2017 ist das westliche Demokratiemodell schwer unter Druck. Kampagnen werben vor der Bundestagswahl nun nicht nur für Parteien, sondern für mehr Einsatz für die Demokratie. Sozialforscher machen sich vor allem Sorgen, wie das Phänomen Trump hierzulande verhindert werden kann.
Ein Zeitungsbudenbesitzer. Eine Kranführerin. Eine junge Muslima mit Kopftuch. Diese Menschen tauchten vor einiger Zeit bundesweit auf Plakaten auf. „Ich könnte auch nur meine eigene Meinung verkaufen – muss ich aber nicht“, erklärt der Zeitungsverkäufer. Darunter Artikel 5 des Grundgesetzes, der Artikel, der Meinungs- und Pressefreiheit garantiert.
Meinungsfreiheit? Eine Werbekampagne dafür vor der Bundestagswahl? Das hätte 2013 noch schräg gewirkt. Doch im Jahr 2017 nicht mehr: Ein US-Präsident, der die Medien zu Feinden erklärt, inhaftierte Journalisten und Menschenrechtler in der Türkei, verdrehte Wahrheiten, „Lügenpresse“-Parolen politischer Rechtsausleger. Das Portal BuzzFeed hat ermittelt, dass sieben der zehn erfolgreichsten Artikel über Kanzlerin Angela Merkel auf Facebook „Fake News“ sind, also bewusst gefälschte oder verdrehte Nachrichten.
Das westliche Demokratie-Modell scheint unter Druck. Die Werbe-Kampagne will dagegen ein Zeichen setzen – für all die Freiheiten, die das Grundgesetz zusichert. Beim Motiv der Kranführerin geht es um das Recht auf Berufsfreiheit, die Muslima wirbt für die Freiheit des Glaubens. Auch Spots für Radio und Kino gibt es. „Wir wollen Demokratie in Gang bringen“, sagen die Initiatoren. Und: „Wir suchen Menschen, die Demokratie sichtbar machen.“ Deswegen kann jeder, der will, ein Selfie auf der Webseite hochladen und sich zur Demokratie bekennen.
Hinter der Werbe-Aktion, die aus Spenden finanziert und das Resultat eines Studentenwettbewerbs ist, steckt der Verein „Artikel 1 – Initiative für Menschenwürde e.V.“. Es ist ein Zusammenschluss von Menschen, die in der politischen Kommunikation aktiv sind, in Parteien etwa, Ministerien, Beratungs-Agenturen. Bekanntestes Mitglied: der ehemalige SPD-Bundesgeschäftsführer Kajo Wasserhövel.
„Wir wollen dem rückwärtsgewandten Nationalismus etwas entgegensetzen“, sagt er. Mit der Demokratie-Kampagne sei das Thema natürlich nicht erledigt. Aber sie sei ein Beitrag. „Demokratien gehen an Gleichgültigkeit und Lieblosigkeit kaputt. Und daran, dass man Dinge einfach laufen lässt und man den Mund hält.“
Mit dieser Meinung steht der Verein nicht allein. Die Initiative „Pulse of Europe“ etwa, bei der sich seit vielen Monaten an Sonntagen Tausende Anhänger in europäischen Städten versammeln, um für die Europäische Union zu demonstrieren, will die Diskussion über Europa auch nicht Nationalisten und Rechtspopulisten überlassen.
Das klingt alles schön und gut. Doch was genau können diese Initiativen eigentlich genau bezwecken?
„Was da passiert, ist lebendige Demokratie“, sagt Robert Vehrkamp, Sozialwissenschaftler und Direktor des Programms „Zukunft der Demokratie“ der Bertelsmann Stiftung. Viele hätten in den letzten Jahren geklagt, Politik sei langweilig geworden. Das hat sich verändert. Das würde ich zunächst positiv für die Demokratie werten.“ In Anbetracht von Pegida-Demos, Brexit-Votum, Trump und dem Aufwind nationalistischer Parteien in der EU seien die Demokratie-Initiativen „eine bürgerliche Gegenmobilisierung zum Rechtspopulismus“. Das könnte bei der Bundestagswahl zu einer Mobilisierung in den Wählermilieus etablierter Parteien führen.
Allerdings ist Vehrkamp auch skeptisch. In den Demokratie-Initiativen seien vor allem Menschen aktiv, die aus bildungsnäheren, einkommensstärkeren Milieus kämen. Menschen, „die im Prinzip zufrieden sind mit dem Status quo, angesichts der rechtspopulistischen Mobilisierung der letzten Jahre aber ein Stück weit Angst bekommen“. Es stelle sich nun die Frage: „Geht es nur um die Absicherung ihrer eigenen Interessen? Oder auch darum, andere Meinungen in der Demokratie ernst zu nehmen und daraus Konsequenzen zu ziehen?“ Täte man das nicht, könne es zu einer noch tieferen Spaltung der Gesellschaft kommen, von der etwa Donald Trump in den USA stark profitiert habe. „Das wäre bei uns in diesem Maße so noch nicht möglich“, betont Vehrkamp. „Aber auch in Deutschland ist die Demokratie sozial gespalten.“
Der Soziologe Simon Teune vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung in Berlin stellt die Frage, „ob solche Aktionen die Leute ansprechen, die Demokratie-Zweifel haben“. Die Themen der Demokratie-Initiativen wie Rechtsstaat und Freiheitsrechte seien nicht unbedingt die Themen, die Menschen beschäftigten, die sich abgehängt fühlten. „Es wird zu wenig darüber nachgedacht, was man den Menschen, die sich ausgeschlossen fühlen, anbieten kann“, sagt Teune. „Ich denke, das ist eher die Frage, wenn es darum geht, langfristig Demokratie zu erhalten.“ (dpa, iQ)