Jerusalem ist und war oft Schauplatz von Konflikten und Auseinandersetzungen. Sercan Üstündağ besuchte vor ein paar Monaten die Stadt, die für alle Gläubigen der monotheistischen Religionen von großer Relevanz ist. Er schreibt über seine Eindrücke aus dem „Heiligen Land“.
In Jerusalem angekommen, genauer in der Dormitio-Abtei, einer Benediktinerabtei nahe der Altstadtmauer Jerusalems, erfuhren wir als gesamte Studentenschaft, dass die Entstehungsgeschichte dieser Abtei unmittelbar mit der Geschichte des osmanischen Sultan Abdulhamid II.(reg. 1876-1909) verknüpft sei. Das war für alle neu und schaffte zumindest für den Moment ein Gefühl von Verbundenheit.
Als Kaiser Wilhelm II. (reg. 1888-1918), letzter Deutscher Kaiser und König von Preußen, sich aufgrund der Einweihung der evangelischen Erlöserkirche auf einer Palästinareise befand, erwarb er das Grundstück vom osmanischen Sultan Abdulhamid II. Nach dem Erwerb übergab Kaiser Wilhelm II. das Grundstück dem „Deutschen Verein vom Heiligen Lande“ (DVHL). Eine römisch-katholische Organisation, die darum bemüht war, die Beziehung der Christen in Deutschland mit dem „Heiligen Land“ zu stärken.
Unsere Reisegruppe lief schnurstracks in Richtung der Masdschid al-Aksâ und des Felsendoms. Angetrieben von dem Wunsch, den realen Ort unserer religiösen Imagination zu sehen führte unser Weg zunächst durch das sogenannte „Zions Gate“, das wenige Gehminuten von der Dormitio-Abtei entfernt ist. Ohne dass uns die Pracht des Tores auffiel, liefen wir die Straße hinunter. Nach ersten Orientierungsschwierigkeiten wurde uns nach der Bitte einer Wegbeschreibung bewusst, dass Arabisch zu sprechen womöglich ungewollte Reibungsflächen erzeugen könne. Um jegliche Konflikte zu vermeiden, einigten wir uns zunächst einmal auf Englisch für unsere weitere Kommunikation. Man lotste uns zur „Hashalshelet st“. Nun liefen wir die Straße entlang, in Richtung Osten, und sahen bereits ein großes Tor, das vermutlich der Eingang zum Haram war.
„You Muslim?“
Ungefähr 200 Meter vor dem Tor standen Polizisten, die ich nicht einzuordnen vermochte. „You Muslim?“ fragten sie. Die Frage war an mich gerichtet, denn die restlichen Studierenden waren Musliminnen, die den Hidschab trugen und somit klar als Muslime eingeordnet wurden. So antwortete ich auf Arabisch „Aywa“, „Ja„. Ob man das hier in Palästina verstand, wusste ich auch nicht. Die Befragung ging weiter: „Min wân – woher?“ Ich erwiderte „Min Turkiyya“. Mit einem Wink wurde mir der Durchgang gewährt.
Am Eingangstor spielte sich das kurz zuvor erlebte Szenario nochmals ab. Wieder Polizisten in Uniform, die ich nicht einordnen konnte. Auch diesmal antwortete ich auf Arabisch, ohne zu wissen warum. Vielleicht war es dem kleinen Erfolg geschuldet, durchgewunken worden zu sein, vielleicht aber auch, um als Muslim wahrgenommen zu werden, obwohl ich nicht gerade dem Stereotyp entspreche. Zumindest hatte es beim ersten Mal funktioniert, also behielt ich das für die kommenden Wochen bei.
Die lang ersehnte Begegnung
Nun war es also so weit. Wir betraten den Haram durch das „Chain Gate“. Mit dem ersten Schritt in den Haram war ein mehr fragendes als begrüßendes „As-salâmu alaykum“ (Der Friede sei auf Euch!) zu vernehmen. „Wa alaykum as-salâm“ (Der Friede sei auch auf Euch!), „Min wân“, „Min Turkiyya“, „Ahlan wa sahlan – Herzlich willkommen“.
Die Goldene Kuppel des Felsendoms zog uns nun in seinen Bann. Urplötzlich drifteten die Studierenden möglichst weit weg voneinander. Bald standen wir mit dem Rücken zueinander, sodass dieser Moment für jeden einzelnen ganz intensiv sein konnte, sodass jeder für sich Tränen vergießen konnte. Denn der Anblick war erschütternd und zugleich faszinierend. Ein Ort der Heiligkeit, geschmückt mit Erzählungen aus der Kindheit und den Narrativen des Leides. Doch nun waren wir da und durften leibhaftig den Anblick genießen. Minutenlang schwiegen wir. Wir konnten unseren Blick von der Kuppel nicht losreißen. Kein Bild der Welt hätte diesen Moment einfangen können, deshalb war es sinnlos die Kamera zu zücken. Dieser Anblick wollte und sollte genossen werden.
Al-Aksâ – das Ziel der Nachtreise des Propheten Muhammad (s)
Südlich von unserem Standort befindet sich die Al-Aksâ-Moschee. Die Kuppel aus Blei ist zwar nicht so ansehnlich wie die des Felsendoms, dafür aber hatte sie einen ganz besonderen Stellenwert für Muslime in aller Welt. Schließlich ist dieser Ort das Ziel der Nachtreise des Propheten Muhammad (a) gewesen. Auch für mich ist dieser Ort an kollektiv tradierte Erinnerungen und an Koranverse gebunden. Im selbigen wiederholte sich das Gefühl einer Übermannung und das Einzige, woran ich mich noch erinnere, ist, dass meine Lippen begannen einen ganz bestimmten Koranvers zu wiederholen:
„Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers. Gepriesen sei, der seinen Knecht nachts reisen ließ. Von der heiligen Anbetungsstätte (Masdschid al-Haram) zur fernsten (Masdschid al-Aksâ), um die herum wir Segen spendeten, um ihm von unseren Zeichen einige zu zeigen! Siehe, er ist der Hörende, der Sehende.“ (Sure Isrâ, 17:1)
Dieser wirkungsmächtige Vers, um den herum eine breite Literatur entstehen sollte, zog mich in seinen Bann. Ich rezitierte ihn abermals. Immer und immer wieder mit den verschiedensten Melodien. Ob in den beiden Moscheen oder woanders, begleitete mich dieser Vers weiterhin in meinen Gebeten. Es fällt schwer sich selbst einzugestehen, dass solche Momente einzig Momente sind und nicht ewig verweilen, obwohl man lange von ihnen zehrt.
Nach dem Enthusiasmus; mit offenen Augen auf dem Rückweg
Es gibt mehrere Tore, die zum und aus dem Haram zurückführen. Wir nahmen für den Rückweg dasselbe Tor, durch das wir kamen. Aber erst jetzt fiel mir die arabische Inschrift „Bâb as-Silsila“ auf, darunter die englisch sprachige Übersetzung „Chain Gate“. Das besagte Tor liegt an der Westmauer des Haram und Saladin (gest. 1193) ließ es – ungefähr zehn Jahre nach der Eroberung Jerusalems – erbauen. Heute ist es der Haupteingang zum Haram. Beim Herausgehen erblickte ich direkt gegenüber von der „Bâb as-Silsila“ einen Brunnen. Passend zum Stadtbild standen schwer bewaffnete Polizisten vor dem Brunnen. Trotz dessen fiel mir auf, dass der Brunnen als ein Überbleibsel der osmanischen Historie dieser Geographie übrig geblieben war. Die Inschrift deutete auf Süleyman den Prächtigen (1520-1566) hin.
Die Madrasa – damals ein Ort der Gelehrsamkeit, heute ein strategischer Posten
Vor dem Brunnen und mit dem Rücken zum Felsendom stehend, befindet sich auf der linken Seite ein prächtiges Bauwerk. Das Überdimensionale ist zugleich ein Indiz dafür, dass dieser gewaltige Komplex der Mamlukenzeit anzurechnen ist. Bei näherer Betrachtung haben wir den Komplex als die „Tankiziyya Madrasa“ (Schule) erkannt. Heutzutage darf man den gewaltigen Gebäudekomplex nicht mehr betreten. Man weiß jedoch, dass der Innenraum damals als ein Ort der Gelehrsamkeit sowie eine Herberge für Gelehrte der Sufi-Orden genutzt wurde. Heute ist es ein strategisch wichtiger Posten für die israelische Polizei, da man durch das Gebäude sowohl in den Haram als auch in den Bazar kommt.
Angekommen bei Hausnummer 149 der „Tarîk Bâb as-Silsila“ (Hashalshelet st.) befanden wir uns mittlerweile tief im Bazar, dem sogenannten Suk. Schon bald kamen wir an einigen Wohnungen im Suk vorbei, an denen Kundmachungen der Mekka-Pilger zu sehen waren. Mal war es eine an die Wand gemalte Kaaba, mal ein Aushang mit dem Abbild der Kaaba
Die Tashtawariyya Madrasa
Wir zogen zwischen dem Getöse und dem Lärm, den die Preise aufrufenden Ladenbesitzer verursachten, in Begleitung des eigenartigen Duftes der Gewürze und Parfümerien, weiter durch die engen Gassen des Bazars.
Nur wenige Schritte weiter ist die noch heute begehbare „Tashtawariyya Madrasa“ zu finden. Der Innenraum deutet auf die vier separaten Lehrräume hin, die ursprünglich die Lehrmeister und Schüler der vier Rechtsschulen beherbergten. Man nannte die einzelnen Zimmer auch „Liwân“ (Flügel). Die Madrasa ist ein Zentralbau, in dessen Mitte sich ursprünglich ein Brunnen befand, der dem Anschein nach seinen Platz einem staubigen und runden Tisch räumen musste. Aktuell stehen drei der vier erwähnten Flügel weitestgehend leer – in ihnen sind irgendwelche Kartons abgestellt. Nur ein Flügel ist heute noch menschlich besetzt, nicht aber von einem nach Wissen Suchenden, wie es das Erbe wohl verdient hätte, sondern von einem Mann, der weit zurückgelehnt in seinen gepolsterten Bürosessel mit überschlagenen Beinen saß – unserer Anwesenheit kaum bewusst – und an seinem wohlduftenden Minztee nippte.
Einschusslöcher aus der jüngeren Vergangenheit
Auf den letzten Metern zur Dormitio-Abtei gingen wir nochmals in Richtung des „Zions Gate“, durch das wir am Anfang des Tages bereits geeilt waren, jedoch ohne diesem Tor gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Diesmal jedoch nahmen wir uns die Zeit, um das auf Arabisch als „Bâb an-Nabî Dâwûd“ (Tor des Propheten David) bekannte Tor näher zu inspizieren. Der Durchgang ist im rechten Winkel gebaut, sodass anscheinend vermieden werden sollte, dass herbeieilende Reiter rasend in die Stadt vorstoßen konnten.
Nachdem wir durch das Gate und damit aus der Altstadt herausgetreten waren, wandten wir uns nochmals dem Tor zu und warfen einen Blick auf den Bau. Dieses Tor ist durchzogen mit Einschusslöchern, die Zeugen des Schusswechsels von 1948 zwischen israelischen und jordanischen Soldaten – die sich in der Altstadt, also auf der anderen Seite der Mauer befanden – sind. Einschusslöcher aus der jüngeren Vergangenheit auf dem Erbe Süleyman des Prächtigen, der dieses Tor im Jahre 1540 erbauen ließ.
In der Hoffnung, der stummen Selbstverständlichkeit eine Stimme geschenkt zu haben.