Wer vom Dschihad hört, denkt an Krieg und Gewalt. Genau das ist er nicht, meint der Theologe Hakkı Arslan. Ein interessanter Ansatz mit einer langen Geschichte.
Dschihad wird in zeitgenössischen Darstellungen als ein Kampfbegriff präsentiert, der zur Bekämpfung aller Nichtmuslime aufrufen soll. Dieses vermeintliche Gebot, Andersgläubige zu bekämpfen, sei direkt aus dem Koran zu entnehmen und soll solange fortgesetzt werden, bis die gesamte Welt unter „islamischer Herrschaft“ stehe. Als Bestätigung dieser Sichtweise werden die terroristischen Anschläge weltweit und die Propaganda von Bewegungen wie Al-Qaida oder ISIS herangezogen, die sich mit Allahu akbar-Rufen und mit Koranzitaten auf den Islam berufen. Dabei wird eine direkte Linie vom Koran zu den terroristischen Attentaten gezogen, wodurch der Koran als unmittelbare Ursache für die Gewalttaten dargestellt wird.
Ein solcher Kurzschluss ist fehlerhaft. Das wissen wir mittlerweile aus seriösen Studien. Genauso wie die judenfeindlichen Äußerungen im Neuen Testament nicht die Hauptursache für die Vernichtung der Juden unter der NS-Diktatur gewesen sind, so sind auch die Koranverse nicht unmittelbar für die Gewalttaten von Verbrechern verantwortlich. Die Ideen eines Goebbels sind nicht notwendig in der Bibel enthalten, ebenso wenig wie die eines Bin Laden oder al-Bagdadis im Koran.
Die Sache ist viel komplexer. Aus Studien wissen wir, dass die Gründe eher im sozialen Milieu solcher Gewalttaten zu suchen sind, anstatt unmittelbar im Koran. Zu nennen sind hier Gründe wie internationale Machtinteressen, ökonomische und soziale Konflikte, verfehlte Integrationspolitik, biografische Defizite, Diskriminierungserfahrungen und Perspektivlosigkeit junger Menschen usw. Es wäre jedoch zu einfach zu behaupten, das habe mit dem Islam nichts zu tun. Denn sobald theologisch argumentiert wird und die Attentäter sich auf den Koran berufen, muss theologisch gezeigt werden, warum diese Interpretation falsch ist und der Koran nicht im Sinne der Terroristen ausgelegt werden kann.
Man kann hier schon vorwegnehmen, dass ausgehend vom Koran keineswegs Selbstmordattentate, die Tötung von Zivilisten, die pauschale Bekämpfung von Andersgläubigen oder gar eine feindliche Haltung gegenüber Andersgläubigen abgeleitet werden kann. Dies ist nur durch die gezielte Ausblendung der kontextuellen Zusammenhänge von einzelnen Textpassagen möglich, die mit einer wortwörtlichen Interpretation gelesen werden und eine bestimmte Weltsicht und Situationsdiagnose voraussetzen. Eine seriöse, theologisch fundierte Lektüre des Korans unter Berücksichtigung des Kontextes und der intra- und intertextuellen Bezüge zeigt, dass die sogenannten „Schwertverse“ im Koran nicht die pauschale Gewalt gegenüber Andersgläubigen propagieren, sondern eine Lanze für Religionsfreiheit brechen und zur Erstellung eines gerechten Friedens aufrufen.
Natürlich wurde der Dschihad in der Geschichte auch im Sinne von Angriffskriegen verstanden und auch Eroberungskriege im Nachhinein religiös als Einsatz auf dem Wege Gottes legitimiert. In Zeiten ohne ein Völkerrecht und ein Gewaltverbot in internationalen Vereinbarungen waren Kriege ein legitimes Mittel der Gebietseroberung. Hierin unterschieden sich die muslimischen Herrscher nicht von römischen, byzantinischen, französischen oder britischen Kaisern und Königen. Alle diese Interpretationen sind den entsprechenden historischen Kontexten geschuldet. Was uns hier für heute interessiert ist aber vielmehr der theologische Kern des Dschihad-Begriffs als die historische Gestalt in verschiedenen Kontexten. Die Auffassung, dass der Dschihad primär zur Verteidigung der Religionsfreiheit und der Herstellung des Friedens dient, ist keine marginale Meinung, sondern gegenwärtig die mehrheitliche Auffassung sunnitischer Gelehrter des traditionell orientierten Spektrums.
Sicherlich lassen sich viele Texte aus der theologischen Tradition finden, die sich für eine aggressive Interpretation instrumentalisieren lassen und die auch von extremistischen Gruppierungen als Legitimation für ihre Taten herangezogen werden. Um das Feld nicht den Extremisten zu überlassen, müssen auch solche problematischen Interpretationen erneut aufgegriffen und neu überdacht werden. Aber genau das gehört ja selbstverständlich zu den Kernaufgaben einer Theologie.
Das, was in den heiligen Schriften steht, ist das eine, was die Menschen daraus machen ist das andere. Im Neuen Testament gibt es beispielsweise nicht so viele Stellen, die unmittelbar zu Gewalt aufrufen, aber trotzdem hat das Christentum in seinen verschiedenen Denominationen 1500 Jahre lang immer wieder brutale Gewalt legitimiert, sowohl gegenüber Andersgläubigen als auch gegenüber christlichen Häretikern.
Im Gegensatz zum heutigen Anschein waren die Muslime hingegen stets toleranter gegenüber Andersgläubigen. Seit dem 8. Jahrhundert haben muslimische Theologen elaborierte Toleranzkonzepte entwickelt, wonach Angehörige fast aller Religionen in muslimischen Herrschaftsgebieten Religionsfreiheit – freilich nicht nach den heutigen Standards – genießen konnten. Ein Verständnis des Korans, wonach alle Nichtmuslime bekämpft werden sollen, bis die gesamte Welt den Islam annimmt, hat sich nie mehrheitsfähig durchgesetzt, sondern blieb immer eine marginale theoretische Position, welche in der Praxis kaum Relevanz besaß. Maßgebend war jedoch das Dschihad-Verständnis, wonach der Dschihad unter Anderem als ein Aufruf verstanden wurde, sich entschieden für die Religionsfreiheit von verfolgten Minderheiten einzusetzen.
Gewalt ist eine anthropologische Konstante. Solange es Menschen gibt, wird es auch Gewalt und Kriege geben. Von einer vollständigen Gewaltlosigkeit kann zu keiner Zeit die Rede sein. Dass auch der Koran als eine heilige Schrift über Krieg und Gewalt spricht, ist schlicht aus dem Grund, dass es Krieg und Gewalt in der Welt und auch auf der arabischen Halbinsel des 7. Jahrhunderts gab und die Gläubigen sich dazu verhalten mussten. Keine der verschiedenen großen Denominationen des Christentums, die katholische Kirche, die orthodoxe Kirche, die Lutheraner, etc. waren pazifistisch, sondern orientierten sich vielmehr an der Doktrin des gerechten Krieges, wonach es legitime Gründe geben kann, um Kriege zu führen. Der Artikel 51 der UN-Menschenrechtserklärung erlaubt Gewaltanwendung im Falle eines Verteidigungskrieges. Auch im Koran wird Gewaltanwendung und Krieg an mehreren Stellen legitimiert als Mittel um einen gerechten Frieden herzustellen und um die freiheitliche Grundhaltung des Korans um jeden Preis auch unter Anwendung von Gewalt zu verteidigen.
Nach der mehrheitlichen Auffassung zeitgenössischer muslimischer Gelehrter hat der Dschihad zwei Ziele: 1. Die Selbstverteidigung und Abwehr von Aggressionen und 2. die Verhinderung von religiöser Verfolgung und Herstellung von Religionsfreiheit, so dass alle Menschen ihre Religion frei praktizieren können. Alle Koranverse, die zum Kampf aufrufen, müssen aus dieser Perspektive verstanden werden.
Der erste Koranvers aus der Sure Hadsch, der den Muslimen nach 13-jähriger Verfolgung erlaubt, sich zu verteidigen, drückt genau diesen Punkt aus: „Denjenigen, die bekämpft werden, ist die Erlaubnis (zum Kämpfen) erteilt worden, weil ihnen (vorher) Unrecht geschehen ist. Gott hat die Macht, ihnen zu helfen. (Ihnen) die unberechtigterweise aus ihren Wohnungen vertrieben worden sind, nur weil sie sagen: Unser Herr ist Gott. Und wenn Gott nicht die einen Menschen durch die anderen zurückgehalten hätte (indem er ihnen aus ihren eigenen Reihen Widersacher entstehen ließ) wären (überall) (Einsiedler)Klausen, Kirchen, Synagogen und Kultstätten, in denen (allen) der Name Gottes viel erwähnt wird, zerstört worden. Aber bestimmt wird Gott denen, die ihm helfen, (ebenfalls) helfen. Er ist stark und mächtig.“ (Sure Hadsch, 22:39-40)
Den Gläubigen wurde nach langjähriger Unterdrückung und Verfolgung die Erlaubnis erteilt, sich zu verteidigen und gegen die polytheistischen Mekkaner zu kämpfen. Der Kriegsgrund ist hier eindeutig genannt: der Glaube! Die Muslime haben Unrecht erlitten, wurden bekämpft und aus ihren Wohnstätten vertrieben, weil sie gesagt haben „Unser Herr ist Allah“. Die religiöse Verfolgung wird hier als Ungerechtigkeit bezeichnet und als Grund aufgeführt, sich mit Gegengewalt zu widersetzen. Der Kampf soll solange weitergehen, „bis es keine Verfolgung (Fitna) mehr gibt“ und „bis nur noch Gott verehrt wird“ (Sure Bakara, 2:193), denn „die Verfolgung ist schlimmer als Töten“ (Sure Bakara, 2:191).
„Bis nur noch Gott verehrt wird“, bedeutet in der Sure Bakara und in der Sure Tawba nicht, dass jeder den Islam annehmen soll, sondern, dass niemand aufgrund seines Glaubens an Gott verfolgt werden darf. Bis dieser Zustand erreicht ist, sollen sich die Gläubigen entschieden gegen die Aggressoren verteidigen und sie bekämpfen. Auch die im Vergleich dazu noch härteren Verse in der 9. Sure sind in diesem Rahmen zu verstehen.
Der entschiedene Einsatz für Religionsfreiheit darf jedoch nicht nur auf die Muslime bezogen sein, sondern wie im oben zitierten Vers aus der Sure Hadsch auf alle Religionen. „Und wenn Gott nicht die einen Menschen durch die anderen zurückgehalten hätte, wären (überall) (Einsiedler)Klausen, Kirchen, Synagogen und Kultstätten, in denen (allen) der Name Gottes viel erwähnt wird, zerstört worden.“ Dieser Teil ist als ein Auftrag an die Muslime zu verstehen, die Kultstätten anderer Religionen vor Angriffen zu schützen. Aus diesen und anderen Versen ist demnach ein allgemeines Prinzip abzuleiten, wonach die religiöse Verfolgung unter keinen Umständen zu dulden ist und wogegen sich die Muslime entschieden einzusetzen haben. Gerade in diesem Punkt sind derzeit sehr viele Defizite in der sogenannten „islamischen Welt“ zu verzeichnen, womit sie deutlich hinter dem koranischen Anspruch zurückbleiben.
Es sind also gerade die Textstellen im Koran, die von vielen Seiten als problematisch empfunden werden, die am energischsten die freiheitliche Grundposition des Korans zum Ausdruck bringen, indem Gläubige dazu aufgerufen werden, sich mit allen Mitteln – im Kontext der arabischen Halbinsel des 7. Jahrhunderts, wenn nötig sogar durch Gewalt – gegen religiöse Verfolgung einzusetzen.
Trotz des harten Tons der Stellen, in denen Muslime zur Bekämpfung und Tötung ihrer Feinde aufgefordert werden, kann eindeutig festgestellt werden, dass im Koran Kriegsführung nicht um der Gewaltanwendung willen befohlen wird, sondern als Mittel eingesetzt wird um einen Friedenszustand zu erreichen. Das entspricht voll und ganz Artikel 51 der UN-Menschenrechtserklärung und auch der Theorie des gerechten Krieges, wonach Krieg und Gewalt unter bestimmten Umständen erlaubt sein kann, nämlich um einen Friedenszustand herbeizuführen. Aus dem Koran heraus lässt sich also die pauschale Bekämpfung von Andersgläubigen keineswegs rechtfertigen!