermaßen zugänglichen und zugemuteten politischen Kultur. Deren Kern ist die Verfassung selbst.“

Weiter schreibt Habermas: „Keine Muslima darf dazu genötigt werden, beispielsweise Herrn de Maiziere die Hand zu geben.“ Allerdings müsse die Zivilgesellschaft von den eingewanderten Staatsbürgern erwarten, „dass sie sich in die politische Kultur einleben – auch wenn sich das rechtlich nicht erzwingen lässt“.

Der Philosoph betonte, dass die Eingebürgerten genauso wie die Alteingesessenen „ihre eigene Stimme in den Prozess der Fort- und Umbildung dieser Inhalte“ einbringen könnten. Versuche der rechtlichen Konservierung einer Leitkultur widersprächen nicht nur dem liberalen Grundrechtsverständnis, sie seien auch unrealistisch, urteilt Habermas.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte die Bundesbürger am Wochenende dazu aufgerufen, sich selbstbewusst zu einer deutschen Leitkultur zu bekennen und sie vorzuleben. Der Innenminister nannte einen Katalog von zehn Punkten, der jenseits von Grundrechten und Grundgesetz nach seiner Meinung die Leitkultur ausmacht. (KNA/dpa/iQ)

Leserkommentare

Andreas sagt:
Ich glaube nicht, dass ein Politiker sich anmaßen kann, eine für alle verbindliche deutsche Leitkultur zu definieren. Abgesehen davon ist Kultur nicht leblos, sondern unterliegt auch einer Veränderung. Da muss man doch nur einmal das heutige Deutschland mit dem von vor hundert Jahren vergleichen und mit dem von vor zweihundert Jahren etc.
03.05.17
14:37
Johannes Disch sagt:
Es geht auch nicht um eine deutsche Leitkultur. Da irrt der Innenminister tatsächlich und Habermas hat recht. Es geht um eine europäische Leitkultur, die Habermas in seinem berühmten Werk "Der philosophische Diskurs der Moderne" als "kulturelle Moderne" bezeichnet hat. Dazu zählen u. a. Individuelle (nicht kollektive) Menschenrechte, das Individualitätsprinzip, die Trennung von Religion und Politik, etc. Bassam Tibi hat das an Habermas angelehnte Konzept der "Leitkultur" bereits vor über 20 Jahren in die Politik eingebracht und auch verschiedene Politiker beraten, darunter auch Angela Merkel. Er hat es inzwischen aufgegeben und hält die deutsche Politik für beratungsresistent. Die Deutschen neigen noch immer zur gesinnungsethischen Nabelschau. Jede Talkshow zum Thema Islam und Integration beweist das.
04.05.17
15:16
Charley sagt:
Es ist absurd, Folkloregewohnheiten für verbindlich zu erklären. Zugleich ist es vermutlich eine Überforderung für viele, die Erkenntnis der Freiheit als Ziel zu verfolgen. Aber wenn wir uns in der Sehnsucht nach dieser Erkenntnis verbinden könnten, würde die Kultur blühen. Alle Gesetze sind nur auf Grundlage dieser Sehnsucht zu verstehen.
07.05.17
16:00