Wie können Muslime und Nichtmuslime angesichts globaler Bedrohungsszenarien und innergesellschaftlicher Spannungen gemeinsam verantwortungsvoll handeln? Über Probleme und Lösungswege diskutiert Hasan Azad mit dem Anthropologen Prof. Talal Asad.
Hasan Azad: Ausgehend von der beispiellosen Anzahl vom Aussterben bedrohter Tierarten prognostizierten einige Wissenschaftler den Beginn des sechsten großen Massensterbens auf der Erde, verursacht durch menschengemachte Katastrophen. Dringender denn je muss die Idee eines Unterschieds nicht nur zwischen Mensch und Natur, sondern auch zwischen verschiedenen Menschengruppen der Anerkennung einer echten Einheit aller Lebewesen weichen. Wie denken Sie darüber?
Talal Asad: In Bezug auf die großen Errungenschaften der Moderne war immer von der „europäischen Kultur“ die Rede. Man sprach von der europäischen Zivilisation, nach der Niederlage des Faschismus sogar von der „Krise der europäischen Zivilisation“. So wurde zwischen dem fortschrittlichen Teil der Menschheit und anderen Teilen, die dieses Niveau noch nicht erreicht hatten, unterschieden. Das ist natürlich ein alter Hut. Aber die Botschaft war klar: „Wir können diese ganzen fantastischen Dinge erreichen und diese wunderbaren Werte verteidigen – ihr nicht.“ Ich benutze gern einen Satz, den ein Freund früher scherzhaft zu sagen pflegte, wenn er etwas technisch sehr Ausgefeiltem begegnete: „Schau mal, wie schlau der weiße Mann ist!“ Was ich damit sagen will ist, so wurde das im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – sogar kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – ernsthaft gesehen. Das war die allgemeine Haltung. Die Idee einer rassischen Überlegenheit des Europäers war immer auch mit dem Anspruch verknüpft, den „entwickeltesten“ Kulturraum zu bewohnen.
Seit der Häufung weltumspannender Krisen in den letzten Jahrzehnten – dem Klimawandel, einem drohenden Atomkrieg, den Gefahren der Kernenergie, eines unkontrollierbaren globalen Finanzsystems usw. – heißt es plötzlich: „Was hat die Menschheit da angerichtet?“ Auf einmal ist es die „Menschheit“. Dabei hatten Europäer und Amerikaner die „beeindruckenden Errungenschaften des Westens“ ursprünglich für sich beansprucht. Selbst viele Reformer in der Dritten Welt hatten die Vorstellung verinnerlicht, dass naturwissenschaftlicher Erkenntniszuwachs und eine militärische Vormachtstellung Zeichen einer überlegenen Moral seien.
Kurzum: Wenn es um globale Katastrophen geht, ist die gesamte Menschheit verantwortlich – asiatische, afrikanische und lateinamerikanische Bauern selbstverständlich eingeschlossen, ebenso die städtischen Armen!
Azad: Aber eigentlich ist der Westen, sind die Industrienationen verantwortlich.
Asad: Ja. Der Westen weist eine eindeutige Verantwortung für die drohenden Katastrophen zurück. Nicht mehr nur der „Westen“ steht jetzt im Mittelpunkt, sondern die Menschheit als Ganzes. Der Abwurf der Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki durch die USA war eines der schlimmsten Ereignisse aller Zeiten. Er hat zwar weniger Beachtung erfahren als der Völkermord der Nazis an den Juden, stellt aber für die Menschheitsgeschichte eine mindestens ebensolche Zäsur dar. Der Angriff tötete Unmengen von Kindern, Frauen, Männern – selbst Tiere –, die ein normales Leben in einer ganz gewöhnlichen Stadt führten. Alle wurden mit einem Schlag vernichtet. Und diese Waffe war im Vergleich zu dem, was heute verfügbar ist, primitiv. Diese Tat hat nicht die Menschheit zu verantworten, sondern bestimmte, mit technologischen und ideologischen Waffen ausgerüstete Leute.
Die Leistungen des Westens auf naturwissenschaftlichem und technischem Gebiet, seine einzigartigen moralischen Werte – das hört sich alles gut an. Wenn es aber um die furchtbaren Gefahren geht, die sich derzeit abzeichnen, will man plötzlich weniger „Westler“ als vielmehr Teil der „Menschheit“ sein. Noch wichtiger ist vielleicht, dass kaum wahrgenommen wird, dass die moderne, vom kapitalistischen Westen geschaffene Welt selbst voller schrecklicher Möglichkeiten steckt. Und damit meine ich nicht nur den Klimawandel und die Gefahr eines Atomkrieges.
Azad: Im Augenblick stehen der Islam und die Muslime im Westen anscheinend für „Unmenschlichkeit“ schlechthin. In ihrem Aufsatz „Reflections on Violence, Law, and Humanitarianism“ entwerfen Sie eine Genese des Begriffs „Menschheit“. Sie zeigen u. a., wie sich „Menschheit“ während des Zweiten Weltkriegs zu einem universellen Synonym für „Christentum“ entwickelt hat, und wie „die Idee des Unterschieds in das Konzept ‚Menschheit’ eingebaut wird.“ Welche Erwartungen müssen Muslime bzw. der Islam Ihrer Meinung nach erfüllen, um der euro-amerikanischen Auffassung von „Menschlichkeit“ wirklich zu genügen? Ist das möglich oder überhaupt wünschenswert?
Asad: Die Wahrnehmung der europäischen Kultur als der fortschrittlichsten, geistreichsten und produktivsten, die die Welt je gekannt hat, setzt bereits eine gewisse Form der Hierarchie voraus. In der Vergangenheit (und möglicherweise auch heute noch) wurde behauptet, dies sei dem Christentum zuzuschreiben. Das stimmt nicht, hat aber in gewissem Maße unsere Vorstellungswelten geformt und im 19. und 20. Jahrhundert zu der Ansicht geführt, dieser weitsichtigste und moralischste Teil repräsentiere die „Menschheit“. Da ist es doch fast eine perverse Logik, die Katastrophen, die die Welt bedrohen, mit dem Argument, wir seien „alle eins“, auf die ganze Menschheit abwälzen zu wollen.
Für mich ist eine klare konzeptuelle Vorstellung darüber, was „Menschlichkeit“ genau bedeutet, nicht notwendig oder hinreichend, um menschlich zu handeln. Das hängt vielmehr vom Erlernen bestimmter Verhaltensweisen, dem Erwerb von Sensibilitäten in verschiedenen Lebensbereichen ab. Wissenschaftler geben sich oft der Illusion hin, die theoretische Darlegung eines Konzepts sei notwendig für ethisches Verhalten. Das glaube ich nicht. Wir können nicht kontrollieren, wie sich die Dinge entwickeln, weder im Krieg noch in der langfristigen Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens.
Auf die Frage, ob sich Muslime eine bestimmte Auffassung von Menschlichkeit zueigen machen sollten oder nicht, gibt es keine einfache Antwort. Viele Muslime sind im Augenblick in einer sehr schwierigen Situation. Das kann ich von mir nicht behaupten. Es gefällt mir nicht, was ich höre und sehe. Deswegen bin ich aber noch nicht in der gleichen Lage wie ein muslimischer Einwanderer in Europa oder den USA, der über sehr wenige Ressourcen verfügt, Diskriminierung, Feindseligkeit und sogar Gewalt ausgesetzt ist. Wahr ist aber, dass Islamhass gerade im „fortgeschrittenen Teil der Menschheit“ sehr präsent ist, mehr noch als Antisemitismus. Es mag Ecken geben, in denen man Antisemitismus vorfindet, aber im Vergleich zu der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stellt er im Gegensatz zum Islamhass keine wirkliche Gefahr mehr dar. Dagegen ist es durchaus vorstellbar, dass es gegen Muslime im Westen zu systematischer Gewaltanwendung kommen wird. Und zwar nicht nur in der Form, wie syrische Flüchtlinge in Ungarn behandelt werden oder Neo-Nazis in verschiedenen europäischen Ländern auftreten.
Um auf Ihre Frage zurück zu kommen: Muslime in verschiedenen Ländern, in unterschiedlichen sozialen Lagen und Lebensumständen haben unterschiedliche Probleme. Ein gebildeter Mensch hat im Vergleich zu schlecht ausgebildeten Personen, die eben erst in einem Land angekommen sind, dessen Sprache sie kaum sprechen, andere Chancen. Es ist sinnvoll, von Islamhass in allgemeiner Form zu sprechen, gerade weil sich diese Feindschaft gegen eine angeblich homogene Gruppe von Fremden richtet.
Während meiner Zeit in England habe ich Vorlesungen über den Nahen Osten gehalten. Meistens wies ich zu Beginn darauf hin, dass es im Mittelalter, ehe sich das Christentum in der Bevölkerung ausbreitete, ganz unterschiedliche Bevölkerungsgruppen in Europa gegeben hat, auch Angehörige anderer Religionen. Die Frage, die sich stellt, lautet: Wo ist diese Vielfalt heute? Sie verschwand mit der Entstehung des modernen Staates. Im Nahen Osten gibt es im Großen und Ganzen immer noch viele Religionen, Ethnien, Bräuche. Aber auch wir haben den europäischen Weg eingeschlagen. Das ist der Grund, warum ich den IS trotz seiner Beschwörung des Kalifats für eine moderne Bewegung halte. Ob und wenn ja, bis zu welchem Grad der moderne Staat große Unterschiede aushalten kann, ist offen.
Das führt mich übrigens zu einer Sache, über die ich mich oft wundere. Der sogenannte „Islamische Staat“ begeht monströse Verbrechen, genau wie die saudische Regierung im Jemen oder die ägyptische Regierung in Ägypten. In den westlichen Medien werden diese Taten als das absolut Böse dargestellt, schlimmer als alles, was in Europa oder Amerika passiert. Ich weiß nicht, ob sie den Fall Richard Glossip kennen. Der Mann sitzt seit 20 Jahren unschuldig in der Todeszelle. Anhand dieses Falles will ich hervorheben, dass die Todesstrafe genauso grausam ist wie öffentliche Enthauptungen in Saudi-Arabien. Jemandem den Kopf abzuschlagen ist nicht schlimmer als ihn jahrelang isoliert in der Todeszelle sitzen zu lassen, um ihm dann irgendwann tödliche Medikamente zu verabreichen, die einen qualvollen Todeskampf auslösen. Die Grausamkeit besteht darin, dass jemand vorsätzlich und feierlich getötet wird, weil der Staat sagt, dass er gesetzmäßig hingerichtet werden muss.
Aus den schrecklichen Dingen, die gerade in islamischen Ländern vor sich gehen, folgt nicht, dass das, was in vergleichbaren Situationen im Westen geschieht, moralischer wäre. Für mich ist das genauso schlimm, manchmal sogar noch schlimmer. Die Anhänger des IS meinen ein Recht dazu zu haben, grausame Dinge zu tun, weil Nichtmuslime (einschließlich Personen, die sich selbst als Muslime bezeichnen) vernichtet werden müssten. Europäer und Amerikaner begehen Taten, die genauso schrecklich sind. Es gibt keinen großen Unterschied zwischen beiden. Allerdings muss man doch fragen, ob es nicht schizophren ist, einerseits das Bekenntnis zur „Menschlichkeit“ zum obersten Wert zu erklären und auf der anderen Seite im Namen der Humanität anderen Menschen die furchtbarsten Dinge anzutun.
Bezüglich Ihrer Frage, wie Muslime handeln sollten: Nun, die unterschiedlichen Muslime werden in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Situation in den einzelnen Ländern verschiedene Strategien entwickeln müssen. Es gibt kein Allheilmittel für alle Muslime. Auf keinen Fall sollte man sich jedoch vollständig vom Rest der Bevölkerung abkapseln. Ich denke, wann immer möglich, sollte man sich mit anderen Menschen zusammentun und gemeinsam gegen Ungerechtigkeit – d. h. Ungerechtigkeit, die sich gegen Nichtmuslime und Muslime gleichermaßen richtet – kämpfen. Afro-Amerikaner z. B. leiden unter allen erdenklichen Formen von Isolation und Diskriminierung. Hier sollte es ein Solidaritätsempfinden mit Armen, Arbeitern und Arbeitslosen, geben, die unter entsetzlichen Bedingungen leben, ein Bewusstsein für die Möglichkeit, gemeinsam aktiv zu werden. Muslime sollten sich als Muslime mit ihnen solidarisch zeigen.
Wichtig ist, keine „Wagenburgmentalität“ zu entwickeln. Man muss stattdessen verstehen, dass man in Gemeinschaft mit anderen Menschen mit Problemen lebt. Die dafür erforderlichen Lösungen können weder von einer isolierten Gruppe noch im oder durch den modernen Nationalstaat erarbeitet werden.
Wael Hallaq von der Columbia-University hat sicher Recht mit seiner Skepsis gegenüber dem modernen Staat. Ich glaube allerdings nicht, dass der moderne Staat fähig ist, auf die moralische Kritik seiner muslimischen Bürger positiv zu reagieren – wie Hallaq übrigens in seinem Buch auch selbst einräumt. Der moderne Staat mag untrennbar verflochten sein mit der nationalen kapitalistischen Elite und der globalen politischen Ökonomie, aber er existiert – wie widersprüchlich und „unmöglich“ auch immer – und wird sich in naher Zukunft auch nicht auflösen. Theoretisch (!) können wir uns die wunderbarsten Dinge ausmalen, aber es ist etwas ganz anderes, diese Utopie in die Praxis umzusetzen.
Die Abschottung der Muslime von den Nichtmuslimen spielt nur denen in die Hände, die von Feindseligkeiten und Hass profitieren. Es gibt kein einfaches Rezept gegen Abschottung. Das ist etwas, was die Menschen mit sich selbst ausmachen müssen. Wichtig ist, die eigenen Leute weder als besonders tugendhaft noch als die ewigen Opfer anzusehen. Andererseits ist auch totale Assimilation keine Lösung. Emmanuel Todd vertritt in seinem hervorragenden Buch „Who’s Charlie?“ die Ansicht, dass eine gewisse Assimilation der muslimischen Einwanderer an die französische Kultur die Antwort ist. Damit bin ich nicht besonders glücklich. Der Bedingungen einer „Assimilation“ lassen sich nur schwer verhandeln, wenn die Macht ungleich verteilt ist. So etwas ist nie einfach. Auch eine tiefgreifende Reform der Aufnahmegesellschaft ist notwendig. Ansonsten ist eine umfassende Antwort auf Ihre Frage, wie Muslime versuchen sollten, sich in die „Menschheit“ zu integrieren, nicht möglich. Eine andere sehr traurige Sache ist die Einstellung vieler asiatischer oder arabischer Muslime in den USA – und ich denke, in England ist es ähnlich – gegenüber anderen Randgruppen, z. B. Afro-Amerikanern. Das ist wirklich eine Schande!
Azad: Der unglaubliche Rassismus vieler Muslime, dem sie sich manchmal ja nicht einmal bewusst sind, offenbart sich meistens dann, wenn die Tochter einen Schwarzen heiraten möchte. Er mag in jeder Hinsicht ein religiöser Mensch sein, aber er ist schwarz. Das ist wirklich widerwärtig.
Asad: Das stimmt. Wir müssen nachhaltige Anstrengungen unternehmen, um diese Einstellung zu bekämpfen. Das Konzept der Bürgerschaft erfordert, dass wir die Verpflichtungen gegenüber unserer eigenen Gemeinschaft ins Verhältnis zu anderen Gemeinschaften setzen – und auch als Mitglieder einer größeren Gemeinschaft, die für unser kollektives Leben bedeutsam wird. Nicht nur innerhalb des Nationalstaats, sondern grenzüberschreitend. Auch wenn der Nationalstaat weiterhin die bestimmende Größe bleibt, gibt es doch alle möglichen Formen von Verbindungen, die über ihn hinausreichen.
Die Idee der „Umma“ ist ja gerade keine größere Version der „Nation“, eine Art internationaler Nationalismus, der alle Muslime einschließt. Sie ist eine Einladung zum ethischen Denken. Im Koran wird das Word „Umma“ in verschiedener Weise gebraucht, nie jedoch im Sinne eines Territoriums oder einer Verwaltungseinheit. Das sollte einen zum Nachdenken anregen. Bei all den Gefahren der modernen Technik ist es heutzutage möglich, in einer Weise positiv und negativ miteinander zu interagieren, die in der Vergangenheit nicht verfügbar war.
Anders ausgedrückt: Für Muslime ist es wichtig, nach Wegen eines freundschaftlichen Zusammenlebens sowohl untereinander als auch unter Nichtmuslimen zu suchen. Dies könnte z. B. im Rahmen einer auf dem islamischen Konzept des Amr bil Ma’rûf (das Gute gebieten) basierenden staatsunabhängigen Institution geschehen. Im Umgang mit Gleichen und Autoritäten ermöglicht das Konzept sowohl Tadel als auch Beratung. Und obwohl es sich vorrangig an Muslime richtet, gibt es keinen Grund, warum es nicht auch auf Nichtmuslime ausgedehnt werden könnte. Entscheidend ist, dass es kein staatliches Steuerungs- und Herrschaftsinstrument sein sollte.
Das Interview führte Hasan Azad, der im Fach Islamwissenschaft an der Columbia University promoviert. Die ungekürzte englischsprachige Originalfassung erschien auf http://theislamicmonthly.com/being-human-an-interview-with-talal-asad/. Das Interview wurde für IslamiQ von Katharina Beneladel übersetzt.