Prof. Dr. Werner Schiffauer ist einer der renommiertesten Kulturwissenschaftler Deutschlands. Im IslamiQ-Interview erklärt er, wie transnationale Konflikte, aber auch die innermuslimischen Konflikte in Deutschland, die hiesigen Muslime beeinflussen.
IslamiQ: Wie können sich Muslime mit dem Terror auseinandersetzen? Sind großangelegte Friedensmärsche, wie in Köln, langfristig die richtige Lösung?
Prof. Dr. Werner Schiffauer: Groß angelegte Friedensmärsche sind ein Signal nach außen; sie sind aber auch ein Ausdruck eines gemeinsamen Gefühls. Beides kann eine inhaltliche Auseinandersetzung nicht ersetzen. Diese ist immer dann notwendig, wenn jemand in meinem Namen auftritt – und damit beansprucht, für mich zu sprechen. Für mich stellt sich ein ähnliches Dilemma, wenn etwa „Identitäre“ beschließen, sich im Namen der deutschen Kultur zu äußern. Das hat nichts damit zu tun, dass ich – selbstverständlich – nichts mit den Forderungen und Handlungen der Identitären gemeinsam habe. Sondern es ist eine inhaltlich Zurückweisung, warum sie kein Recht haben, etwas, was Teil meiner Identität ist, zu missbrauchen.
Was die Friedensmärsche betrifft: Als Signal nach außen stehen sie immer im unguten Licht: Als ob man etwas beweisen müsste (und damit gehen sie in die Falle der Rechtfertigungszwänge). Anders ist es mit dem Ausdruck des gemeinsamen Gefühls: Bei vielen Teilnehmern hatte ich das Gefühl, dass sie die Unverschämtheit der Terroristen, sich auf den Islam zu berufen, einfach satt hatten – und dies einfach ausdrücken wollten.
IslamiQ: Muslime in Europa scheinen in einem Rechtfertigungszwang für die Taten von Extremisten zu sein. Wir wirken diese Forderungen auf Muslime ein?
Schiffauer: Sie reagieren mit einer defensiven Grundhaltung. Weitgehend lassen sich ihre Aussagen auf den Punkt bringen: „Wir sind keine Terroristen“ und „Der Terrorismus hat mit dem Islam nichts zu tun.“ Dies ist zwar wahr, aber zu wenig. Es erschwert vor allem die Auseinandersetzung über die Ursachen des Terrorismus.
IslamiQ: Es wird oft kritisiert, dass deutsche Muslime mit Migrationshintergrund (aktuell: türkischstämmige Muslime) mehr Interesse für die politischen Entwicklungen in ihrem Herkunftsland zeigen als in Deutschland. Stimmt das und wenn ja, warum?
Schiffauer: Ich habe aus meinen Gesprächen das Gefühl, dass die Interessen an den Entwicklungen in der Türkei und in Deutschland sich ziemlich die Waage halten. Dies ist auch ganz natürlich bei einer Diasporagemeinde.
IslamiQ: Welche Auswirkungen werden Ihrer Meinung nach die polemischen Wortgefechte zwischen der Türkei und einzelnen Ländern Europas für die dortigen türkischstämmigen Muslime haben?
Schiffauer: Wahrscheinlich werden sie sehr folgenreich sein. Zunächst ist deutlich, dass die Errungenschaften, die wir in den letzten Jahren in Bezug auf die Akzeptanz der doppelten Staatsbürgerschaft gemacht haben, wieder in Frage gestellt werden, weil auf einmal die Loyalitätsfrage so stark gemacht wird. Große Sorgen habe ich auch in Bezug auf die Spaltung der türkischen Community. Ich befürchte, dass sich die Spannungen zwischen Aleviten und Sunniten, zwischen Kurden und Türken sowie zwischen den islamischen Gemeinden vertiefen werden.
IslamiQ: Müssen die islamischen Religionsgemeinschaften, in denen mehrheitlich türkischstämmige Muslime aktiv sind, angesichts des deutsch-türkischen Konflikts Ihrer Meinung nach Stellung beziehen? Wenn ja, wie?
Schiffauer: Die islamischen Gemeinden haben eine große Aufgabe. Ich erinnere mich an die Versprechungen, die mit den ersten Jahren der Erdoğan-Regierung verbunden waren: Aussöhnung mit Armenien und Griechenland; Versöhnung mit Kurden; Durchsetzen der Menschenrechte in der Türkei, Absage an alle Nationalismen und Rassismen. All dies war jenseits des Nationalstaats gedacht. Es ist die Aufgabe, dies wieder in Erinnerung zu rufen. Ich sehe mit großer Sorge, dass der Islam in der Türkei zunehmend in ein prinzipiell nationalistisches Programm eingeordnet wird.
IslamiQ: 2016 wurden insgesamt 23.750 Asylsuchende abgeschoben. Unter ihnen wurden auch Afghanen, obwohl kein Konsens darüber herrscht, ob Afghanistan ein sicherer Drittstaat ist. Worauf zielt die aktuelle deutsche Flüchtlingspolitik?
Schiffauer: Die deutsche Flüchtlingspolitik rutscht in eine gefährliche Zahlenakrobatik ab. Erfolg und Scheitern der Flüchtlingspolitik wird an der Zahl derjenigen gemessen, die ins Land kommen und die man wieder los wird. Dabei werden viele Bedenken über Bord geworfen– gerade auch in Hinblick auf das von Ihnen angesprochene Afghanistan. Das Kriterium für die Politik sollte dagegen die Leistungen in Bezug auf Integration sein. Hier hat die deutsche Zivilgesellschaft in den Jahren 2015 und 2016 Großes geleistet. Zum ersten Mal kam es zu einer Zusammenarbeit mit den islamischen Gemeinden.
IslamiQ: Sie sind Mitautor des „Journalisten-Handbuchs zum Thema Islam“, das Journalisten dabei helfen will, eine ausgeglichene Berichterstattung des Islams zu verwirklichen. Wie kann das erreicht werden?
Schiffauer: Ein Handbuch hat nur dann eine Chance, wenn es eine Bereitschaft gibt, es anzunehmen. Diese Bereitschaft ist im Augenblick auf Grund der Spannungen im Sinken begriffen. Damit wird aber nicht nur der Sinn des Handbuchs in Frage gestellt, sondern darüber hinaus der Sinn meiner wissenschaftlichen Arbeit insgesamt. Ich habe mich mein ganzes wissenschaftliches Leben für ein besseres Miteinander von Einwanderern und Deutschen, Muslimen und Nichtmuslimen eingesetzt und versucht, in zehn Büchern und vielleicht 100 Artikeln die Grundlage für ein besseres Verständnis herzustellen. Im Augenblick sehe ich die Gefahr, dass all das von einem sich gegenseitig aufschaukelnden deutschen und türkischen populistischen Nationalismus zerstört wird.
Das Interview führten Elif Zehra Kandemir und Esra Ayari.