Der Ausbau „islamischer Wohlfahrtspflege“ wird auch von muslimischer Seite immer wieder gefordert. Doch wie kann und warum soll er entstehen? Dr. Abdurrahman Reidegeld blickt in die Vergangenheit, um Antworten für die Gegenwart zu finden.
Dies alles hat sich also durch die praktische Notwendigkeit entwickelt, ganz von der Basis her, so wie sich die Dachverbände der christlichen (und, wie wir sehen werden, auch der jüdischen) Verbände an der Sachlage orientierten.
Die spezielle Lage der Muslime, als religiös-gesellschaftlich stigmatisierte und nicht anerkannte Minderheit, führte naturgemäß zu einer nach innen ausgerichteten Betrachtungsweise dessen, was man im Kern „Gemeindeseelsorge“ oder „Gemeindeerhaltung“ nennen könnte. Dies entspricht teilweise auch den Erfordernissen der jüdischen Gemeinde in Deutschland – mit dem wichtigen Unterschied, dass es dort auch stark um den Wiederaufbau der ausgebluteten Gemeinden ging, speziell durch Betreuung der aus der ehemaligen Sowjetunion eingewanderten jüdischen Menschen, die in Deutschland gehalten werden sollten.
Gemeinsames Element der praktischen Bemühungen beider Glaubensgemeinschaften ist, dass das religiöse Gemeindeleben Aufrecht erhalten werden sollte. Starke Unterschiede jedoch lassen eine Analogie zwecks Wohlfahrtsdefinition zweifelhaft erscheinen: Die jüdische Gemeinde ist Körperschaft des Öffentlichen Rechts, dies fehlt auf muslimischer Seite. Jüdische Gemeinden hatten und haben eine geringe Mitgliederzahl, während muslimische Gemeinden zahlenmäßig sehr dicht besetzt sind. Religiöse Stätten und Einrichtungen wie Moscheen sind letztlich nicht in demselben Status wie Synagogen, eben aufgrund der von früher her bestehenden Rechtsform des Vereins. Die gesellschaftliche Rolle und Wahrnehmung muslimischer Gemeinden seitens der Mehrheitsgesellschaft ist negativ besetzt, die Rolle jüdischer Gemeinden ist heute quasi nicht definiert (der „christliche“ Normalbürger hat weder Kontakt noch geistige Beziehung zu religiösen jüdischen Bürgern).
Die Hauptausrichtung der „Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland“ besteht in der Jugendarbeit mit jüdischen Jugendlichen sowie der Integration jüdischer Einwanderer in Deutschland, meist russischer Herkunft (wird gesellschaftlich nicht kritisch gesehen); eine vergleichbare Tätigkeit haben auch jahrelang die muslimischen Gemeinden und Verbände geleistet (das wurde und wird von vielen Vertretern der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft als desintegrativ betrachtet).
Deutliches Zeichen dieses breit angelegten Missverständnisses von staatlicher Seite ist, dass diese Vorstufen einer islamischen Wohlfahrtsarbeit, die immer begleitet von Erschwernissen und Generalverdacht, nicht einmal als solche wahrgenommen wurden.
Eine ganz anders geartete Frage ist, ob der christlich geprägte Begriff der „Seelsorge“ auf muslimische Belange analog zu übertragen ist. Hier ist anzumerken, dass etwa der evangelische Seelsorgebegriff stark von der sogenannten „inneren Mission“ geprägt wird und der katholische von der „Wesensvermittlung der Katholischen Kirche“. Somit treten diese Wohlfahrtsverbände sehr deutlich mit einem Vermittlungsauftrag, nicht nur einem Dienstauftrag, in die bundesdeutsche Öffentlichkeit – und dies ganz unabhängig von der Anerkennung der Kirchen als Körperschaft des Öffentlichen Rechts.
Hier erkennt man bereits einen großen Punkt: Wenn etwa im Rahmen der Deutschen Islam Konferenz (DIK) eine Ausrichtung an die vergleichbaren Wohlfahrtsverbände wie „Caritas“ oder „Diakonie Deutschland“ die Rede ist, dann muss seitens der islamischen Religionsgemeinschaften und allgemein der muslimischen Verhandlungspartner im Gespräch mit staatlichen Partnern darauf beharrt werden, dass auch den muslimischen angedachten Wohlfahrtsverbänden ein solcher religiöser Vermittlungsauftrag zugesprochen und zugebilligt wird. Diese Haltung muss aber – um sich effektiv gegen das bereits hochgezüchtete Feindbild Islam durchsetzen zu können – massiv ideell von staatlicher Seite gefördert werden, ansonsten kann auch ein offizieller islamischer Wohlfahrtsverband eine solche Rolle wie oben geschildert sicherlich nicht spielen. Jemand, der einem Feindbild unterliegt, kann nicht gegen dieses Feindbild ankämpfen; nur wenn ein Angehöriger der Mehrheitsgesellschaft bzw. des Staates als Garant der Werte, die angeblich von Muslimen gefährdet werden, „Verteidiger“ spielt, kann dieses Zwangsband aufgespalten werden. Hier spätestens wird sich auch zeigen, ob es dem staatlichen Partner ernst ist, mittels dieser Wohlfahrtsverbände die Muslime ins gesamtgesellschaftliche Boot zu holen.
Zurück zum Begriff der Seel-Sorge (bewusst getrennt geschrieben): Im islamischen Kontext existiert kein Begriff, der diesem christlichen Missionsbegriff ganz und gar entspricht. Der genuin islamische Fachausdruck ist der der Dawa (wörtlich Aufruf), der aber weder in Praxis noch Realität dem Vorgang der „Heidenmission“ entspricht. Mehrheitlich richtete sich der Dawa-Begriff an nominelle Muslime, die sich in Praxis oder innerer Ausrichtung von der islamischen Religionsausübung getrennt hatten oder ihr entfremdet waren, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Erst durch manche moderne ideologisch ausgerichtete Gruppen wurde – deutlich nach christlichem Vorbild – von einer Dawa in der nichtmuslimischen Öffentlichkeit gesprochen, etwas, was vor 1970 kaum in nennenswertem Maß stattgefunden hat.
Eine Dawa innerislamisch durchzuführen muss zumindest indirekt möglich und erlaubt sein, wenn wir den Maßstab der bestehenden christlichen (und auch jüdischen) Wohlfahrtsverbände als Grundlage nehmen. Eine solche Haltung ist auch durchaus aus den islamischen Quellen und der islamischen Geschichte nachweisbar, im Gegensatz zu theoretischen Missionsbestrebungen, etwa unter den christlichen Gemeinschaften Syriens oder Ägyptens.
Damit ein Vergleich stimmt, müssen die Rahmenbedingungen geklärt sein. Zunächst die Unterschiede in den Voraussetzungen:
Die klassischen islamischen Institutionen, die soziale und ethische Aufgaben in der damaligen Gesellschaft wahrnahmen, waren in die Rechtsordnung eines religionsgerichteten Staates eingebunden; die heutigen Wohlfahrtsverbände sind säkular definierte, rechtliche Institutionen mit religiös-ethischer Zielsetzung.
Die klassischen islamischen sozialen Einrichtungen, die in etwa ein Aufgabengebiet, wie das der heutigen Wohlfahrtsverbände kontrollierten, waren entweder Stiftungen (Pl. Awkâf/vakıflar), sowohl private wie auch staatliche, oder private Schutzeinrichtungen der Handelsgilden. Die christlichen Wohlfahrtsverbände jedoch unterstehen – neben der staatlichen Kontrolle – letztlich einer kirchlichen Aufsicht, während diese Auftrennung in Staat und Kirche im islamischen Kulturkontext unbekannt und nicht wirklich nachahmbar ist.
Bereits in der Regierungszeit des zweiten Kalifen Umar entstand eine Diskrepanz zwischen dem ethisch-religiös wünschenswerten Zustand verdienter Personen (etwa der Prophetenwitwen oder der Prophetengefährten der ersten Stunde), die mittlerweile verarmt waren. Da dieser Zustand als gesellschaftliche Schande betrachtet wurde, setzte Umar diesen Personengruppen eine Rente in Form von Unterstützungszahlungen aus der Staatskasse fest.
Durch gesellschaftliche Veränderungen während der frühen abbasidischen Herrschaft im 2. Jh. H./.8. Jh. M. entstanden die ersten Formen der wohltätigen Stiftung (Wakf hayri); diese war für Speisung und Bekleidung derjenigen Menschen zuständig, die sich weder selbst versorgen konnten, noch sorgeverpflichtete Angehörige hatten. Später wurden diese ersten Aufgaben der Stiftung erweitert, indem auch Bildungsfragen (Finanzierung von Lernmaterial usw.) aufgenommen wurden.
Eine weitere Aufgabenstellung, die teilweise den heutigen Wohlfahrtsgedanken ähnlich ist, waren die Sicherheitskassen der Kaufmannsgilden. Während des 6. Jh. H./12. Jh. M. gründeten die Fernhandelskaufleute des Ostens, deren Verlustrisiko immens war, Sparkassen, in denen alle Gildenmitglieder einzahlten. Im Verlustfall wurde mit diesen Mitteln ein Gildemitglied finanziell und sozial aufgefangen.
All diese Entwicklungen sind der nachprophetischen Zeit zuzuordnen, wurden aber aufgrund der bestehenden Notlage und gesellschaftlichen Erfordernis für gut befunden und somit auch im formalen Fikh (der islamischen Pflichtenlehre) für legitimiert erachtet.
In der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland machen etliche Aspekte der Wohlfahrt Sinn für die islamischen Gemeinschaften, insbesondere da, wo durch die unterstützenden Maßnahmen eine Schieflage zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Bürgern überwunden werden kann.
Auch wenn der Begriff der Seelsorge ursprünglich der islamischen Tradition fremd ist, stellt aber der säkulare Charakter der Mehrheitsgesellschaft die Muslime vor neue Herausforderungen, die auch die Erneuerung der inneren Haltung, eben die „Seelsorge“, umfassen kann – dazu zählt auch im weiteren Sinne die Gefängnisseelsorge, die Jugendarbeit, usw.
Letztlich finden alle diese Tätigkeiten bereits ehrenamtlich in kleinem Maßstab statt, und daher wäre eine Umsetzung in Form von Wohlfahrtseinrichtungen sicherlich hilfreich, von der Pflichtenlehre her unproblematisch und im Endergebnis für die Gemeinschaften wohl positiv.