Das Landesarbeitsgericht Berlin hatte im Februar über die Klage einer kopftuchtragenden Lehrerin entschieden, der die Beschäftigung an Berliner Grundschulen aufgrund ihres Kopftuchs verboten wurde. Der Klägerin wurde Entschädigung zugesprochen. Nun liegen die Entscheidungsgründe vor.
Das Kopftuch im Arbeitsleben ist ein Thema, das andauernd an der Tagesordnung steht. Ob im Schulbereich, in der Justiz oder den privaten Unternehmen – das Recht auf freie Religionsausübung scheint es in diesem Kontext nicht ohne vorherige rechtliche Wehr der Betroffenen zu geben. Ähnlich verhielt es sich auch im Falle der 1978 geborenen Berlinerin, die im Jahre 2008 das Zweite Staatsexamen für das Lehramt mit den Fächern Politische Bildung, Deutsch und Sachunterricht erwarb, jedoch aufgrund ihres Kopftuches jahrelang nur als Lehrerin für islamischen Religionsunterricht eingesetzt werden konnte.
Das vielbeachtete Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 27. Januar 2015 veranlasste die Lehrerin, sich noch im gleichen Jahr für die Einstellung in der Sekundarstufe I oder der Primarstufe zu bewerben. In dem besagten Urteil hatten die höchsten Richter entschieden, dass sich ein pauschales Kopftuchverbot nicht mit der Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG vereinbaren ließe. Die Fortgeltung der durch das Berliner Neutralitätsgesetz aus dem Jahre 2005 geschaffenen Rechtslage, wodurch „auffallende religiös oder weltanschaulich geprägte Kleidungsstücke“ eben pauschal verboten wurde, schien durch das Urteil asgeschlossen zu sein. Das sah das Land Berlin anders.
Ende April 2015 wurde die Klägerin im Anschluss an ihre Bewerbung zu einem „Casting“ eingeladen, einem sogenannten vorgezogenen Auswahlgespräch. In ihrer Einladung wurde der Einstellungsbedarf an Berliner Grundschulen besonders betont. Am Gespräch nahmen neben den übrigen Bewerber/innen auch Schulleiter/innen und Personalratsvertreter/innen aus etwa 40 Schulen teil. Die Betroffene erhielt fünf Minuten Gelegenheit, sich und ihren Lebenslauf vorzustellen. Sie wurde dann von der Senatsverwaltung gefragt, ob sie das Kopftuch auch im Unterricht zu tragen gedenke, und auf § 2 des Berliner Neutralitätsgesetzes (NeutrG) hingewiesen. Obgleich die Betroffene den Versuch unternahm, auf die Rechtsprechung des BVerfG einzugehen, wurde ihr jegliche Diskussion hierüber verwehrt.
In der Folgezeit wurde der Klägerin gegenüber ihre Ablehnung damit begründet, dass schlicht „keine positive Auswahlentscheidung“ für sie getroffen worden sei. Zu einem zweiten Bewerbungsgespräch im Mai für die Einstellung an Berufsschulen ging die Klägerin dann trotz einer Einladung nicht mehr hin.
Am 9. Februar 2005 trat in Berlin das sogenannte Neutralitätsgesetz in Kraft. Nach § 2 dürfen Lehrkräfte und andere Beschäftigte mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole tragen, insbesondere keine solchen Kleidungsstücke. § 3 regelt eine Ausnahme für berufliche Schulen und sogenannte Einrichtungen des Zweiten Bildungsweges; hier ist das Tragen des Kopftuchs erlaubt.
Spätestens seit der Entscheidung des BVerfG vom 27. Januar 2015 steht fest, dass diese Regelung in Anbetracht der freiheitlichen Ausrichtung unserer Verfassung keinen Bestand haben kann. Die anlasslose, pauschale Verbannung jeglicher religiöser Symbolik aus den öffentlichen Schulen greift schwerwiegend in die Religionsfreiheit ein. Ein solches pauschales Verbot halten die Karlsruher Richter für verfassungswidrig. Ein Verbot kann nunmehr allenfalls bei konkreter Gefährdung des Schulfriedens in Betracht kommen.
Von den höchstrichterlichen Vorgaben unbeirrt hielt Berlin auch nach diesem Urteil am umstrittenen NeutrG fest, obwohl Vorgaben des BVerfG selbstverständlich bundesweite Geltung beanspruchen. Das hier besprochene Urteil des Landesarbeitsgerichts hat in dieser Hinsicht eine deutlich klarstellende Funktion. Dennoch haben die Richter die wohl für lange Jahre einmalige Chance vertan, das NeutrG durch das BVerfG auf seine Verfassungskonfirmität hin überprüfen zu lassen und endgültige Klarheit zu schaffen. Darin liegt die Schwäche dieser Entscheidung.
Das Land verteidigte sein Vorgehen mit der Ansicht, die Berliner Regelung sei differenzierter als die ehemalige Regelung zum Kopftuchverbot in Nordrhein-Westfalen. Diese war nämlich Anlass für das Urteil des BVerfG vom 27. Januar 2015. Inbesondere gelte in Berlin kein flächendeckendes Verbot, berufliche Schulen stünden nach wie vor auch kopftuchtragenden Lehrerinnen offen.
Mit dieser Rechtsauffassung stand das Land zunächst nicht ganz allein. In der ersten Instanz wurde die Klage der betroffenen Lehrerin abgewiesen. Das Arbeitsgericht sah in der Ablehnung der Klägerin zwar eine unmittelbare Benachteiligung nach § 3 Abs. 1 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit. Diese Benachteiligung sei aber nach § 8 AGG gerechtfertigt. Die Unterlassung des Tragens eines Kopftuchs stelle „eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ dar.
Daran habe auch die BVerfG-Entscheidung vom 27. Januar 2015 nichts geändert. Die einzelnen Landesgesetzgeber könnten im Rahmen ihres Gestaltungsspielraums (sog. Einschätzungsprägorative) zu unterschiedlichen Bewertungen kommen. So unterscheide sich das Berliner NeutrG von der Rechtslage in Nordrhein-Westfalen deutlich. Die „großstädtisch-heterogene Bevölkerungsstruktur und die konfessionelle Vielgestaltigkeit“ in Berlin biete ein „größeres Konfliktpotenzial“, weshalb hier eine restriktivere Regelung erforderlich sei.
Dieses Urteil hielt einer rechtlichen Überprüfung in der Berufungsinstanz vor dem Landesarbeitsgericht nicht stand (Urteil vom 09.02.2017, Aktenzeichen 14 Sa 1038/16). Insbesondere die Behauptung, das Unterlassen des Tragens eines Kopftuchs stelle eine Berufsanforderung dar, weisen die Richter deutlich ab:
„Das Unterlassen des Tragens eines islamischen Kopftuches ist keine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung für die Tätigkeit einer Lehrerin an einer allgemeinbildenden Schule (…) in Berlin, denn die ordnungsgemäße Durchführung diser Tätigkeit hängt nicht davon ab, ob die Lehrerin ein islamisches Kopftuch trägt oder nicht, sondern davon, ob die Lehrerin die Zweite Staatsprüfung für das Lehramt (…) bestanden hat. Mit diesem Abschluss ist eine Lehrerin, die ein islamisches Kopftuch trägt, ohne weiteres dazu in der Lage, Kinder zu unterrichten.“
Vor diesem Hintergrund halten die Richter fest, dass das pauschale Kopftuchverbot in § 2 S. 1 NeutrG die Klägerin in ihrem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verletzt. Dem stehe auch nicht der Dienst entgegen, denn durch die „Eingliederung in den staatlichen Aufgabenbereich der Schule“ werde die Grundrechtsberechtigung nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Der Eingriff in ihre Grundrechte könne auch nicht durch andere gegenläufige Verfassungsgüter wie die negative Religionsfreiheit der Schüler, das Erziehungsrecht der Eltern oder der staatlichen Neutralitätsverpflichtung gerechtfertigt werden – diesen Positionen komme nicht „ein solches Gewicht zu, als dass bereits die abstrakte Gefahr ihrer Beeinträchtigung ein Verbot zu rechtfertigen vermöchte.“
Wichtig sind in diesem Zusammehang die weiteren Ausführungen des Gerichtes hinsichtlich der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates. Die Befürworter eines Kopftuchverbotes – gleichgültig ob im Schulwesen oder etwa der Justiz – knüpfen in der Regel an diesem Punkt an und bewerten das Kopftuch als ein die staatliche Neutralität verletzendes Symbol. Das lehnen die Richter entschieden ab:
„Im Hinblick auf die Wirkung religiöser Ausdrucksmittel ist allerdings danach zu unterscheiden, ob das in Frage stehende Zeichen auf Veranlassung der Schulbehörde oder aufgrund einer eigenen Entscheidung von einzelnen Pädagoginnen und Pädagogen verwendet wird, die hierfür das individuelle Freiheitsrecht des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Anspruch nehmen können. Der Staat, der eine mit dem Tragen eines Kopftuchs verbundene religiöse Aussage einer einzelnen Lehrerin (…) hinnimmt, macht diese Aussage nicht schon dadurch zu seiner eigenen und muss sie sich auch nicht als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen.“
Das verfassungsrechtlich verankerte Neutralitätsgebot könne im deutschen Kontext nicht als eine strikte Trennung von Staat und Kirche verstanden werden, sondern sei durch eine „offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung“ gekennzeichnet.
Nicht ganz einleuchtend ist an dieser Stelle die Bewertung des Gerichts, dass das NeutrG nicht dem BVerfG vorgelegt zu werden brauche, um es durch Karlsruhe auf seine Verfassungskonformität hin überprüfen und ggf. als verfassungswidrig verwerfen zu lassen. Vielmehr sind die Richter der Ansicht, dass die Regelung des § 2 S. 1 NeutrG verfassungskonform ausgelegt und auf diese Weise weiterhin bestehen bleiben könne. Eine verfassungskonforme Auslegung kann jedoch nur soweit durchgeführt werden, wie der Wortlaut einer Norm dies erlaubt. Die Auslegung darf nicht in Widerspruch zum Wortlaut stehen. § 2 S. 1 NeutrG verbietet dem Wortlaut nach jegliche religiös konnotierte Kleidungsstücke, ohne das Verbot von weiteren Voraussetzungen wie dem Eintritt einer konkreten Gefährdung des Schulfriedens abhängig zu machen, und ist damit verfassungswidrig.
Den Richtern gelingt die „Rettung“ dieses Gesetzes durch eine Umkehr des Regel-Ausnahme-Verhältnisses. § 3 S. 2 NeutrG räumt der obersten Dienstbehörde die Befugnis ein, unter bestimmten Umständen für weitere Schularten Ausnahmen zuzulassen. Das Gericht legt beide Normen in einer Art Zusammenschau aus und leitet daraus die Regel ab, dass das Tragen religiös geprägter Kleidungsstücke dann untersagt werden kann, „wenn dadurch die weltanschaulich-religiöse Neutralität einer öffentlichen Schule oder sämtlicher öffentlicher Schulen in einem bestimmten Bezirk (…) gefährdet oder gestört wird.“
Dass der unveränderte Wortlaut des § 2 S. 1 NeutrG nach wie vor im Gesetzestext steht und die vorstehende Auslegung den Rahmen des Wortlauts übersteigt, wird nicht weiter beachtet. Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Parlamentsdienstes, auf das auch das Urteil des Landesarbeitsgerichts Bezug nimmt, war vorher zum Ergebnis gekommen, dass diese Regelung nicht verfassungskonform ausgelegt werden könne.
Schließlich öffnet das Urteil Tür und Tor für eine Sonderbehandlung von Berliner Bezirken, in denen ein hoher Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund leben. In bestimmten Schulen oder Schulbezirken – es werden ausdrücklich die Bezirke Kreuzberg, Neukölln und Wedding benannt – könnten „Konfliktlagen über das richtige religiöse Verhalten“ zu einer Störung des Schulfriedens führen. Eine solche Situation rechtfertige auch eine „allgemeine Unterbindung“ religiöser Bekleidung. Inwiefern das Kopftuch der Lehrkräfte eine bezirksweite Unruhesituation begründen, fördern oder beeinflussen kann, wird nicht näher erläutert. Auch ist unklar, welche Konfliktschwelle für eine derart massive Beschneidung der Grundrechte von kopftuchtragenden Lehrerinnen angesetzt werden soll. Das Gericht hat versucht, den Begriff der „konkreten Gefahr“ (BVerfG) zu unterfüttern, dabei jedoch ganz neue Probleme aufgeworfen, deren Bewältigung hoffentlich nicht wieder erst vor Gericht landen muss.