Rassismus und Diskriminierung gibt es überall. Auch unter Schülern und Lehrern. Wie kann er erkannt und bewältigt werden? Ein Gespräch mit dem Rassismusforscher Prof. Dr. Karim Fereidooni.
IslamiQ: Reichen interne Strukturen, z. B. Vertrauens- oder BeratungslehrerInnen aus, um den Schülern, die von Diskriminierung betroffen sind, beizustehen?
Fereidooni: Solche Bemühungen der VertrauenslehrerInnen sind zwar positiv zu werten, reichen aber nicht aus. Die VertrauenslehrerInnen haben keine Vollmacht und in den meisten Fällen keine Kenntnisse über Rassismus. Die Rassismuskritik oder die Beschäftigung mit Rassismus ist eine Querschnittsaufgabe. Dafür müssen sich Schulen öffnen. Eigentlich muss man schon in der LehrerInnenbildung damit anfangen und mit angehenden LehrerInnen darüber zu sprechen und Fragen stellen wie: „Inwiefern hat Rassismus dich und dein Aufwachsen bzw. deine Sozialisation beeinflusst?“. Rassismusrelevantes Wissen besitzen ja nicht nur weiße Deutsche. Auch Deutsche of Color oder schwarze Deutsche, türkische POC, türkische Deutsche, iranische Deutsche, besitzen es auch.
Rassismusrelevantes Wissen besitzt jede Person in unserer Gesellschaft, nur der Unterschied ist: „MigrantInnen“ besitzen nicht die gesellschaftliche Macht, um andere Menschen systematisch in Bezug auf wichtige gesellschaftliche Teilbereiche wie Arbeits- Wohnungs- und Bildungsmarkt auszuschließen.
Ein erfolgsversprechendes Mittel gegen Rassismus ist die Auseinandersetzung damit und zwar frühzeitig in der Ausbildung von LehrerInnen. Bereits im Alter von 4-5 Jahren können Kinder unterschiedliche „Rassen“ und die damit einhergehenden unterschiedlichen Machtpositionen in der Gesellschaft wahrnehmen. Auch ich habe als Lehrkraft erlebt, dass rassismusrelevantes Wissen bei 12-13-Jährigen in Bezug auf die Strukturierung ihres Alltags eine Rolle spielt.
Ein Beispiel aus dem Politikunterricht der 7. Klasse: Da sollte ein Schüler nach vorne kommen und eine aktuelle Meldung präsentieren. In der Meldung ging es um Apfelplantagen in Moldawien, auf denen viele Äpfel kaputt gingen, weil sie nicht geerntet werden konnten. Der Schüler hat gesagt: „Das ist sehr schade. Man könnte doch diese ganzen Äpfel rüber nach Afrika transportieren, weil die Leute dort haben ja nichts zu essen“. Wenn man kein rassismuskritisches Wissen besäße könnte man sagen: „Danke Maximilian, setzt dich hin, wir machen weiter im Buch auf Seite 230“. Ich habe das nicht gemacht. Ich habe meine 32 SchülerInnen folgendes gefragt: „Was kommt euch in den Sinn, wenn ihr an Afrika denkt?“. Und ich kann Ihnen sagen, das Positivste waren die Pyramiden. Sonst waren die folgenden Bilder vorhanden: barfüßige, arme Menschen, die an Hunger leiden, an Aids sterben, in Hütten wohnen und in Dörfern leben.
Ich habe sie gebeten, die Kinderbücher, die sie zu Hause haben, mitzubringen, um gemeinsam zu erarbeiten, woher ihre Bilder stammen. Die alten rassismusrelevanten Geschichten, Bilder und Lieder, die man als Kind vermittelt bekommt, lagern sich im Bewusstsein ab. Das Kind denkt dann, dass man bestimmte Menschen bereits kennt, ohne ihnen jemals begegnet zu sein. Erfolgversprechend ist also, wenn sich alle Personen mit ihren rassismusrelevanten Wissensstrukturen auseinandersetzen.
IslamiQ: Die Schüler, die durch ihre Lehrer diskriminiert werden, trauen sich manchmal nicht, das Problem mit ihren Eltern oder der Schulleitung zu besprechen. Schützt unser Bildungssystem die SchülerInnen aus bildungsfernen Familien gegen Diskriminierung?
Fereidooni: Generell besitzen Lehrkräfte ein hohes Berufsethos. Man wird ja nicht Lehrkraft, um SchülerInnen zu quälen, sondern weil man den SchülerInnen etwas beibringen möchte. Die allermeisten Lehrkräfte sind sehr engagiert. Wenn wir über institutionelle Diskriminierung reden, geht es um institutionelle Veränderungen, also Veränderungen des Schulsystems, die notwendig sind, wie z. B. die Abschaffung der frühzeitigen, kontraproduktiv Selektion. Man kann nicht entscheiden, ob ein Kind im Alter von 10 Jahren in ferner Zukunft Arzt oder KFZ-Mechaniker wird. Pädagogische Prognosen können LehrerInnen über einen Zeitraum von höchstens zwei Jahren, aber nicht über einen Zeitraum von über 10 Jahren abgeben.
Kinder aus sog. bildungsfernen Familien sind generell im deutschen Schulwesen benachteiligt. Auf der einen Seite besitzen „migrantische“ bildungsferne Familien eine überaus große Bildungsaspiration. Die allermeisten Eltern wollen, dass ihre Kinder bildungserfolgreich werden. Was aber diese Eltern wissen müssen ist: Im deutschen Schulwesen werden nur diejenigen Kinder erfolgreich, die Unterstützung von zu Hause erfahren, z. B. in Bezug auf Hausaufgaben.
Wenn Eltern ihre Kinder nicht unterstützen können, sei es, weil sie die Sprache nicht (gut genug) beherrschen oder keine Zeit haben, dann wirkt sich das negativ auf die Bildungsbiografie ihrer Kinder aus. In diesem Punkt ist eine institutionelle Änderung des Schulwesens dringend erforderlich, nämlich in Bezug auf den Ausbau der Ganztagsschule. Man kann den Familien nicht zumuten, auch nicht den „deutschen“ Familien, ihre Kinder nachmittags bzw. abends bei den Hausaufgaben zu betreuen.
Der zweite Punkt ist, dass oftmals ein bildungsferner Familienhintergrund dazu führt, dass die Eltern Ängste haben in Bezug auf das Bildungssystem. Das heißt, sie möchten das Kind zwar unterstützen, können es aber nicht und haben auch Sorgen, dass die Kosten des Schulbesuchs höher ausfallen als der mögliche Nutzen.
IslamiQ: Welche strukturellen Veränderungen sind nötig gegen Diskriminierung in der Schule?
Fereidooni: Ganz banal: Es muss über Rassismus gesprochen werden, so wie ich das an der Ruhr-Universität Bochum mit angehenden PolitiklehrerInnen mache. Rassismuskritik sollte als ganz normaler Bestandteil der Professionskompetenz von Lehrkräften angesehen werden. Genauso wie die Fähigkeit, Binnendifferenzierung zu betreiben. Angehenden Lehrkräften sollte Rassismuskritik als Analysebrille präsentiert werden.
Darüber hinaus wäre es gut, nur eine Schulform für alle Kinder zu haben. Das kriegt man politisch aber niemals durch. Nicht nur die LehrerInnen sind gegen eine solch umfassende Schulreform, sondern auch die Eltern; vor allem die Eltern der bildungserfolgreichen SchülerInnen. Hamburg hat mal versucht, die Grundschule von vier auf sechs Jahre auszuweiten. Dagegen wurde eine Elterninitiative mit dem Namen „Wir wollen lernen“ initiiert, angeführt von einem Hamburger Rechtsanwalt. Das Ziel der BürgerInnen war es, die Kinder im Alter von 10 Jahren voneinander zu isolieren.
Strukturelle Veränderungen sind sehr schwierig, aber individuelle Veränderungen können nur greifen, wenn sie flankiert werden von strukturellen Veränderungen.
IslamiQ: Wie kann man Rassismen im Lehreralltag in Zeiten der salonfähigen Islamkritik frühzeitig erkennen?
Fereidooni: Das sollte man im besten Fall in der universitären LehrerInnenbildung gelernt haben. Ich würde das gar nicht salonfähige Islamkritik, sondern salonfähiger antimuslimischer Rassismus nennen. Das Problem ist, dass einigen Menschen die Menschenwürde aberkannt wird, weil sie dem Islam zugerechnet werden.
IslamiQ: Was können die muslimische Zivilgesellschaft, islamische Religionsgemeinschaften und deren Moscheegemeinden tun, um den Betroffenen zu helfen?
Fereidooni: Selbstverständlich können sie ein offenes Ohr haben, aber der Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus ist eine gesamtgesellschaftliche Sache. Die Aufgaben der „muslimischen“ Zivilgesellschaft sind die gleichen wie die Aufgaben der „christlichen“ Zivilgesellschaft in Deutschland. Ich würde nicht sagen, dass die „muslimische“ Zivilgesellschaft eine spezifische Aufgabe diesbezüglich hat. Es sollten sich alle gemeinsam und gesamtgesellschaftlich dagegen engagieren. Viele Moscheegemeinden betreiben bereits wertvolle Arbeit, aber das wird manchmal nicht wahrgenommen. Generell würde ich sagen, dass die gesamte Zivilgesellschaft da gefordert ist.
Es gibt aber eine Sache, die ich gerne in Bezug auf Rassismus und die Kolonialisierung Afrikas mit muslimischen Menschen besprechen würde und die ich sehr wichtig finde: Wenn man über die Kolonialisierung von Afrika spricht, muss man auch darauf hinweisen, dass muslimisch geprägte Staaten darin involviert waren, schwarze Menschen zu versklaven. Es ist ja so, dass MuslimInnen und diejenigen die (fälschlicherweise) dafür gehalten werden auf der einen Seite Rassismus in Deutschland erfahren , aber auf der anderen Seite ist es historisch so, dass in der Vergangenheit auch muslimische Menschen und muslimisch geprägte Staaten für die Ausbeutung in Afrika mitverantwortlich waren.
Rassismusrelevantes Wissen besitzen nicht nur Maximilian und Paul, sondern auch auf Ali und Muhammad. In ihren Familien sind sie mit Sprüchen, Bildern, Witzen, Anspielungen und Geschichten aufgewachsen die rassismusrelevant sind. Diese Tatsache muss man auch beim Namen nennen. Hierfür muss die „muslimische Zivilgesellschaft“ sehr selbstkritisch sein.
Das Interview führte Şeyma Karahan.