Kulturen unterscheiden sich in ihrer Fähigkeit, Mehrdeutigkeit auszuhalten. Islamische Kulturen sind derzeit nicht gerade „ambiguitätstolerant“. Welche Gründe das hat und dass das nicht immer so war, erklärt Arabist Thomas Bauer im IslamiQ-Interview.
IslamiQ: In Ihrem vielbeachteten Buch „Die Kultur der Ambiguität“ befassen Sie sich mit Ausschnitten der Kulturgeschichte des Islams anhand des Konzepts der Ambiguität. Was ist das genau?
Thomas Bauer: Im Arabischen ist es gar nicht so einfach, eine einzige Übersetzung dafür zu finden, weil es viele Wörter für einzelne Aspekte der Ambiguität gibt, aber keinen Oberbegriff.
Das meiner Arbeit zugrundeliegende Konzept der Ambiguität stammt aus der Psychologie und heißt dort Ambiguitätstoleranz. Die Menschen wollen wohl von Natur aus, dass die Welt eindeutig ist, müssen aber mit Mehrdeutigkeit, Vieldeutigkeit oder Unsicherheit leben. Das können manche Menschen besser als andere. Dem Ansatz der historischen Anthropologie zufolge gilt das auch für das Kollektiv. Manche Kulturen sind also ambiguitätstoleranter als andere. Die Menschen haben z. B. einen unterschiedlichen Umgang mit dem Tod: Manche wollen schnell und plötzlich sterben, andere wünschen sich einen langsamen Tod und wollen im Kreise der Familie sterben.
Diese individuellen Unterschiede ändern sich auch mit der Zeit. Vor 500 Jahren haben die meisten Menschen gebetet, dass Gott sie verschonen möge vor einem plötzlichen Tod, heute ist es genau umgekehrt. So ist es auch mit Ambiguitätstoleranz: Es gibt Gesellschaften mit einer sehr hohen Ambiguitätstoleranz, aber auch solche mit einer relativ geringen. Das ist natürlich auch innerhalb der Zeit unterschiedlich: In Italien ist die Ambiguitätstoleranz höher als in den USA.
IslamiQ: Kann man sagen, dass islamische Gesellschaften früher ambiguitätstoleranter waren als heute? Wenn ja, welche Gründe hat das?
Bauer: Das ist ein Bündel an Gründen. Ein Grund ist, dass man über Jahrhunderte hinweg sich in den islamischen Gesellschaften gar nicht so viele Gedanken über die anderen gemacht hat. Man war der Meinung, man hätte schon das Richtige und müsse sich nicht mit anderen Kulturen auseinandersetzen. Als man es auf einmal aber doch musste, hat man erst einmal geschaut, was man hat, auf das man sich mit Gewissheit besinnen kann.
Ein weiterer Grund ist, dass man auf Ideologien reagieren musste. Im 19. Jahrhundert, also dem Zeitalter der Ideologisierung, sind die Muslime intensiv mit dem Westen konfrontiert worden, ohne sich mit der Renaissance des 16. Jahrhunderts auseinandergesetzt zu haben. Es gab früh eine Bewegung der stärkeren islamischen Ausrichtung von al-Afgani und anderen, aber neben Kommunismus und Sozialismus war es besonders der Nationalismus, der in der arabischen Welt und auch in der Türkei übernommen wurde. Diesen Ideologien folgte dann der „Islamismus“, der das Denken seitdem sehr beherrscht, auch von denen, die sich nicht als „Islamisten“ bezeichnen würden.
Der dritte Grund ist, dass die westliche Modere, an der man sich positiv oder negativ orientiert, nicht sonderlich ambiguitätstolerant ist. Das hängt z. B. mit der Technisierung zusammen, die ja gerade nicht ambiguitätstolerant sein soll, sondern eindeutig. Das gilt insbesondere auch für den Kapitalismus. Wir leben also in keiner allzu ambiguitätstoleranten Welt.
IslamiQ: Heute scheint ein Mangel an Ambiguitätstoleranz das größere Problem zu sein.
Bauer: Ja, man sollte aber anmerken, dass das Wort Toleranz in dem Konzept der Ambiguitätstoleranz mit dem positiven Begriff der Toleranz erst mal nicht viel zu tun hat und auch keine Wertung sein soll. Zu viel Ambiguitätstoleranz ist auch schlecht. Das öffnet Tür und Tor für Schlamperei, Chaos, Korruption usw. Ein Mangel an Ambiguitätstoleranz führt zur Ideologisierung. Ideologien sind nicht ambiguitätstolerant, sondern haben zu jedem Punkt genau eine klare Meinung.
Wenn man das nun auch auf Religionen überträgt, hat es ähnliche Konsequenzen. Im modernen Islam gibt es Strömungen, die sagen, alles habe genau eine Bedeutung, zu jedem Punkt gebe nur eine einzige richtige Lösung. Mir ist jedoch aufgefallen, dass das für den klassischen Islam nicht gilt. Natürlich hat es damals mit Fatwas auch klare Stellungnahmen gegeben, aber der Mufti war keinesfalls der Ansicht, dass dies hundertprozentig und mit Gewissheit die einzige Lösung sei. Es gab immer unterschiedliche Ansichten und Wahrheiten. Das sieht man z. B. an der Hadithwissenschaft, wo nie gesagt worden ist, dass ein Hadith absolut richtig ist oder nicht, es gab immer Abstufungen im Sinne von wahrscheinlich bis weniger wahrscheinlich. Heute hört man immer wieder: das ist sahih und das ist falsch, aber selten die Abstufungen. Das gilt auch für das islamische Recht.
Natürlich ist es so, dass Gesellschaften, die Ambiguität gerne ertragen, auch Vergnügen an der Produktion von Ambiguität haben. Hier kommt wieder die Literatur ins Spiel, die Spaß daran hatte, rätselhafte, mehrdeutige Texte zu erzeugen.
IslamiQ: Gilt das auch für die recht ernsthafte Wissenschaft des Tafsir?
Bauer: Es fällt auf, dass in sehr vielen klassischen Korankommentaren der Kommentator nicht vorgibt zu wissen, welche Bedeutung eine Koranstelle genau hat. Viel häufiger findet man, dass verschiedene Interpretationen angeführt werden, oft mit Namen eines Gewährsmanns oder auch nicht, allerdings ohne dass der Kommentator sagt, welche er denn nun für richtig hält. Natürlich werden hier und da auch Bewertungen vorgenommen, aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Kommentatoren sich freuen, wenn sie eine zusätzliche Bedeutung finden. Es gibt ja auch die Ansicht, dass gerade in der Mehrdeutigkeit des Korans das Positive liegt. Der Korangelehrte Ibn al-Dschazari sagte: Weil der Koran so viele Bedeutungen in sich enthält, braucht es nach Muhammad keine weiteren Propheten mehr.
Interessant ist, dass man von dieser sehr breiten Auslegungsmöglichkeit keinen Gebrauch gemacht hat, weil die sich langsam verändernde Gesellschaft das nicht erfordert hat. Als jedoch Mitte des 19. Jahrhunderts und vor allem im 20. Jahrhundert sich die Gesellschaft sehr schnell verändert hat und man darauf hätte zurückgreifen können, hat man es nicht mehr getan, sondern sich hinter möglichst eindeutigen Auslegungen verschanzt. Die alte Offenheit war nicht mehr da.
IslamiQ: Ist der Wunsch oder gar das Verlangen nach Eindeutigkeit und Konformität etwas Modernes?
Bauer: Das gab es schon immer. Etwa die stark ambiguitätsintolerante Haltung eines Abdulwahhab, der das ohne weitgehenden westlichen Einfluss getan hat. Abdulwahhab hat sich daran gestört, dass es so viele Meinungen zu ein und derselben Frage gibt. Gott wird ja wohl etwas Eindeutiges offenbart haben. Auch in Europa gab es ein auf und ab von Ambiguitätstoleranz. Im Spätmittelalter oder in der Renaissance kann man von einer relativ großen Ambiguitätstoleranz ausgehen, während sie in der Zeit der Glaubenskriege rapide abgenommen haben dürfte. Nach dem Westfälischen Frieden und in der Barockzeit haben wir wieder eine sehr ambiguitätstolerante Haltung, was aber bei der Französischen Revolution wieder aufhört.
IslamiQ: Was hat Religion für einen Wert, wenn ihr keine oder kaum eine absolute Wahrheit bleibt oder diese zumindest in der Interpretation bis zur Bedeutungslosigkeit abgeschwächt wird? Oder anders gefragt: Was ist so falsch an dem Wunsch nach Eindeutigkeit, Eintracht und „klaren Verhältnissen“.
Bauer: Die Gefahr ist, dass es zu Ideologisierung, Ausgrenzung und auch Gewalt führen kann. Völlige Beliebigkeit kann natürlich auch nicht sein. Es ist in allen Religionen klar, dass das Göttliche etwas völlig anderes ist als das Menschliche. Die Sinne des Menschen, die für das weltliche Überleben notwendig sind, sind nicht gemacht, um das Göttliche eindeutig zu erkennen. Es kann gar nicht anders sein, als dass es verschiedene Perspektiven auf das Göttliche geben kann.
Entscheidens ist nun aber, dass Religionen eine ausgeprägte soziale Dimension haben, d. h. die Gemeinschaft spielt eine wichtige Rolle. Es ist nicht möglich, dass sich jeder seine eigene Religion zusammenbastelt, da das sozial nicht lebbar wäre. Die Existenz von verschiedenen Religionsgemeinschaften, deren Lehren und Institutionen nicht völlig beliebig sein können, hat ihren Sinn. Sie haben ihre Grenzen, diese sind aber nicht statisch, sondern können sich ändern, wenn auch nicht beliebig. Sie besitzen die Wahrheit, aber eben nicht die einzige.
Das Interview führte Ali Mete.