Die Historikerin Carola Dietze hat das Thema Terrorismus jenseits von Schlagzeilen beleuchtet: In ihrem Buch beschreibt sie „Die Erfindung des Terrorismus“ im 19. Jahrhundert. Was sich aus der Geschichte lernen lässt, erklärt sie im Interview der KNA.
KNA: Frau Dietze, hat uns der Terrorismus der vergangenen Jahre verändert?
Dietze: Terroristische Attentate waren in der Nachkriegsgeschichte lange nichts Außergewöhnliches: durch die ETA, die RAF, die IRA. Das ließ in den 1990er Jahren nach, und an diesen Zustand hatten wir uns gewöhnt. In den vergangenen Jahren verstärkte sich der Druck wieder. Früher heizten allerdings eher innereuropäische Konflikte den Terrorismus an; inzwischen geht es um globale Probleme. Das verstärkt vielleicht das Gefühl von Hilflosigkeit.
KNA: Neben dieser Globalisierung beschreiben Sie eine „Demokratisierung“ von Terroristen. Was bedeutet das?
Dietze: Dieser Begriff zielt auf die historische Entwicklung vom politischen Attentat zum Terrorismus. Frühere Attentate wurden meist von politischen Eliten in Auftrag gegeben oder direkt verübt. Diese Morde richteten sich gegen politische Führungsfiguren; die Täter waren ihnen in der Regel sehr nah und gut informiert. Der spätere Terrorismus wird dagegen von Gruppierungen verübt, die den Opfern viel ferner standen. Heutige Attentäter stammen im Gegensatz etwa zur RAF auch nicht mehr aus Eliten, sondern eher aus marginalisierten Gruppen.
KNA: Und im Hinblick auf die Opfer?
Dietze: Da gab es eine ähnliche Entwicklung. Als der Terrorismus entstand, waren die Opfer in aller Regel herausragende Personen des politischen und öffentlichen Lebens: Zaren, Präsidenten, Könige. Menschen in vergleichbaren Positionen haben heutzutage einen Personenschutz, der es schier unmöglich macht, sie anzugreifen. Zugleich hat sich die terroristische Ideologie verändert. Al-Qaida hat erklärt, dass die amerikanische Bevölkerung durch Wahlen mitverantwortlich für die Politik des Präsidenten ist – und daher ein legitimes Angriffsziel. Hinzu kommt: Es hat schockierende Wirkung, die Zivilbevölkerung anzugreifen. Und Terrorismus muss schockieren, um erfolgreich zu sein.
KNA: Ist es insofern der richtige Vorsatz, sich vom Terror nicht mehr beeindrucken zu lassen?
Dietze: Wenn auf Terror weniger reagiert wird, wird er als Taktik politischen Handelns unattraktiver. Denn Terrorismus ist eine spezielle Form der Provokation, und eine Provokation, die niemanden aufregt und auf die niemand reagiert, ist keine. Zugleich liegt in der Handlungslogik der Provokation die Gefahr, dass potenzielle Attentäter einander immer wieder überbieten. Wenn – wie zuletzt in Manchester – Kinder angegriffen werden, ist das eine Grenzüberschreitung, um aufs Neue zu schockieren. Wir müssen also mit immer drastischeren Taten rechnen. Dem Terror möglichst wenig Raum zu geben, ist eine schlüssige Antwort. Gleichwohl darf man Angst, Betroffenheit und Trauer um die Opfer nicht verdrängen.
KNA: In Ihrem Buch heißt es, die Taktik des Terrors sei dort entstanden, wo auch Kommunikationstechnologie und Medienlandschaft hoch entwickelt waren. Heute scheinen westliche Gesellschaften den Terror-Propagandisten hinterherzuhinken. Hat sich dort etwas verschoben?
Dietze: Die Verhältnisse haben sich geradezu umgedreht – durch die veränderten technologischen Mittel. In der Entstehungszeit des Terrorismus war es wesentlich, dass Reporter und Zeichner schnell zum Ort des Attentats kamen und von dort berichtet haben – später die Kamerateams der Fernsehsender. Über das Internet haben Terroristen heute die Möglichkeit, ihre eigenen Botschaften zu erstellen und weltweit zu verbreiten. So können sie aus der Peripherie heraus problemlos und kostengünstig auch Menschen in den Zentren erreichen.
KNA: Zugleich wird nach fast jedem Anschlag über die Berichterstattung der Massenmedien diskutiert. Was könnten sie anders machen?
Dietze: Die Medien sollten sich nicht zu sehr auf das Spektakuläre einlassen, sondern soweit wie möglich politische Aufklärung betreiben. Nicht zu berichten ist keine Option, schon weil die Zivilbevölkerung als potenzielles Anschlagsziel genaue Informationen braucht, um sich in Anschlagssituationen möglichst effektiv zu schützen. Doch sollten die Medien dazu beitragen, das eigentliche Problem zu lösen und sich nicht auf das einlassen, was die Terroristen wollen.
KNA: Ein häufiger Kritikpunkt ist allerdings genau das: die Konzentration auf den Täter.
Dietze: Historisch ist immer wieder nachgewiesen, dass Terroristen sich von früheren Attentätern ganz konkret inspirieren lassen. Auch möchten viele von ihnen gewissermaßen in die Geschichte eingehen. Dafür brauchen sie Medien, die Verbreitung ihres Namens und ihres Bildes. Insofern könnte Zurückhaltung in dieser Hinsicht den Terrorismus durchaus weniger attraktiv machen.
KNA: Welche Rolle spielt die Religion?
Dietze: Terrorismus folgt in erster Linie politischen Motiven. Historische Fälle zeigen, dass manche Attentäter fest in bestimmten Glaubenskontexten standen und Politik aus dieser Perspektive interpretierten. Insofern war Terrorismus schon früh mitmotiviert durch Religion; das gilt für alle große Weltreligionen, nicht allein für den Islam. Bei heutigen Terroristen spielen wiederum politische Forderungen eine große Rolle; Religion wird oftmals bewusst instrumentalisiert. Gegensätze wie jener zwischen der säkularen Moderne und dem unzivilisierten Islamismus halte ich für problematisch. Das geht am Kern des Problems – politisch motivierter Gewalt – vorbei.
KNA: Was kann die Geschichte des Terrors sonst lehren?
Dietze: Terrorismus lässt sich nie rein polizeilich oder militärisch bekämpfen. Es braucht politische Lösungen – weil Terrorismus aus politischen Problemen erwächst. Insofern kann man Sicherheitsgesetze durchsetzen und versuchen, radikalisierte Einzelpersonen von Attentaten abzuhalten. Dies wird das eigentliche Problem jedoch nicht lösen. Zudem zeigt die Geschichte, dass es in hohem Maß auf die Reaktionen auf terroristische Akte ankommt. Terrorismus ist eine spezifische Form von Provokation, die zu einer Radikalisierung und Spaltung der Gesellschaft führen soll. Die Frage ist, ob die Gesellschaft das zulässt, ob sie sich provozieren und spalten lässt. Da ganz bewusst gegenzusteuern, ist eine Möglichkeit, dem Terrorismus den Wind aus den Segeln zu nehmen. (KNA/iQ)