Mehrdeutigkeit aushalten

Zwischen Ideologisierung und Beliebigkeit

Kulturen unterscheiden sich in ihrer Fähigkeit, Mehrdeutigkeit auszuhalten. Islamische Kulturen sind derzeit nicht gerade „ambiguitätstolerant“. Welche Gründe das hat und dass das nicht immer so war, erklärt Arabist Thomas Bauer im IslamiQ-Interview.

04
05
2017
Symbolbild: Kalligraphie © flickr / CC 2.0 / by Sven Graeme, bearbeitet IslamiQ

IslamiQ: In Ihrem vielbeachteten Buch „Die Kultur der Ambiguität“ befassen Sie sich mit Ausschnitten der Kulturgeschichte des Islams anhand des Konzepts der Ambiguität. Was ist das genau?

Thomas Bauer: Im Arabischen ist es gar nicht so einfach, eine einzige Übersetzung dafür zu finden, weil es viele Wörter für einzelne Aspekte der Ambiguität gibt, aber keinen Oberbegriff.

Das meiner Arbeit zugrundeliegende Konzept der Ambiguität stammt aus der Psychologie und heißt dort Ambiguitätstoleranz. Die Menschen wollen wohl von Natur aus, dass die Welt eindeutig ist, müssen aber mit Mehrdeutigkeit, Vieldeutigkeit oder Unsicherheit leben. Das können manche Menschen besser als andere. Dem Ansatz der historischen Anthropologie zufolge gilt das auch für das Kollektiv. Manche Kulturen sind also ambiguitätstoleranter als andere. Die Menschen haben z. B. einen unterschiedlichen Umgang mit dem Tod: Manche wollen schnell und plötzlich sterben, andere wünschen sich einen langsamen Tod und wollen im Kreise der Familie sterben.

Diese individuellen Unterschiede ändern sich auch mit der Zeit. Vor 500 Jahren haben die meisten Menschen gebetet, dass Gott sie verschonen möge vor einem plötzlichen Tod, heute ist es genau umgekehrt. So ist es auch mit Ambiguitätstoleranz: Es gibt Gesellschaften mit einer sehr hohen Ambiguitätstoleranz, aber auch solche mit einer relativ geringen. Das ist natürlich auch innerhalb der Zeit unterschiedlich: In Italien ist die Ambiguitätstoleranz höher als in den USA.

IslamiQ: Kann man sagen, dass islamische Gesellschaften früher ambiguitätstoleranter waren als heute? Wenn ja, welche Gründe hat das?

Bauer: Das ist ein Bündel an Gründen. Ein Grund ist, dass man über Jahrhunderte hinweg sich in den islamischen Gesellschaften gar nicht so viele Gedanken über die anderen gemacht hat. Man war der Meinung, man hätte schon das Richtige und müsse sich nicht mit anderen Kulturen auseinandersetzen. Als man es auf einmal aber doch musste, hat man erst einmal geschaut, was man hat, auf das man sich mit Gewissheit besinnen kann.

Ein weiterer Grund ist, dass man auf Ideologien reagieren musste. Im 19. Jahrhundert, also dem Zeitalter der Ideologisierung, sind die Muslime intensiv mit dem Westen konfrontiert worden, ohne sich mit der Renaissance des 16. Jahrhunderts auseinandergesetzt zu haben. Es gab früh eine Bewegung der stärkeren islamischen Ausrichtung von al-Afgani und anderen, aber neben Kommunismus und Sozialismus war es besonders der Nationalismus, der in der arabischen Welt und auch in der Türkei übernommen wurde. Diesen Ideologien folgte dann der „Islamismus“, der das Denken seitdem sehr beherrscht, auch von denen, die sich nicht als „Islamisten“ bezeichnen würden.

Der dritte Grund ist, dass die westliche Modere, an der man sich positiv oder negativ orientiert, nicht sonderlich ambiguitätstolerant ist. Das hängt z. B. mit der Technisierung zusammen, die ja gerade nicht ambiguitätstolerant sein soll, sondern eindeutig. Das gilt insbesondere auch für den Kapitalismus. Wir leben also in keiner allzu ambiguitätstoleranten Welt.

Thomas Bauer ist Professor für Arabistik und Islamwissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt auf der Erforschung der arabischen Dichtung ab dem 13. Jahrhundert. 2011 erschien sein vielbeachtetes Buch „Die Kultur der Ambiguität – Eine andere Geschichte des Islams“.

IslamiQ: Heute scheint ein Mangel an Ambiguitätstoleranz das größere Problem zu sein.

Bauer: Ja, man sollte aber anmerken, dass das Wort Toleranz in dem Konzept der Ambiguitätstoleranz mit dem positiven Begriff der Toleranz erst mal nicht viel zu tun hat und auch keine Wertung sein soll. Zu viel Ambiguitätstoleranz ist auch schlecht. Das öffnet Tür und Tor für Schlamperei, Chaos, Korruption usw. Ein Mangel an Ambiguitätstoleranz führt zur Ideologisierung. Ideologien sind nicht ambiguitätstolerant, sondern haben zu jedem Punkt genau eine klare Meinung.

Wenn man das nun auch auf Religionen überträgt, hat es ähnliche Konsequenzen. Im modernen Islam gibt es Strömungen, die sagen, alles habe genau eine Bedeutung, zu jedem Punkt gebe nur eine einzige richtige Lösung. Mir ist jedoch aufgefallen, dass das für den klassischen Islam nicht gilt. Natürlich hat es damals mit Fatwas auch klare Stellungnahmen gegeben, aber der Mufti war keinesfalls der Ansicht, dass dies hundertprozentig und mit Gewissheit die einzige Lösung sei. Es gab immer unterschiedliche Ansichten und Wahrheiten. Das sieht man z. B. an der Hadithwissenschaft, wo nie gesagt worden ist, dass ein Hadith absolut richtig ist oder nicht, es gab immer Abstufungen im Sinne von wahrscheinlich bis weniger wahrscheinlich. Heute hört man immer wieder: das ist sahih und das ist falsch, aber selten die Abstufungen. Das gilt auch für das islamische Recht.

Natürlich ist es so, dass Gesellschaften, die Ambiguität gerne ertragen, auch Vergnügen an der Produktion von Ambiguität haben. Hier kommt wieder die Literatur ins Spiel, die Spaß daran hatte, rätselhafte, mehrdeutige Texte zu erzeugen.

IslamiQ: Gilt das auch für die recht ernsthafte Wissenschaft des Tafsir?

Bauer: Es fällt auf, dass in sehr vielen klassischen Korankommentaren der Kommentator nicht vorgibt zu wissen, welche Bedeutung eine Koranstelle genau hat. Viel häufiger findet man, dass verschiedene Interpretationen angeführt werden, oft mit Namen eines Gewährsmanns oder auch nicht, allerdings ohne dass der Kommentator sagt, welche er denn nun für richtig hält. Natürlich werden hier und da auch Bewertungen vorgenommen, aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Kommentatoren sich freuen, wenn sie eine zusätzliche Bedeutung finden. Es gibt ja auch die Ansicht, dass gerade in der Mehrdeutigkeit des Korans das Positive liegt. Der Korangelehrte Ibn al-Dschazari sagte: Weil der Koran so viele Bedeutungen in sich enthält, braucht es nach Muhammad keine weiteren Propheten mehr.

Interessant ist, dass man von dieser sehr breiten Auslegungsmöglichkeit keinen Gebrauch gemacht hat, weil die sich langsam verändernde Gesellschaft das nicht erfordert hat. Als jedoch Mitte des 19. Jahrhunderts und vor allem im 20. Jahrhundert sich die Gesellschaft sehr schnell verändert hat und man darauf hätte zurückgreifen können, hat man es nicht mehr getan, sondern sich hinter möglichst eindeutigen Auslegungen verschanzt. Die alte Offenheit war nicht mehr da.

IslamiQ: Ist der Wunsch oder gar das Verlangen nach Eindeutigkeit und Konformität etwas Modernes?

Bauer: Das gab es schon immer. Etwa die stark ambiguitätsintolerante Haltung eines Abdulwahhab, der das ohne weitgehenden westlichen Einfluss getan hat. Abdulwahhab hat sich daran gestört, dass es so viele Meinungen zu ein und derselben Frage gibt. Gott wird ja wohl etwas Eindeutiges offenbart haben. Auch in Europa  gab es ein auf und ab von Ambiguitätstoleranz. Im Spätmittelalter oder in der Renaissance kann man von einer relativ großen Ambiguitätstoleranz ausgehen, während sie in der Zeit der Glaubenskriege rapide abgenommen haben dürfte. Nach dem Westfälischen Frieden und in der Barockzeit haben wir wieder eine sehr ambiguitätstolerante Haltung, was aber bei der Französischen Revolution wieder aufhört.

IslamiQ: Was hat Religion für einen Wert, wenn ihr keine oder kaum eine absolute Wahrheit bleibt oder diese zumindest in der Interpretation bis zur Bedeutungslosigkeit abgeschwächt wird? Oder anders gefragt: Was ist so falsch an dem Wunsch nach Eindeutigkeit, Eintracht und „klaren Verhältnissen“.

Bauer: Die Gefahr ist, dass es zu Ideologisierung, Ausgrenzung und auch Gewalt führen kann. Völlige Beliebigkeit kann natürlich auch nicht sein. Es ist in allen Religionen klar, dass das Göttliche etwas völlig anderes ist als das Menschliche. Die Sinne des Menschen, die für das weltliche Überleben notwendig sind, sind nicht gemacht, um das Göttliche eindeutig zu erkennen. Es kann gar nicht anders sein, als dass es verschiedene Perspektiven auf das Göttliche geben kann.

Entscheidens ist nun aber, dass Religionen eine ausgeprägte soziale Dimension haben, d. h. die Gemeinschaft spielt eine wichtige Rolle. Es ist nicht möglich, dass sich jeder seine eigene Religion zusammenbastelt, da das sozial nicht lebbar wäre. Die Existenz von verschiedenen Religionsgemeinschaften, deren Lehren und Institutionen nicht völlig beliebig sein können, hat ihren Sinn. Sie haben ihre Grenzen, diese sind aber nicht statisch, sondern können sich ändern, wenn auch nicht beliebig. Sie besitzen die Wahrheit, aber eben nicht die einzige.

Das Interview führte Ali Mete.

Leserkommentare

Johannes Disch sagt:
@grege / @Ute Fabel Kaum geht es ans Eingemachte; kaum geht es in medias res; sind unsere beiden hauptsächlichen "Kritiker" verstummt.....
05.07.17
3:11
grege sagt:
@ Herr Disch, herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, die Sie Frau Fabel und mir widmen. Allerdings tischen Sie wieder und wieder alte Kamellen auf, auf die ich wieder und wieder mit denselben Gegenargumente eingehen muss. Unabhängig von ihren Forschungsschwerpunkten beziehen sich die von mir genannten Wisschenschaftler und Journalisten sehrwohl auf die gegenwärtigen Probleme des islamischen Extremismus, den Sie turnursmäßig mit Terrorismus gleichsetzen, was eine differenzierte Betrachtung zu dieser Thematik erschwert. Wie zu jedem anderen Thema in einem Fachgebiet setzt sich eine persönliche Meinung aus verschiedenen Komponenten zusammen, wie Studien, Hintergrundberichte, persönlichen Begegnungen sowie Selbstdarstellungen verschiedener Organisationen. Da keiner hier mit der gesamten Menschheit kommunizieren kann, ist jede Meinungsbildung über eine Personengruppe selbstverständlich auch einem subjektiven Einfluss unterworfen. Wenn man Ihre Stigmatisierungen der biodeutschen Bevölkerung auf andere Personengruppen überträgt, würden Sie nach Ihrer eigenen Definition puren Rassismus betreiben , und genau hier liegt Ihr Problem: Für den Nachweis des islamischen Extremimus stellen Sie Anforderungen, die Sie bei einem Wechsel zum Thema Islamfeindichkeit und Fremdenfeindlichkeit plötzlich herunterschrauben. Aufeinmal konvertieren Einzelfälle und Bauchgefühl zu einer belastbaren Argumentationsgrundlage. Ihre Argumentationen basieren des Weiteren schwerpunktmäßig auf theoretischen Betrachtungen und nostalgischen Ausflügen in die Vergangenheit, die beide ziemlich weit an der Lebenspraxis vorbeizielen, wie das Beispiel mit der Verehrung von Mohammed in einem anderen Thread zeigt. Auf ausschließlicher Basis marxistischer Lehren würden man auch zu der logischen, aber irrwitzigen Erkenntis kommen, dass der Kommunismus sozialer sei als die Marktwirtschaft sei. Kritik gegenüber dem Christentum (schlagen Sie bitte mal Charie Hebdo, die TAZ oder anderen Zeitungen auf) gerade im linksintelektuellen Milieu ist heute Gang und Gebe. Dieselbe Art von Kritik am Islam wird plötzlich in eine fremdenfeindliche und rassistische Ecke gerückt. Genau hier liegt die Strategie der Islamverbände, jede Art von Kritik durch Gleichsetzung mit Isalmfeindlichkeit kritische Diskussionen zu vermeiden. Dass Religionen heute Gegenstand von Kritik sind, ist eine pure Selbstverständlichkeit, an die sich auch die Islamverbände gewöhnen müssen, aber bislang schwertun. Ebenso realitätsfremd ist ihr ständiger Verweis auf empirische Zahlen, dass Muslime nichts mit Terror zu tun haben. Erstens ist hier nicht von Terrorismus die Rede, sondern von Extremismus (schon 1000 mal erzählt), des weiteren hat diese Äußerung keine Aussagekraft. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung zwischen 1933 und 1945 hatte mit der Judenermordung in rechtlicher Hinsicht auch nichts zu tun. Wer den Rechtspopulismus und radikalimus in den ostdeutschen Bundesländern thematisiert, würde sich auch kulturalisierend verhalten. Das ist genau ein Trugschluss, das Aufzeigen des Extremismusproblems in der Mitte der islamischen Community ist kein feindseeliger Akt sondern das schlichte Ergebnisse einer persönlichen, faktengestützten Einsicht. Leider sind einige Teilnehmer nicht willens, zwischen Kritik und Feindseeligkeit hier zu unterscheiden, weswegen wir hier viele Endlosrunden drehen.
05.07.17
23:49
Johannes Disch sagt:
@grege Meine theoretischen Betrachtungen sind kein Selbstzweck. Sie haben einen Praxisbezug. Es braucht aber diesen theoretischen Background, um die Dinge zu verstehen. Nehmen wir beispielsweise einen Tilmann Nagel. Der Mann ist nicht hilfreich. Der Mann ist Orientalist. Es ist ein philologisch orientierter Islamwissenschaftler. Ein Islamwissenschaftler alter Schule, im wahrsten Sinne des wahrsten Sinne des Wortes. Tilmann Nagel kann das Problem des islamistischen Terrorismus nicht einmal ansatzweise erklären. Dazu braucht es eine sozialwissenschaftlich orientierte Herangehensweise. Diese liefert zum Beispiel ein Bassam Tibi. Noch einmal mein Hinweis auf den erhellenden Artikel von Tibi: "Warum wir eine "Islamologie" brauchen." ("The European", 26.02.20117). Ich hab den Hinweis schon bei anderen Artikeln gepostet, und tue es nun auch hier, in der Hoffnung, dass sie ihn lesen. Mit pauschaler "Korankritik" und "Islamkritik" kommt man dem Thema nicht bei.
07.07.17
7:46
grege sagt:
Korankritische Diskussionen finden hier so gut wie gar nicht statt. Auseinandersetzungen über Koran- oder Bibelverse sind für mich müßig, da sie in verschiedene Richtungen relativiert werden können, so dass sich sowohl extremistisch als auch human gesinnte Anhänger einer Religionen in ihrer Denkweise bestätigt sehen. Daher interessiert mich schwerpunktmäßig Literatur, die einen Bezug zur realen Lebenspraxis herstellt. Tilman Nagel beschäftigt sich nicht mit dem Terrorismus, sondern viel weitläufiger mit dem Exremimus in der Mitte der muslimischen Community. Auch wenn sein Buch "Angst vor Allah" an einen einigen Texstellen mit schwerer Kost aufwartet, beleuchtet er anschaulich und detailiert typische Denkweisen und Aussagen konservativer und extremistischer Muslime. Taseer gibt als Journalist in Aufschlussreichen Gespräche Einblicke in das exremistische Gedankengut sowie die pedantische Frömmigkeit dieser Klientel. Hier wird direkt die Praxis beleuchtet, die in der islamischen Community global durch Terrorismus und Extremismus geprägt ist. Dieser Tatbestand ist mindestens genauso evident, wie Ausländerfeindlichkeit in den Neuen Bundesländern. Diese kann ich ebenso leicht ohne theoretische Detailbetrachtungen über Politik und Geschichte der Neuen Bundesländer identifizieren. Grundsätzlich ist theoretisches Hintergrundwissen nie verkehrt, sollte allerdings mit Erkenntnissen und Eindrücken aus der Praxis richtig dosiert werden. Um Verzerrungen in den eigenen Aussagen zu vermeiden, ist insbesondere die eigene Massstabstreue zwingend notwendig, d.h. radikale Erscheinungen in unterschiedlichen Personengruppen anhand derselben Grundsätze bewerten. Anhand der Vielzahl von Einzelfällen Islamextremismus zu negieren, aber Fremdenfeindlichkeit bei vergleichbarer Erkenntnislage zu generalisieren, führt in die Irre.
08.07.17
20:47
Johannes Disch sagt:
@grege (Ihr P vom 05.07u.17, 23:49) -- "Ihr Argumentationen basieren auf theoretischen Betrachtungen und nostalgischen Ausflügen." (grege) Davon abgesehen, dass es leicht wäre, ihre Aussage zu widerlegen: Ausgerechnet mich unter Theorieverdacht zu unterstellen ist amüsant. "grege", ich bin mit diesen Dingen Tag für Tag in der Praxis konfrontiert, und das nun bereits seit fast 2 Jahrzehnten. Ich habe schon "Multikulti" gelebt als es diesen Begriff noch gar nicht gab. Ich habe schon Integrationsarbeit gemacht, da gab es diesen Begriff ebenfalls noch nicht. Was ich allerdings in aller Bescheidenheit für mich in Anspruch nehme: Ich habe über das Thema inzwischen einen theoretischen Background, der wohl weit über die Kenntnisse des Durchschnittsdeutschen hinausgeht. Und sie gehen auch weit über die Kenntnisse hinaus, die Sozialpädagogen in der Integrationsarbeit normalerweise haben. Meine theoretischen Kenntnisse über den Islam war einer der Gründe, weshalb ich meinen jetzigen Job bekommen habe. Also, ich nehme für mich in aller Bescheidenheit in Anspruch, dass ich hier wohl derjenige bin, der sich in dem Thema nicht nur theoretisch recht gut auskennt, sondern der auch den meisten Praxisbezug haben dürfte. Haben Sie inzwischen den Artikel von Bassam Tibi gelesen, auf den ich wiederholt hingewiesen habe?? ("Warum wir eine "Islamologie" brauchen") ("The European", 26.02.2017). Es ist grundlegend, die unterschiedlichen Ansätze zu kennen zwischen einer sozialwissenschaftlich orientierten Islamwissenschaft (Tibi) und einer philologisch orientierten (Nagel).
09.07.17
13:09
Johannes Disch sagt:
@grege (Ihr P vom 05.07.17, 23:49) Ich verwechsle keineswegs Extremismus mit Terrorismus. Aber Sie stellen die gefährliche Behauptung auf eines "Extremismus der Mitte" in der islamischen Community. Und das, weil der gute Constantin Schreiber 18 Freitagspredigten besucht hat. 18 von ca. 2000, die jeden Freitag in Deutschland stattfinden. Wie ich in meinem letzten P schon sagte, bin ich nun seit ca. fast 20 Jahren theoretisch und praktisch mit dem Thema befasst. Was Schreiber erzählt, das sind olle Kamellen. Solche Dinge gab schon vor 20 Jahren. Wir hatten hier vor ca. 17 Jahren einen Fall, der Wellen geschlagen hat. In einer kleinen Moschee lag auf arabisch "Mein Kampf" aus. Dazu die Schriften des Godfather des zeitgenössischen Islamismus, Sayyid Qutb. Sagt Ihnen der Name was? An dem Mann kommt man nicht vorbei, will man den zeitgenössischen Islamismus/Terrorismus verstehen. Seine Schrift "Wegzeichen" hat für Islamisten den selben Stellenwert wie für Kommunisten "Das Kommunistische Manifest." Nun, der Fall schlug damals hohe Wellen. Im Netz gibt es darüber sicher noch Infos. Dann wissen Sie auch, um welche Stadt es sich handelt. Ein Bürger islamischen Glaubens hat uns damals darüber informiert. Weht deshalb nun heute der islamische Halbmond über der Stadt?? Nein. Keine Bange, mir sind die wichtigsten Unterschiede geläufig zwischen Salafismus, Islamismus, Extremismus, Djihadismus, etc. Und auch die Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten. Um nur die wichtigsten Differenzierungen zu nennen. Was ihren Vergleich zum "Dritten Reich" betrifft: Der ist nur bedingt tauglich. Hitler hatte eine recht hohe Zustimmung in der deutschen Bevölkerung, jedenfalls so lange seine Politik erfolgreich war, also bis etwa 1938. Und selbst während des 2. WK waren viele Deutsche erst beunruhigt als die Erfolge ausblieben. Und auch was das Schicksal der Juden betraf konnte man wissen, wenn man wissen wollte. Zurück zum Thema Islam: Ausgerechnet mir Theorielastigkeit zu attestieren ist wirklich amüsant. Ich bin seit Jahren im regelmäßigen Austausch mit Imamen, mit Moscheevorständen, mit Funktionären islamischer Verbände und Organisationen, mit islamischen Kulturzentren, mit Vereinen, mit islamischen Lehrern und Wissenschaftlern. Wir haben hier die vielleicht größte islamische Bibliothek Deutschlands. Die haben Muslime aus aller Welt und unterschiedlicher Konfessionen in interkultureller Zusammenarbeit aufgebaut. Sie steht im "KUDEM" (= "Kulturhaus der europäischen Muslime"). Und ich hab natürlich den meisten Kontakt zum ganz normalen Muslimin von nebenan, der ganz alltägliche Probleme hat: Schwierigkeiten mit Behörden, Probleme, einen Job / eine Lehrstelle zu finden oder eine Wohnung. Und der ganz normale Muslimin von nebenan erlebt gelegentlich auch durchaus die ganz alltägliche Diskriminierung wegen Kopftuch und ähnlichem. Und kaum einer der Muslim-Boys und Muslim-Girls träumt vom Djihad. Die haben-- wie geschildert-- ganz alltägliche Probleme. Sie sehen, ich bin ziemlich nah am Puls. Ja, es gibt Probleme, was wohl kein vernünftiger Mensch bestreitet. Aber von einem "Extremismus der Mitte" in der islamischen Community zu sprechen ist völlig überzogene Panikmache.
09.07.17
21:31
Johannes Disch sagt:
@grege Especially for you: - Die westliche Nahostpolitik (Teil 1) Klären wir zunächst den Begriff. Was ist der Westen? Er hat zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliches bedeutet. Auch Begriffe haben ihre Geschichte und unterliegen dem Wandel. In Zeiten des Kalten Krieges wurde der Westen zur Kurzformel für das atlantische Bündnis: Die Allianz der beiden großen Demokratien Nordamerikas, USA und Kanada, mit den Staaten der EU, mit den Staaten Westeuropas. Dazu kam noch die Türkei, die schon immer einen Sonderfall bildete. Zum Westen zählen wir heute die USA, die Staaten der EU (wobei die neuen EU Mitglieder Osteuropas ein Sonderfall sind. Sie zum Westen zu zählen wäre zu Zeiten des Kalten Krieges niemandem in den Sinn gekommen). Aber schweifen wir nicht ab in Details. Zum Westen zählen heute unstrittig die USA, die Staaten Westeuropas, die englischsprachigen Demokratien Australien, Neuseeland und Kanada und Israel. Israel?? Jawohl. Weil der Westen nicht nur ein geografischer Begriff ist, sondern vor allem ein politischer. Der Westen ist -- jetzt kommt es endlich!-- eine "Wertegemeinschaft." So ist jedenfalls sein Selbstverständnis. Und das ist auch richtig. Der Westen bestimmt sich inhaltlich durch die Werte Demokratie, universell gültige individuelle Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Das ist das Projekt des Westens. Das ist sein großes historisches Verdienst und sein Geschenk an die Menschheit. Dieser Prozess dauerte allerdings 200 Jahre, bis er verwirklicht war, und es gab viele Höhen und Tiefen. Nun macht dieser Westen allerdings nicht nur auf Werte, sondern er macht auch ganz praktische Politik. "Realpolitik" wird das gerne genannt. Und er macht sie auch im Nahen Osten, und das nun schon seit gut 100 Jahren ("Syces/Picot-Abkommen" 1916). In diesem Abkommen liegt der Keim für die heutigen Probleme. Und diese nahöstliche "Realpolitik" deckt sich leider sehr oft nicht mit seinen hohen Idealen, sondern hat im Gegenteil oft verheerende Auswirkungen. Aber das ist dann Thema des nächsten Post.... To be continued.....
10.07.17
20:36
grege sagt:
"Aber Sie stellen die gefährliche Behauptung auf eines "Extremismus der Mitte" in der islamischen Community." Jetzt frisst die Revolution ihre Kinder. Diese Begrifflichkeit habe ich genau von Ihnen übernommen, darauf dürfen Sie sogar stolz sein :-) Angesichts von zunehmender Islamfeindlichkeit und wachsendem Rechtspopulismus, mit der die Mehrheit in diesem Land nichts zu tun hat, haben Sie sich in einem früheren Thread zu der sinngemäßen Behauptung verstiegen, rechstextremistisches Gedankengut habe die Mitte der Gesellschaft erreicht. Wer diesen Maßstab konsequent ohne Rücksicht auf Herkunft von Opfer und Täter auf den islamischen Extremismus und Terrorismus anwendet, müsste der muslimischen Community ebenso eine derartige Diagnose stellen. Studien zu antisemtischen Auswüchsen, Verachtung von Andersgläubigen, Verbreitung von Verschwörungstheorien oder sonstige Hetzreden in Moscheen belegen diese Verbreitung auch in der Mitte der Muslime. Wie ich schon sagte, diese Einordnung unterliegt zu einem gewissen Grad einem individuellen Maßstab, und den wechseln Sie leider häufig wie andere hoffentlich Ihre Unterwäsche. Ähnlich wie im Dritten Reich gibt es unter den Muslimen leider nur eine schwache Minderheit, die nach außen hin sichtbaren Widerstand gegen den islamischen Extremimus leistet. Die schwachen Teilnehmerzahlen an entsprechenden Kundgebungen sowie ausbleibende Abgrenzung von extremistischen Organisationen und kaum vorhandene Zivilcourage bestimmen dieses Bild. Über die tatsächliche Zustimmung von Hitler bei der deutschen Bevölkerung können Sie auch nur Mutmaßungen anstellen, da keine emprische Daten für die Zeitraum nach der Machtübernahme vorliegen. Jedenfalls konnte die NSDAP bei Wahlen nie die absolute Mehrheit erreichen. Die Mittwisserschaft an der Judenermordung sowie der ausbleibende Widerstand unter der deutschen Bevölkerung sind eine schwere moralische Schuld, die allerdings rechtlich kaum belangt werden kann, ebenso wie die passive Haltung unter einem Großteil der Muslime. Dass ein Großteil der Moscheegemeinden die Bemühungen um Integration eher konterkarieren, ist nicht erst seit den Veröffentlichungen von Herrn Schreiber bekannt. In den Moscheegemeinden hier im Ruhrgebiet sind ähnliche Tendenzen aufgetreten, ja sogar vielfach Moscheegemeinden mit einer halbwegs positiven Außenwahrnehmung waren plötzlich Plattform von Hasspredigten. Wenn in vergleichbarer Anzahl von krichlicher Internate Missbrauchsverfälle stattfinden, oder rechtsradikale Umtriebe in Kasernen, gilt ja auch der Einzelfallcharakter als Entschuldigung. WArum sollen Muslime hier eine Extrawurst genießen und mit Watte gepudert werden?
10.07.17
22:05
grege sagt:
Nachtrag: Imane aus dem Ausland bereisen gerade auf einer Bustour Tatorte von islamistischen Anschlägen. Diese Aktion finde ich großartig, aber kaum einer, weder von der deutschen Regierung noch von den Muslimen, hat diesen Menschen sein Aufwartung gemacht. Schlimmer finde ich die Aussage von einigen der teilnehmenden Imane, die behauptet haben, dass ihre Kinder jetzt von netten "Glaubensgeschwistern" als Verräter in der Nachbarschaft und in der Schule angefeindet werden. Auch diese Aussage bestätigt als weiteres Mosaiksteinchen die These, der islamische Extremismus grassiert in der Mitte der muslimischen Community
10.07.17
22:10
Johannes Disch sagt:
@grege Ihre letzten beiden Post haben nichts mit unserem aktuellem Thema zu tun, das da heißt: Westliche Nahostpolitik. (siehe mein P vom 10.07.17, 20:36) Ich werde es demnächst fortsetzen. Freuen Sie sich darauf....
12.07.17
3:37
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