Der Ausbau „islamischer Wohlfahrtspflege“ wird auch von muslimischer Seite immer wieder gefordert. Doch wie kann und warum soll er entstehen? Dr. Abdurrahman Reidegeld blickt in die Vergangenheit, um Antworten für die Gegenwart zu finden.
Seit längerem beschäftigen sich staatliche Stellen und muslimische Gemeinschaften mit dem Thema „islamische Wohlfahrtspflege“. Der Wunsch der staatlichen Partner ist es, die islamischen Religionsgemeinschaften in die vorhandene Struktur Deutschlands hinein zu holen. Dennoch darf an dieser Stelle kein schierer Aktionismus zu vorschnellen Entscheidungen verführen; stattdessen muss sich die Gesamtgemeinschaft aller Muslime in Deutschland (also eben nicht nur reine Institutionen, wie die islamischen Dachorganisationen) ernste und tiefgreifende Gedanken machen, was man in Deutschland, im geschichtlichen und derzeitigen Kontext von Staat und Gesellschaft, eigentlich unter diesen und damit verknüpften Begriffen versteht.
Es ist notwendig, sich vorab mit der Entstehung der Wohlfahrtsverbände, der veränderten Wertschätzung von religiöser Praxis einerseits und sozialem Engagement als Existenzberechtigung andererseits, sowie der Notwendigkeit von Sozialarbeit und der religiös-moralische Belegung dieser Haltung zu beschäftigen. Hierbei kann zwischen zwei Perspektiven unterschieden werden: der Betrachtung von innen nach außen und der Betrachtung von außen nach innen.
Die heute in Deutschland existierenden sechs großen Wohlfahrtsverbände, haben ihre geschichtlichen Wurzeln weitgehend in den 1890er Jahren. Sie entstanden als Antwort auf zumeist katastrophale Zustände der einfachen und arbeitenden Menschen während des damals boomenden Industrialismus. Die Entwurzelung der Menschen, die oft aus traditionellen und ländlichen Regionen in die aufstrebenden Städte strebten, stellten das damalige Deutsche Kaiserreich vor immense Probleme, die bezeichnender Weise zuerst auch gar nicht gelöst werden konnten. Ziel der damaligen kirchlichen Institutionen war eine Linderung, nicht eine Lösung der sozialen und finanziellen Schieflage, die konsequenterweise auch zur Entstehung des Sozialismus und Kommunismus als Antwort auf fehlende Gesamtlösungen führten. Eine bis heute weiterreichende Unternehmung zur sozialen Absicherung stellte die von Reichskanzler Bismarck eingeführte Sozialabsicherung dar, die letztlich Vorbild für die Rentenvorsorge in Republikszeit wurde.
Während der Nachkriegszeit des Ersten Weltkrieges und der Wirtschaftskatastrophe der Weimarer Epoche wiederholten sich die Verarmungs- und Verelendungsszenarien, mit dem Unterschied, dass in Gegensatz zur vorherigen kaiserlichen Epoche ein stärkeres staatliches Interesse bestand, Notlagen der Bevölkerung auszugleichen. Hinzu kamen nach dem Ende des zweiten Weltkrieges Deutschland-spezifische Belange, wie die Flüchtlingszusammenführung, die Vermisstensuche usw.
Entscheidend für das Selbstverständnis der christlichen Verbände jedoch war eine neue Selbstdefinition: Während die christlichen Werte bis etwa zur Weimarer Epoche noch weitgehend gesamtgesellschaftlich akzeptiert waren, führte die gesellschaftliche Verelendung der Weimarer Epoche (Weltwirtschaftskrise) und die menschliche Katastrophenerfahrung des Zweiten Weltkrieges, mit dem Zerfall aller bislang bestehenden Institutionen auf deutschem Boden, zu einer ganz elementaren Neubesinnung: Was sollte die Aufgabe von christlichen Institutionen in dieser Null-Stunde sein? Aus der Antwort auf diese Frage entstanden dementsprechend die heutigen, uns bekannten, christlich-inspirierten Wohlfahrtsverbände.
Die kritische Haltung der meisten Bundesbürger bezüglich christlicher Organisationen hat sich jedoch innerhalb der letzten 10 Jahre drastisch verschärft. Kirchenmüdigkeit und Kirchenaustritte, die Haltung, Kirche und christliche Institutionen nur noch als Sozialträger und wegen ihres Sozialengagements zu tolerieren, prägen natürlich auch die Sicht auf andere, nicht-christliche Gemeinschaften: Zumindest traditionell sieht sich die Mehrheitsgesellschaft christlichen Begriffen (jedoch kaum noch den Werten) verbunden, doch gegenüber etwa dem Islam empfindet der Normalbürger in Deutschland ja auch keinerlei kulturell geschuldete theoretische Toleranz, im Gegenteil: Das Feindbild Islam ist fest in den Köpfen der meisten Nichtmuslime verankert. Unter diesen Umständen bleibt – aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft – nur das soziale Einbringen von Muslimen, um überhaupt Toleranz für die Existenz von Muslimen aufzubringen.
Hier besteht die latente Gefahr, dass Muslime und ihre Institutionen aus einer vermeintlichen Bringschuld oder zur Vermeidung stärkerer Feindseligkeit der Mehrheitsbevölkerung, einfach zu allen vorgeschlagenen oder aufgedrängten „Fertiglösungen“ nach christlichem Vorbild Ja und Amen sagen. Umgekehrt aber müssen sich Muslime auch klarmachen, dass in einem gesellschaftlichen Miteinander Muslime der Mehrheitsgesellschaft auch etwas geben müssen, nicht nur nehmen können.
Die meisten islamischen Gemeinden in Deutschland wurden in der Vereinsform begründet, in der damals noch bestehenden Form des „Religiösen Vereins“ bzw. „Religiösen und gemeinnützigen Vereins“ (die religiöse Komponente des Vereinsgesetzes wurde durch Betreiben des damaligen deutschen Bundesinnenministers Otto Schily gestrichen). Später formierten sich die islamischen Religionsgemeinschaften und regionalen Interessensverbände, die aber ohne staatliche Anerkennung der Körperschaft nicht den Kirchen gleichgestellt werden konnten.
Diese Gemeinden oder auch Dach- und Interessensverbände hatten keinerlei Mittel, die denen der anerkannten Wohlfahrtsverbände auch nur annähernd entsprechen würden. Dennoch entstand durch das Wegdriften gerade vieler Jugendlicher in den letzten Jahren ein starkes Bemühen, durch gezielte Jugendarbeit diese Lage auszugleichen. Unabhängige muslimische Streetworker in Ballungsgebieten versuchen, Jugendliche, die aus der muslimischen und der allgemeinen Gesellschaft herausgefallen sind, einen Neubeginn zu ermöglichen. Ehrenamtliche Betreuung von muslimischen Häftlingen durch muslimische Einzelpersonen oder sogar Gemeinden ist heute durchaus schon anzutreffen und wird von staatlicher Seite auch hoch geschätzt. Soziale Einrichtungen, wie der Tag der offenen Moschee (analog zum Tag der offenen Tür) haben vielerorts schon zu festen Einrichtungen und lokalen Erwartungen aller Seiten geführt, auch mit teils sehr positiven Ergebnissen in der Verbesserung der Nachbarschaft der Moscheen.